14. März 2011

Zwischen Hibernation und Myalgie. Mein Zeitfahren Hamburg-Berlin 2011.

Es ist einer dieser Morgen, an denen einem klar wird, dass man sich eher schnell als langsam besser daran gewöhnen sollte, dass nun endgültig der Herbst und nach ihm der Winter das Zepter übernehmen werden: Die Saison ist vorbei.

Keine kurzen Trikots mehr. Keine rasierten Beine, die in der Sonne glänzen. Vorbei.

Statt dessen knirscht es, als wir vor dem Fährhaus Altengamme mit den Füßen in das Gras treten. Der Atem gefriert. Null Grad Celsius sagt das Thermometer, hatte da nicht gerade die Eiswarnlampe unseres Taxifahrers geleuchtet?

Wir sind 4 Uhr aufgestanden. Es ist Mitte Oktober: Zeitfahren Hamburg-Berlin!



Im Fährhaus haben wir noch eine halbe Stunde. Wir, das sind dieses mal Lars und ich. Zwei Lärse in einem Team. Wieder zu zweit. Wieder 280 Kilometer.

Sie frühstücken, die Brevetfahrer und Randonneure. Ich erkenne ein paar bekannte Gesichter. Man grüßt sich. Man feixt und lacht - aber leiser, als bei den Rennen, die ich sonst fahre. Leiser, fast wie als läge Schnee über uns allen. Scheinbar wissen wir, was uns blüht. Oh ja, wir wissen es!

Draußen gehen sie im Minutentakt an den Start.

38 Minuten nach 6 ist unsere Zeit. Bis kurz vor Abflug drücken wir uns in der guten geheizten Stube herum, erst im letzten Moment gehen wir zu unseren Rennrädern - neben mir, im Halbdunkel, glänzt eine dicke Eisschicht auf steif gefrorenem Gras.


Es war eine dieser genialen Eingebungen, die mich - bis jetzt - vor dem Erfrieren rettet. Ursprünglich wollte ich mit zwei kurzen und nur einer langen Laufhose starten. Im letzten Moment ziehe ich meine lange, dick geflockte Kombination, die noch aus Liegeradzeiten ganz untem im Sportschrank schlummerte, heraus: Nun wärmen zwei lange und eine kurze Hose.

Nun, sagen wir, sie wärmen nicht, sie schützen.

Als ich auf meinem Cervélo sitze, spüre ich die Kälte kaum. Es ist die Hitze der Aufregung, die die Minustemperatur vertreibt.


Ein letzter Gruß, ein letztes Foto - "Los!", ruft der Zeitnehmer und Lars und ich treten rein.

Unsere Strategie? Wir wollen zunächst langsam fahren. Langsam, das heißt in diesem Fall rund um die 30 km/h. Die Bewegung soll uns warm halten, wir wollen gut vorankommen: Ankommen ist die Devise - gewinnen, das tun bei Veranstaltungen dieser Art Typen, die aus ganz anderem Holz geschnitzt sind.

Ich fahre an der Spitze. Die ersten Kilometer sind die Hölle: Bibbernd versuche ich, meinen zitternden Lenker gerade zu halten. Atemluft kondensiert an meiner Brille, Tränen rollen in Sturzbächen an meinen Wangen hinab und scheinen sofort zu gefrieren. Mir läuft die Nase, als habe jemand die Schleusen geöffnet - ich hatte am Mittwoch einen Schnupfen bekommen.

Den freut dieses Wetter natürlich.


Es ist nicht komplett dunkel. Ein kugelrunder Mond, der an einem makellosen Sternenhimmel prangt, weist uns den Weg. Zumindest, solange wir noch innerhalb bewohnter Siedlungen am Deich entlang fahren, erhellen ab und zu auch Straßenlampen den Weg. Ansonsten verlasse ich mich auf eine Lenker- und eine Stirnlampe, von hinten leuchtet Larsis Ixion mir zwischen die Beine hindurch.

Wir fahren recht flott. Angenehm tritt es sich, wir haben eine gute Speed drauf, denke ich mir und nachdem wir bei Geesthacht die erste Brücke auf die Südseite der Elbe überqueren haben wir auch schon die erste größere Gruppe und einige Einzelfahrer überholt.

