Es gibt bei mir kaum Momente, bei denen so richtig und fundamental alles in die Hose geht. Fehler können immer mal passieren. Tun sie auch. Kleine Unzulänglichkeiten, Unschärfen - sie machen aber alles spannend. An denen wachsen wir. Im Sport wie im Leben.
Wenn aber etwas so daneben läuft, wie bei Gran Fondo La Sagrantino 2013 am letzten Wochenende, dann ist das eine Ausnahme. Gottseidank. Es folgt der Bericht einer großen Pleite.
Il Prologo - Am Anfang sieht es noch ganz gut aus.
Es ist kühl, aber nicht kalt, an diesem Sonntagmorgen des 10. März, als wir mit unserem Mietwagen vom umbrischen Foligno ins 11 km entfernte Bergdörfchen Montefalco fahren.
Montefalco, 400 Meter hoch. Die Sonne geht auf. Renntag!
Die Sonne geht langsam auf, das Frühstück war - für italienische Verhältnisse - ganz okay und so sind wir sehr guter Dinge, als wir die steile Straße hinauf zum Parkplatz fahren, wo sich die etwa 1.500 Teilnehmer schon eingefunden haben, ihre Räder auspacken, mit letzten Handgriffen ihre Schaltungen justieren, Klamotten und Proviant einpacken und einfach guter Laune sind.
Allenthalben hallt ein freundlich-lautes "Buongiorno" durch die morgendliche Stille, erste Sonnenstrahlen heizen meine schwarzen Beinlinge auf. Ich freue mich: Erstes Rennen der Saison - genial!
Flow ist auch wieder mit am Start
Auch Flow, der mit mir wieder für das
Team SunClass Solarmodule mit am Start ist, freut sich auf das anstehende Rennen: Wir haben 138 Kilometer mit knapp 2.700 Höhenmetern vor uns. Das Profil sagt kleinere Wellen, einen mittleren und einen heftigen Anstieg voraus.
Bevor wir zum Start - ganz oben - kommen, müssen wir eine Runde Frühsport machen. Erwärmung. Noch habe ich gut Lachen ... 15% sind das. Waseberg lässt grüßen.
14% Frühsport-Rampe. Hier gehts nachher auch zum Ziel hoch.
Es geht extrem steil auf rutschigem Kopfsteinpflaster durch eine enge Gasse hinauf. Die Ritzel gehen mir aus. Schnell bin ich außer Puste. Wow, krass. Hinten nölt Flow: "Das wird der Endanstieg ..." und "Helm ab zum Gebet!"
"Nicht, was uns Sorgen machen sollte", bediene ich mich noch guter Dinge als Prophet und begehe damit wahrscheinlich den ersten Frevel des Tages. Flow ist da etwas zurückhaltender - meine Prognose, dass wir "sicher so um 13:30 Uhr wieder da sind", kann er nicht so recht teilen.
Oben auf dem Berg ist auf der kleinen Piazza schon mächtig was los ...
Gedränge am Start. Die Piazza ist überfüllt.
Es drängen sich die Rennradfahrer dicht an dicht, über die Lautsprecheranlage schnarrt eine Stimme sich in feinstem Italienisch überschlagend. Wir verstehen natürlich kein einziges Wort. Ab und zu mal "pericoloso" oder "partenza" oder auch mal "gran fondo". Aber so richtig bekommen wir nichts mit.
Wahrscheinlich das übliche "passt auf, fahrt vorsichtig, gleich ist Start"-Gerede, wie ich es schon bei so vielen Rennen gehört habe.
Flow drängelt sich mit mir im Schlepptau - auf taub machend - bis in einen der vorderen Startblöcke durch. Wir haben die Startnummern 1086 und 1087, stehen aber im Block mit den Nummern 551 bis 700. Hinter mir versucht einer der Orga-Leute, mich wild gestikulierend abzufangen. Er kommt nicht durch zu mir. Leider verstehe ich ihn ja auch nicht ...
Wie werden die Beine heute sein?
Es ist kurz vor 9 Uhr, Startzeit. In unserem Block werden die GPS angehauen, ich beschaue mir meine Beine - "Na, alles klar bei Euch?" Wird schon. Ich stehe ja gut im Training, immerhin bin ich letzte Woche noch den extrem bergigen Jerusalem Marathon gelaufen. Was können mir da heute läppische 138 Kilometer anhaben?
La Partenza - der Crash beginnt
Wir stehen im dritten Block, was ich gut sehen kann, denn es geht direkt nach dem Start sehr steil und sehr eng bergab. Vorne labert der Sprecher sich einen Wolf, immer wieder wird gepfiffen und ausgebuht - die Jungs wollen wohl los!