Ich denke garnicht daran, Speed rauszunehmen. Einen nach dem anderen kassieren wir - langsam, gemächlich zwar, aber wir überholen sie.

"Super, ich fühle mich super heute!", rufe ich euphorisch nach hinten.
Lars nickt



Zaghaft dringen die ersten Sonnenstrahlen durch die Nacht, sie verteiben erstaunlich schnell die Schwärze vom Himmel - übrig bleibt ein atemberaubendes Farbenspiel am Himmel und schwarze Schemen vor uns, die die Welt sind.

Wir kurven den Deich entlang. Mal mit, mal ohne Begleitung. Erste Nebelbänke machen uns zu schaffen: Fahren wir in klarer Luft, fühlt es sich beinahe schon "warm" an - sobald wir aber in die dichte Nebelsuppe fahren, schlägt sich Feuchtigkeit auf allen Frontflächen ab, die Temperatur sinkt rapide.


Irgendwann löse ich meine fast krampfhafte Konzentration vom Straßenbelag: Die Eiswarnung im Taxi und das verdächtige kristalline Glitzern auf dem Asphalt in Atengamme hatten in mir die Angst ausgelöst, der Bodenfrost könnte vor allem die Feuchtigkeit der Nebelbänke in eisglatte Straßenboberflächen verwandeln - was Gottseidank nicht der Fall ist.

So entspanne ich mich etwas und lockere meine Schultern. Immer an Martin Schwier vom Veloskop denken: Mit Hohlkreuz fahren und die Arme leicht anwinkeln!

Hinter mir, wie ein treuer Wingman, kurbelt Lars im Windschatten. Wenn ich mich umdrehe sehe ich seinen dick eingepackten Körper. Nur oben schaut ein rosig gefrorenes Gesicht schnaufend zwischen Helm und dickem Halstuch hervor. Gesichter wie diese sieht man sonst nur in Werbeprospekten für Skiorte.

"Eine Fahrt im Hundeschlitten ist ein ganz besonderer Spaß ..."



Wir lassen das AKW Krümmel links liegen. Die Sonne geht - scheinbar unbemerkt von uns - wie in einem einzigen Augenblick auf. Die seltsam verwunschenen, romantischen Kulissen und Schemen werden abgelöst durch fahle, milchtrübe Nebel-Ansichten.

Manche Nebelbänke schweben in 3 bis 4 Metern Höhe - wie unter einem weißen Dach können wir hindurchfahren. Andere tauchen weißen Wänden gleich unvermittelt hinter Kurven auf wie lauernde Schurken - dann verschlucken sie uns. Von jetzt auf gleich wird es dann klirrekalt.

Reif sammelt sich an meinen Handschuhen, unten an den Schienbeinen zieht sich ein Streifen Eis vom Knie zum Überschuh.


Manche Nebelbänke gar denen sich derart breit aus, dass wir viele Kilometer komplett in weißer Suppe fahren. Wenn wir - nun geht es los! - überholt werden, dann sehen wir die Frontlampen der heran stürmenden Randonneure erst im letzten Moment.

Lars ruft nach vorn: "Hier sind vor und hinter uns bestimmt zig Rennradfahrer. Und sehen tun wir keinen ...!"


Kurzzeitig beschleunigen wir und hängen uns an eine recht flott vorbei fahrende Gruppe ran. Zwei, drei St. Paulianer und einige Brevet-Teilnehmer mit nicht-Hamburger Vereinstrikots.

Da ich auf meinem Display nur die Navigation anzeigen lasse habe ich nicht immer die Geschwindigkeit im Blick - bei diesem Nebel verlässt mich auch meine Fähigkeit, anhand der vorbeifliegenden Bäume den Speed zu schätzen, aber eines ist schnell klar - diese Gruppe ist zu schnell für uns. Immer wieder lässt Lars abreißen, arbeitet sich nur mit Mühe wieder heran.

Wir lassen sie ziehen.


Larsi ist ein alter Bekannter aus Liegerad-Zeiten. Seit etwas mehr als einem Jahr fährt er nun auch einen schicken Fenomalist von Storck. Es ist seine erste Teilnahme von Hamburg-Berlin und ich muss oft in mich hineinlächeln, weil ich mich selbst in ihm wieder erkenne: Seine Vorstellungen und Erwartungen an dieses Rennen, seine Ideen und seine erfrischende, manchmal naive aber immer sehr sympathische Einstellung zu dem, was wir hier heute vorhaben.