Beim Start geht es sehr steil auf Kopfstein bergab.
Dann endlich, einige Minuten nach neun, der Startschuss. Nachdem die Blöcke kurz vorher zusammengelegt worden waren, geht es zunächst gemächlich, sehr vorsichtig, auf dem Kopfsteinpflaster durch die engen mittelalterlichen Gassen. Viel Gebremse, ab und zu müssen wir noch schieben, dann die Zeitnahme und wie von Geisterhand geht es auf einmal los.
Wow, Scheiße, kann ich gerade noch fluchen - die Straße taucht unter mir ab, schon habe ich irre Speed drauf, vor, neben, hinter und seitlich von mir hunderte Rennräder, alle suchen die Ideallinie. Ich bin so damit beschäftigt, keinem rein zu fahren und darauf zu achten, dass in diesem Gewöll mir keiner rein fährt, dass ich Flow aus den Augen verliere.
Der gibt da vorn richtig Gas - er wird in den etwa 9 Kilometern Abfahrt, die nun anstehen, hunderte Plätze gutmachen: Er kennt da eben weniger Schmerz, als ich.
Problemi di peso - Mein Gewichtsmanko
Schon auf diesen ersten Kilometern lege ich den Grundstein für das spätere sehr schlechte Ergebnis. Da ich mit meinen läppischen 63 Kilo Lebendgewicht kaum Masse bringe, muss ich extrem hart reintreten, um auch nur annähernd mit dem Tempo in der Abfahrt mithalten zu können.
Die 9 km Start-Abfahrt sind fast zu Ende.
In der Abfahrt - weiter oben bei 8, 9 Prozent Gefälle extrem schnell, weshalb ich da keine Fotos machen kann - später etwas seichter, dafür sehr viel kurviger - muss ich deshalb viel Kraft aufwänden, um eine Speed von 50, 60 km/h überhaupt mitgehen zu können.
Kraftprotze wie Florian, die 90 Kilogramm wiegen, lassen da einfach die Hangabtriebskraft wirken und schießen nur so bergab. Und kurbeln vielleicht mal aus Spaß locker mit.
Die erste Abfahrt mache ich mit 180 bis 170 Schlägen pro Minute Puls. Schon bald brennt mir die Lunge. Ich werde massenweise überholt, geradezu peinlich nach hinten durchgereicht. Keine 10 Kilometer gefahren - noch nicht einmal bergauf! - und schon weit, weit im roten Bereich! Am Ende dieses Rennens werde ich mit einem 160er Puls-Schnitt gefahren sein. Bei 142 liegt meine Schwelle ...
Das Feld beginnt sich, auseinanderzuziehen. Flow ist außer Sicht.
Es endlich die ersten Anstiege kommen, kann ich auch etwas runterfahren. Dennoch: Das Tempo bleibt sehr hoch, dabei weht ein steter seitlicher Gegenwind, sodass ein richtiges Windschattenfahren nicht möglich ist.
Wie ein Fiat Panda auf der Autostrada ordne ich mich rechts ein und lasse mich weiter überholen. Mir brennen die Beine, die Lunge sprüht Feuer - und vorn sehe ich nur noch ganz klein das Solar-Trikot von Flow ab und zu mal aufblitzen. Noch mache ich mir Hoffnungen, ihn am Berg wieder einholen zu können.
Colleghi die Gran Fondo - meine Mitstreiter
Ein Rennen in Italien zu Fahren ist immer ein Genuss. Zunächst einmal, weil hier der Radsport Teil der Kultur ist. Sie leben den Radsport, sie geben sich ihm mit Leidenschaft hin.
Ich mag Italiener auf Rennrädern!
Kaum einer, der hier nicht mit einem mindestens auf Hochglanz polierten Renner an den Start gehen würde, kaum einer, der nicht stolz die Radkombi seines lokalen Radklubs (typisch italienisch knallebunt) anziehen würde. Keine Mountainbike-Visire an den Helmen. Keine schwarzen Socken. Es ist ein Traum.
Sie sind freundlich, sie grüßen. Sie schnattern die ganze Zeit - fahren dabei sicher und bringen niemals weder sich noch ihre Mitstreiter mit bescheuerten Fahrmanövern in Bedrängnis. Ein Genuss, hier Rad zu fahren! Welch´ ein Unterschied zu den Freizeit-Idioten, mit denen ich mich bei wirklich jedem einzelnen Rennen des German Cycling Cups auseinander zu setzen hatte!