Und nun? Was mag in ihm, 30 Kilometer nach Start vorgehen?

Wir können nicht den Windschatten einer Gruppe halten, fahren statt dessen mit 28, 27 km/h allein. Es weht ein leichter Gegenwind, der bei dieser Geschwindigkeit aber kaum behindert.

Hintern kurbelt Lars stoisch das, was ich vorgebe. Bin ich zu schnell, fällt er zurück. So regulieren wir uns.


Regulieren, das hoffe ich auch von der Sonne, die sich schüchtern beginnt über die Welt zu erheben. Heize den Laden hier auf!, denke ich mir und besehe mir meine Arme: Es ist Eis, dickes Eis, das da auf meinem Ärmel gefroren ist.

Wenn ich meinen Arm einkicke, knirscht es laut. Als ich meinen Helm anfasse, fallen großere Platten Gefrorenes in mein Gesicht. Unten kann ich einen Abguss meines Schienbeins als Eisabdruck vom Stoff abziehen.

Das Garmin zeigt -3 Grad Celsius an.


Trotz der Kälte fühle ich mich erstaunlich gut: Die drei Hosenschichten und meine nicht weniger als 4 Schichten am Oberkörper halten die Eiseskälte sehr wirksam ab. Die neuen Überschuhe von GORE Bikewear sind der Hammer - an den Füßen schwitze ich sogar leicht. Die zwei Handschuhschichten halten das Gröbste ab. Nur an den Armen dringt leicht die Kälte ein.

Die Wärmeabgabe des Körpers aber kann das Gesamtsystem sehr gut beheizen, sodass ich von den 3 Grad unter Null - mit Windchill-Effekt sind das unglaubliche gefühlte -12 Grad Celsius - nicht viel spüre.

Ich schicke statt dessen ein Stoßgebet in den Himmel, als die Sonne endlich in all ihrer goldenen Pracht durch den Nebel bricht und sich ans Werk macht.


Wir erreichen rund um Hitzacker "die Berge". Es sind zwei, drei Steigungen (die einzigen, die man als solche bezeichnen darf), die dann auch für einen Großteil der knapp 500 Höhenmeter der gesamten Strecke verantwortlich sind.

Neben uns, rechts, kommen die steilen Hänge des Elbtals immer näher, bis wir dann endlich auf das kleine Blatt schalten und die Rampen in Angriff nehmen. Sehr schön schlängelt sich die kleine Straße mitten im Wald den Hang hinauf, 7, 8 Prozent - an zwei kleinen, kurzen Rampen knackige 13 Prozent.

Locker kurbele ich hinauf. Berge sind mein Zuhause, das weiß ich, Steigungen meist meine Rettung im Rennen.

Bei Lars, meinem Mitstreiter, sieht das ganz anders aus. Wuchtig kämpft er sich meist schon ab Anfang der Rampe im Wiegetritt die Vertikale hinauf. Langsam, sehr langsam, schnauft er sich empor.

Ohne Böses beschreien zu wollen - aber ich denke mir: "Das wird für ihn heute ganz, ganz, ganz schwer!"


In der Steigung machen wir eine erste Pinkelpause. Zwei Trauben zu je 10 Fahrern überholen uns. Ich nutze die Wartezeit und esse eine der mitgebrachten Vollkornstullen, drücke mir mein erstes Gel in den Mund und versuche, die zu Bananeneis gefrorene Frucht aus meiner Trikottasche zu fingern und zu essen. Es wird sehr schnell sehr kalt, wenn wir stehen und uns nicht bewegen.

Als es weiter geht, fällt Lars immer wieder sehr weit an den Steigungen zurück.

Die Abfahrten - mitunter sehr rasant - kann ich kaum genießen. Ab 60 km/h wir der Fahrtwind dermaßen kalt, dass mir die Tränen schon am Augapfel selbst festzufrieren scheinen. Ich bremse dann.