Die meisten von diesen Leuten, mit denen ich hier gerade am Anfang des Rennens fahre, werde ich in knapp 4 Stunden wieder treffen. Aber zu diesem Horror-Kapitel kommen wir ja noch ...
Sonne, Anstiege, Rennrad - was braucht der Mensch mehr?
Es lichtet sich immer mehr das Feld um mich herum. Langsam geht es ab Kilometer 15 wieder bergauf, dann wieder rasant bergab, dann wieder bergauf und wieder bergab. Ich bin so allein mit mir und realisiere immer mehr: Meine Form ist absolut im Keller!
Non - la prima parte. Des Scheiterns erster Teil.
Wo mich die Abfahrt bereits schon an die HFmax getrieben hat, wird nun der Wind das Seine tun. Immer wieder wird das schöne, sonnenklare Wetter von plötzlich heraufziehenden Wolken verschlechtert, ein Zeichen für starken Wind.
Allerdings weht ein fieser, kühler Wind.
In den langsamen Anstiegen merke ich ihn kaum, aber wenn ich über eine der unzähligen Kuppen komme, dann schlägt es mir doch recht stark entgegen. Zudem weht es auf vielen der kleinen Abfahrten dermaßen stark von vorn, dass ich selbst bei einem Gefälle von 7 oder 9 Prozent kaum über 35 km/h komme!
Und das auch nur, wenn ich hart reintrete. Ich wundere mich, wie sie mich hier scharenweise fast spielend überholen. Kaum zu glauben, dass hier ganze Gruppen von 20, 30 oder mehr Fahrern einfach so an mir vorbeiziehen - und ich nicht einmal den Hauch einer Chance habe, mich im Windschatten versteckend mitziehen zu lassen. Selbst dafür fehlt mir die Kraft!
Das Sagrantino ist berühmt für Wein und Olivenöl.
Der Wind macht mir zu Schaffen.
Meine Beine brennen.
Meine Psyche leidet. Flow ist lange schon außer Sicht ...
Und man muss kein Sportwissenschaftler sein, um den Grund hierfür zu ermitteln: Mangelndes Training und natürlich die noch nicht abgeschlossene Regeneration vom Marathon letzte Woche. Heute sitze ich das erste mal in diesem Jahr au dem Rennrad. Wo vielleicht eine ein-, zweistündige, lockere Trainingsausfahrt in GA1 angestanden hätte, mute ich mir hier einen hammerharten Gran Fondo zu.
Das kann ja nicht gut gehen.
Allein im Gegenwind. Ätzend!
"Naja", denke ich mir, "dann fährste halt deinen Stiefel und schaust, dass du ankommst, wenn schon keine Bestzeit drin ist heute." Beschließe ich so und konzentriere mich darauf, meinen Puls nach unten zu bekommen und halbwegs einen gangbaren Rhythmus zu finden.
Wenn nur dieser ver.......te Wind nicht wäre!
Il mio Umbria - mein Umbrien!
Begeistern hingegen kann mich mal wieder Umbrien. Durch dieses - vor allem durch den Weinanbau und das leckere Olivenöl bekannte - Gebiet bin ich 2010 schon auf meiner aller ersten Rennrad-Tour gekommen, auf dem
"Mio Giro" habe ich sogar in Foligno übernachtet und später werde ich auch einige der Straßenabschnitte wieder erkennen.
Umbrien ist nicht hoch. Dafür steil.
Umbrien ist nicht extrem hoch. Es sind hier nicht die Alpen oder die beeindruckenden Dolomiten. Es sind eher seicht anmutende Hügel - deren Rampen es allerdings durchaus in sich haben! - und die weiten Blicke, die man in die fruchtbaren Täler hat.
Links und rechts von mir zieren Weinberge, noch etwas kahl wirkend, die seichten Abhänge, wenn ich in einer Stunde kurz die Getränke wegpullern werde, werde ich dies in einem Olivenhain tun. Überall duftet es nach Frühling, das schrille Zirpen der Singvögel erscheint nach dem langen, stillen Winter in Hamburg wie aus einer anderen Welt.
Ach, Umbrien - wunderschön!
Knorrige Weinreben. Passt zu meiner Form.
Begeistern können mich vor allem die vielen kleinen Dörfer, die oben auf manchen Hügeln stehen. Mittelalterlich befestigte Trutzburgen, mal größer, mal kleiner. Gestern bei der Anreise etwa bestaunen wir noch das wunderbare Kloster von Assisi, heute werden wir an dem pittoreskem Spello vorbeikommen, dass eine ähnliche Wirkung auf den Betrachter hat.