Durch den Wald und die restlichen Steigungen zuckeln wir eher gemütlich. Irgendwann, auf dem Scheitelpunkt der letzten Welle, überholt uns wieder eine Gruppe. Diesmal bedeute ich Lars, dass wir dranbleiben müssen und gebe Gas.

Wir hängen uns an die Jungs dran - es sind nur noch 5, 6 Kilometer zur Kontrollstation in Dömitz, wo wir die Elbe von Süd nach Nord zu überqueren haben.

Schnell sind wir wieder auf über 30 km/h - ungewohntes Gefühl nach dem Herumgekurve im niedrigen zweistelligen Bereich. Sie wechseln sich im Wind ab - auch ich bleibe für ein paar Minuten vorn. Lutschen ohne was zurück zu geben ist nicht so mein Ding.
Schnell kurbeln wir die Kilometer runter. Als endlich die Brücke in Sicht kommt, geht ein Aufatmen durch unser kleines Peloton.


Mehr schlecht als recht erreichen wir Dömitz. Diese ersten 100 Kilometer haben doch enorm geschlaucht. Ich fühle, dass wir es am Anfang doch etwas zu schnell angegangen sind - und dann überrascht mich der hohe Speed unserer Gruppe. Das ist keine Tourengeschwindigkeit, das ist fast RTF-Niveau, mit dem die hier fahren.

Und das halten die 280 Kilometer aus?
Ich nicht.


Hinten lässt Lars langsam ausrollen. Starr sein Blick nach vorne. Wir bremsen und biegen auf den Parkplatz mit dem Denkmal zur Deutschen Einheit ein. Wie immer haben sie hier ein Büffett mit Stullen, Bananen, Süßkram, Heißgetränken und Joghurt aufgebaut.

Ich freue mich aufs Essen!


Wie schon 2010 tummeln sich die ausgelaugten Randonneure um die Tische. Mich spricht Andrea Ollmann an, die ich noch aus einem wilden E-Mail-Wechsel aus Liegeradzeiten kenne. Sie mich aber nicht - dafür liest sie meinen Blog. Ach, denke ich mir uns muss in die Morgensonne lächeln - da geht mir doch glatt das Herz auf. Danke Andrea ...

Ich schnappe mir zwei Vollkornschnitten mit dickem Kochschinken und rühre zitternd einen großen Becher Kaffee um - schon Wahnsinn, wie schnell der Körper auskühlt, wenn er keine Bewegungswärme mehr produziert.


Immer mehr Leute treffen ein und ich realisiere, dass wir gar nicht so schlecht in der Zeit zu liegen scheinen. 100 Kilometer, immerhin, stehen auf dem Garmin und ich bin guter Dinge, was den Rest der Strecke angeht.

Mein Schnupfen. Er nervt. Ich muss alle paar Minuten den Rotz aus den Löchern drücken. Nicht selten landet eine Portion dabei, durch Fahrtwind und Böen beschleunigt, auf meinen Schultern. Gottseidank nur Schleim am Körper, denke ich mir: Mit Kopfschmerzen oder gar erhöhter Temperatur wäre das hier unmöglich. So aber verklebt mir der Schnupefn nur die Nase. Unschön, aber auch nicht weltbewegend.

Ich komme vom Klo und es scheint mir, als müsste ich Lars drängeln, wieder loszufahren. Ihm fehlt - oder bilde ich mir das nur ein? - irgendwie der Enthusiasmus hier. Aber er steigt aufs Rad. Er fährt los. Wir treten rein.

Langsamer als noch vorhin. Wieder sind wir nur als Zweiergespann unterwegs. Was schwierig werden wird, denn der Wind - natürlich von vorn - hat merklich zugenommen.

Hinter Dömitz beginnt der einsamere Teil von Hamburg-Berlin. Unser Track führt uns auf Nebenstraßen durch kleine Wälder, meist aber auf kleinen asphaltierten Feldwegen durch Äcker. Den Wind hält hier nichts auf - ich habe zu tun, die 27, 28 km/h zu halten.

In einem der Waldstücke kommen wir an einem Krankenwagen vorbei. Drei Teilnehmer stehen wie geschockt da. "Können wir helfen?", rufe ich ihnen zu. Sie schütteln ihre Köpfe - ihr Kollege wird gerade verladen. Lars wird hinterher herausbekommen, dass dies ein böser Sturz mit - zum Glück wohl keinen schweren - Gesichtsverletzungen war.