Doch jäh reißt mich meine unterirdische Form aus den landschaftlichen Tagträumen ...
L´aumento - Im Anstieg
Beim Örtchen mit dem prophetischen Namen Bastardo zweigen wir auf eine kleine Straße ab - der erste größere Anstieg wartet. Ich habe heute - klar, denn ich dachte, die 138 läppischen Kilometer schüttle ich nur so aus dem Ärmel - nur ein Gel mit dabei, das will ich mir aufsparen - zu Essen habe ich allerdings auch nichts.
So knurre ich mich die ersten Rampen hoch.
Gern mal 10 bis 14 % steil, die Rampen bei der La Sagrantino.
Ich halte mich für einen guten Bergfahrer, keine Frage, und obwohl ich es terminlich noch nicht geschafft habe, mir die Kompaktkurbel an mein Cervélo R3 anbauen zu lassen, können mich die 7, 8 Prozent, manchmal auch die 11 Prozent, in diesem Anstieg kaum einschüchtern.
Und doch - etwas ist anders heute.
Ich werde am Berg überholt.
Selbst im Anstieg überholt zu werden ist mir neu.
Zwar kann ich mit 11, 12 auch mal 14 km/h die Anstiege hochfahren, aber die Jungs und Mädels neben mir sind allesamt einfach immer schneller! So kenne ich das gar nicht. Klar, Italiener (oder Spanier) sind aufgrund der Trainingsmöglichkeiten immer bevorteilt, gegenüber einem Flachland-Hamburger wie mich, aber so krass musste ich das noch nie erleben.
Ich röchle und versuche, wenigstens halbwegs mitzumachen. Aber wenn die mich nun auch schon im Anstieg überholen, nicht nur in der Ebene, dann läuft hier etwas grundfalsch!
Ich brauche unbedingt die Kompakt!
Bis zum Ende des ersten größeren Anstieges und der darauf folgenden Abfahrt - in der ich fluchend bei Gegenwind nicht einmal mehr in der Lage bin, die 50 km/h-Grenze zu durchbrechen - fahre ich mich komplett leer.
Mein Magen knurrt so laut, dass ich ihn sogar lauter als das Rasseln meines Freilaufes wahrnehme, meine Beine fühlen sich schlapp an und ich möchte anfangen zu heulen, als ein Schild - natürlich auf Italienisch - irgendwas von "Verpflegung in 5 km" erzählt.
Allerdings, um zur Verpflegung zu kommen bauen die Organisatoren eine zünftige Rampe mit 16% auf 100 Meter mit Zeitmessung ein. Ich drücke mich hoch und muss fast hysterisch lachen, als ich mich dabei ertappe, hier tatsächlich Flow zu erwarten: Der ist, als ich hier ankomme, allerdings schon lange, lange wieder auf der Strecke.
Eine Wohltat!
Ahhh, ich kann nur stöhnen, als ich mir die saftig-süßen Apfelsinen in den Mund drücke, gleich dutzendweise, als ich den süßen Apfelkuchen zu Doppelstücken förmlich weg atme, als ich Bananen und Apfelstücke ohne zu kauen einfach schlangenartig herunterwürge - oh man, ich bin so platt!
La sofferenza continua - Und weiter geht das Leiden
Die Labestation war nur eine kleine Oase des Glücks. Als ich wieder auf dem Rennrad sitze, folgt wieder die altbekannte Marter des Underperformers: Ich walze mich ächzend über schlechte Straßen, ducke mich unter dem harten Gegenwind weg und muss schon wenige Minuten nachdem ich vielleicht einmal den Sprung hinten an eine mich überholende Gruppe geschafft habe, wieder abreißen lassen. Es ist zum Mäusemelken!
Es ist nicht mal 80 km - und ich fühle mich wie 10 Stunden im Rennen.
Das Wetter wird schlechter. Immer mehr Wolken lassen nur noch kurz die Sonne einmal durch. Der harte Gegenwind zieht mir die Wärme aus dem Körper - ein Glück, dass ich neben dem Langarm- und Kurzarm-Trikot auch noch ein langes und ein kurzes Thermohemd untergezogen habe. Wie gut, dass ich eine Mütze unter dem Helm trage und wie gut, dass mich die Gore-Tex-Beinlinge halbwegs wärmen.
Wie es Flow wohl ergeht? Der ist heute in lang-kurz angetreten. Keine Thermo-Unterhemden. Keine Beinlinge ...
So richtig Windschatten ist das auch nicht.