Auch Hamburg-Berlin, mein letztes Rennen 2011, bleibt also nicht vom Sturzunglück verschont ...


Die Fahrt wird anstrengender. Hinter mir lässt sich Lars immer öfter zurückfallen. Das Gekurve durch die Äcker bringt uns mal mehr, mal weniger hart in den Gegenwind, unsere Geschwindigkeit fällt oft unter 23 km/h.

"Bei dieser Speed kommen wir nie an.", rufe ich ihm zu.
"Ich kann nicht schneller.", kommt traurig die Antwort.

Eine weitere Gruppe Rennradler überholt uns: "Los, da hängen wir uns ran - Windschatten!", versuche ich ihn zu ködern. Doch Lars ist am Ende seiner Kräfte. Den Sprung ans Ende der uns überholenden Gruppe schafft er nicht. Sie ziehen vor uns davon.

"Okay.", schlage ich vor: "Wir machen bei Kilometer 200 auf jeden Fall eine schöne Pause, ja?" Lars schüttelt den Kopf. Betroffen sieht er aus. Er entgegnet: "Ehrlich - lass uns bis Wittenberge fahren und dann sehen ..."

Da weiß ich Bescheid. Lars ist leer. Lars ist alle. Lars wird hier heute nicht zu Ende fahren, für ihn wird Wittenberge - das eigentlich sowieso nicht auf dem Track liegt - der Ausstiegspunkt sein. Ich frage ihn deshalb klar, ob er aussteigen will. "Ja. Es geht nicht mehr!", die Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Vor uns hat die Gruppe, die uns eben noch überholt hat, gestoppt - ein Mitstreiter hat eine Panne. Wir überholen sie und ich erkenne meine Chance. Schweren Herzens schlage ich Lars vor, dass er sich allein bis Wittenberge durchschlägt (mit seinem iPhone kein Problem) - ich würde mich an die Gruppe hängen.
Er nickt.

Als ich mich an die Jungs ranhänge, sehe ich ihn allein zurück bleiben. Ich fühle mich mies und ich weiß, dass er sich noch mieser fühlt. Ich kenne dieses Gefühl nur allzu gut: 2010 war ich es, der aufgeben musste. Der am Boden war. Der enttäuscht und desillusioniert war.

Ziemlich genau bei der selben Kilometermarke. Für Lars ist bei Kilometer 119 Schluss. Er wird sich nach Wittenberge in den Zug retten.


Ich hänge mich an die 5er Gruppe ran und merke sofort, dass hier eine andere Musik spielt. Wir haben drei sehr starke Fahrer aus einem Team, einen komplett in Schwarz gekleideten Fotografen und einen schweigsamen Mitfahrer in der Gruppe. Der Speed ist hoch, um die 30 km/h, und es wird regelmäßig gewechselt.

Wir rollen durch Havelberg und schießen in die Heide.

Da wir uns nahe am Deich entlang schlängeln und viele Poller umschiffen müssen, macht mir, als ich dran bin, das Führen keine Probleme: Ich verrichte meinen Dienst, gebe den Jungs für ein paar Minuten Windschatten und mache die Pace, bis mein Hintermann die nächsten Minuten übernimmt.

Zwei mal biegen wir falsch ab (haben die unterschiedliche Tracks?) und beim dritten mal wird es mir zu bunt. Ich lasse sie auf einen Schotterweg abbiegen und folge meinem - asphaltierten - Track.

Nun allerdings allein.


Die Kilometer die nun folgen, sind so trostlos, das selbst die Sonne, die scheinbar nochmal alles rausholen und sich für den nächsten Sommer empfehlen will, nichts an meiner Laune ausrichten kann: Der Track führt mich genau in den mittlerweile steif und stetig wehenden Gegenwind, meine Nase läuft daher wie geschmiert, einige heftige Nies-Attacken bringen mein Rennrad ins Schlingern.

Beim Schnauben fällt mir auf, dass ich mir aus dem rechten Nasenloch Blut in den Handschuh schneuze.

Ich hatte schon lustigere Touren ...


Ich fühle mich wie ein einsamer Cowboy auf weitem Trail. Hier draußen ist nichts. Wie sehr sehne ich mir eine B-Straße herbei, da gibt es wenigstens ab und zu LKWs, die mich überholen. Wie sehr sehne ich mir das ignorante Hupen eines Autofahrers herbei. Aber hier. Hier sind selbst die Kuhweiden leer - Deutschland nach einem Atomschlag, so muss sich das anfühlen.

Meine Knie schalten sich langsam ein. Hatte ich während harter Rennbelastungen 2011 immer mal wieder temporär Knieschmerzen im linken Knie, sind es nun gleich beide, die muckern. Doof, denn so kann ich nur mit kleineren Gängen und höherer Trittfrequenz versuchen, das Stechen hinter der Patella wegzubekommen und nicht das eine Knie durch stärkeren Einsatz des anderen zu entlasten.

Immer wieder gehe ich kurzzeitig in den Wiegetritt, um Muskeln zu lockern und meinen Hintern, der sich nun ins Beschwerde-Stakkato meines Körpers eingeklinkt hat, zu beruhigen.


Als mich wie aus dem Nichts eine weitere Gruppe Rennradler überholt und ich es nur wenige Minuten schaffe, ihrem abermals sehr hohen Tempo zu folgen, macht sich langsam ein schleichender Depri breit: Ich beschließe, im nächsten Ort eine kleine Essenspause mit 15 Minuten in der Sonne liegen anzuhalten.

Das tue ich dann auch bald. In Kuhlhausen steht eine Bank einladend gleich neben dem Friedhof. Da halte ich an, esse meine letzte Vollkornstulle, einen Energie-Riegel und die letzte Banane, trinke die erste Flasche leer und lege mich für ein paar Minuten in die Sonne. Der Körper fährt langsam runter, das Muckern im Knie geht weg. Nur das Niesen nervt, wie immer.

Bollernd ziehen ab und zu - sauschnell! - größere und kleinere Gruppen Teilnehmer vorbei. Nach 20 Minuten raffe ich mich auf und trete wieder rein. Es dauert keine 5 Minuten, da ist der Erholungseffekt wieder verpufft.

"Aha", sage ich mir, "Hier beginnt sie also, die Prüfung."
Kann der Geist über den Körper siegen?


Ich quäle mich nun. Jetzt bin ich es, der nur noch 23 km/h halten kann.
Knarzend schmerzen die Kniegelenke bei jeder Kurbelumdrehung.
Mir ist, als bremse mich jede Böe auf einstellige Werte herunter.
Als überholten mich die Andere mit dreifacher Speed.

Das Nasenbluten geht nicht weg - kein wunder, wenn ich alle paar Minuten versuche, den Schnupfenschleim per Hochdruck aus dem Loch zu pressen. Rücken und Halswirbel kommen nun auch dazu, ich freue mich, dass ich wieder kurz zum Pinkeln anhalten darf. Beim Abschütteln lasse ich mir Zeit wie sonst nie - Hauptsache nicht kurbeln!

Von Spaß kann nun keine Rede mehr sein.


In Rhinow dämmert mir wage, dass auch ich heute wohl nicht kurbelnd in Berlin ankommen werde. Ich kann nur noch im Stehen halbwegs schmerzfrei fahren, ansonsten ist mein Körper eine einzige Oase des Schmerzes.

Immer wieder ohrfeigen mich überholende Rennradler, ihr "Los, häng Dich ran!" klingt wie Hohn. "Ach Scheiße!", denke ich mir und raffe mich auf, trete rein, erreiche den Windschatten und bin wieder flott unterwegs.

Meine Gruppe, das sind 2 Mann. Ein Schwabe und ein Stimmloser, etwas blasse Zeitgenosse. Der Schwabe hat Waden wie Oberschenkel, fährt geradezu in obszön kurzen Klamotten, fast, als wolle er mit seinen blanken Beinen die Kälte provozieren.

Wir ziehen uns mit niedrigen 30ern durch die Heide. Der Wadenkoloss polkt durch den Gegenwind, als sei es nichts. Als ich dran bin mit Führen, er ausschert und ich mich plötzlich im Wind wiederfinde ist es, als ziehe jemand meine Bremsen - Wow! Wie ein Schlag in die Magengrube! Ich trete, ich quäle mich und es dauert keine 100 Meter da weiß ich, dass ich den Beiden nichts zu geben habe.

Der Ehre halber beiße ich mich bis zum nächsten Ortsschild durch, dann gehe ich nach hinten in den Windschatten. Wieviel Prozent Leistung spart man, wenn man in ihm fährt? 30? Das hier fühlt sich an, als spare ich 80 Prozent. Ein Leichtes, mich mitsaugen zu lassen.

Aber nicht mein Stil.


Ich lasse sie ziehen. Der Schwabe - wahrer Sportsmann! - dreht sich noch einmal um, motiviert mich winkend, mich ranzufahren, ich aber schicke sie weg. Nein, wenn ich nichts zu geben habe, will ich auch nicht nehmen. Berlin auf ihre Kosten zu erreichen, wäre wertlos für mich.

Ein Sieg, der nicht mir gebührt.

Eine Leistung, die keine ist.

Schmerzhaft taste ich mich von Friesack, dem Ort, an dem mein Garmin mir einen rettenden Bahnhof verspricht, die letzten Kilometer voran. Mein Garmin stoppt bei Kilometer 218. Und dann fährt mir auch noch der Zug vor der Nase davon.


Ich sitze über eine Stunde frierend am Bahnsteig herum. Viel Zeit zum Nachdenken. Und Naseschnauben.

Der Zug braucht genau 30 Minuten bis Spandau. Die letzten 7 Kilometer zum Zielort, wo sich die glücklichen Finisher in die Arme fallen, radle ich wie Mutti beim Einkaufen. Wortlos trinke ich zwischen all den ausgelassen Feiernden mein alkfreies Weizen, verschlinge eine Bratwurst und hole meinen Rucksack.

Auch 2011 hat es also nicht geklappt mit dem Finishen.

Woran es gelegen hat, dazu wird später noch Zeit sein, zu analysieren. Erstmal will ich nur eins: In mein Hotel. Unter eine heiße Dusche.

Und endlich in ein richtiges Taschentuch schneuzen.



Hier gibts den Garmin-Track

Und hier könnt Ihr Euch gern nochmal das Zeitfahren HHB 2010 anschauen.

Die Fotos vom Start und in Dömitz mit freundlicher Genehmigung von Burkhard / Audax Club SH


5 Kommentare:

  1. Ach man und ich dachte beim Lesen du schaffst es.

    2012 auf ein neues?

    Mit sportlichen Grüßen
    alexander

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  2. moin alex,
    klar, 2012 bin ich wieder am start.
    danke für deinen comment.
    grüße, L

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  3. Moin Larsi,

    SUPER Post! Du hast da ziemlich genau die Stimmung eingefangen, die an diesem Tag herrschte. Stimmt schon, ich bin vielleicht etwas naiv an die Sache herangegangen, ein Privileg der Unwissenden. Aber fehlende Euphorie, zumindest zu Anfang, lasse ich mir nicht unterstellen ;-)

    Es war ja nicht nur die Tatsache, dass ich ausgepowert war, sondern auch mir taten die Knie weh (wird langsam wieder besser). Und nach Wittenberge kommt ja erst einmal lange nichts, also hätte ich im Zweifelsfall in der Pampa gestanden...aber ich kann nun sehr gut nachvollziehen, wie du dich letztes Jahr gefühlt hast. Nämlich Scheiße.

    Ich werde die Distanz 2012 auf jeden Fall wieder in Angriff nehmen, mit besserer Vorbereitung als dieses Jahr. Du hast ja noch ein knappes Jahr Zeit, dir zu überlegen, ob du dich noch einmal auf mich als Wingman einlässt ;-) Vom Nichterreichen des Ziels abgesehen war dies nämlich ein anstrengendes, ein lustiges, ein geniales Wochenende. Finde ich. Da werde ich noch eine ganze Weile von zehren können. Aber das nächste Mal suche ich den Teamnamen aus ;-)

    Liebe Grüße

    Lars

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  4. Schöner Bericht, vielen Dank!
    Das es sooo kalt war habe ich gar nicht gespürt, aber Eis war auch an meinem Getränkeflaschenhals.
    Freue mich, wie Du, auf eine Wiederholung in 2012!

    http://blog.kunstgriff.net/?p=6233

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