Zwischendurch regnet es auch einmal kurz, aber nur so kurz, dass es nur demotiviert, nicht gleich komplett durchnässt. Über welche Dinge ich mich hier schon freue ...
Und dennoch, so sehr ich hier heute auch offensichtlich körperlich überfordert bin, ich kann es dennoch genießen: Die Farben, diese Luft, alles ist einfach schon viel weiter, als daheim in Deutschland. Der Frühling lässt grüßen, viele Bäume treiben schon zartgrüne Knospen aus - ein herrlicher Anblick und mithin krasser Gegensatz zum Grau-in-Grau, das mich daheim in Hamburg erwartet.
Es fängt hier schon zart an, Frühling zu werden.
Auf meinem Garmin stehen gerade einmal 80 Kilometer. Es fühlt sich an, als habe ich schon das Dreifache in meinen Beinen. Und immer wieder besehe ich mir die Höhenmeter-Angaben: 800 hm stehen da.
Und 1.900 hm sind noch offen!
Confusione - Gran oder Medio, oder was?
In der Ferne (aber so fern nun auch nicht) drohen durchaus einige größere Brocken. Und wenn ich mich umblicke, so haben manche von ihnen sogar noch verschneite Kuppen. Oha, das wird aber ein Spaß, wenn es gleich den großen Zacken des Profils hochgeht, denke ich mir.
Schöne Ausblicke auf Foligno.
Ich rassele die letzte Abfahrt hinunter und werde - genau im richtigen Moment - von einer etwa 5 Mann starken Gruppe überholt. Ein kleiner Zwischensprint - na also, geht doch noch! - und ich hänge mich ran. Ich kündige mich durch ein "Grazie" an und rolle hinten mit.
Nicht, dass das so einfach wäre - die fahren hier mit 25 bis 35 km/h einen sehr flotten Stiefel, je nachdem, von wo der Wind weht.
Mittelalterliche Wehrdörfer prägen die Landschaft.
Vorn zieht ein bulliger Typ unsere kleine Gruppe, wir nähern uns einer Bergkette. Rechts fliegen wir am wunderschön auf einem eben solchen gelegenen Castel Ritaldi vorbei - der Wind geht nun hart von rechts in die Bikes, wir müssen alle sehr hart arbeiten.
Da auch dieser Gran Fondo mitten im normalen Verkehr stattfindet, sind Windstaffeln nicht möglich. Und bei mir tropft das Laktat nur so aus den Ohren ...
Ich muss wieder eine Gruppe ziehen lassen.
Besonders schlimm sind die vielen Überführungen über die Autostrada und die Superstradas - dann pfeift es eiskalt von der Seite rein und ich muss das Bike schon recht schräg steuern, um überhaupt Kurs zu halten. Vorne wechseln sie, aber ich gehe nie an die Spitze: Es würde meinen Mitstreitern auch nichts bringen, wenn ich sie hier mit 20 km/h "ziehen" würde.
Nun taucht vor uns eine imposante Bergkette auf. "Einer von denen ist der 1.500 hm-Anstieg", sage ich mir immer wieder und versuche die Serpentinen zu erkennen, die ich mich gleich werde hochschleppen müssen.
Die hier sind super. Werden aber nur den Medio Fondo fahren.
Angst habe ich vor dem Anstieg nicht: Lieber einen Abhang hochkraxeln, als sich im Gegenwind die Beine kaputt zu treten, das ist zumindest immer meine Devise gewesen.
Doch es wird anders kommen. Irgendwann - ich achte ja auf die an jeder Kreuzung und Einbiegung aufgestellten Hinweispfeile - wird auf den Schildern nicht mehr der rote Pfeil für "Gran Fondo" erscheinen, sondern nur noch der Grüne für die Minirunde und der Schwarze für den "Medio Fondo".
Wo ist der Rote hin? Ich warte zwei, drei Schilder ab. Nichts. "Wir haben die Abzweigung verpasst!", schießt es mir in den Kopf. "Verdammt nochmal, wie konnte das passieren?!?"
Ich schaue meine Mitstreiter an: Keinen scheint das zu stören. Bin ich der Einzige in dieser Gruppe, der den Gran Fondo fahren wollte?
"Verdammte Sauzucht, warum habe ich mir nicht den GPS-Track aufs Garmin gezogen?", argumentiere ich mit mir selbst: "Na, weil die Rennen eh immer so super ausgeschildert sind, das braucht doch keiner!" Ja, sehe ich jetzt auch.
"Soll ich umkehren und die Abbiegung suchen?", frage ich mich mehrmals. Aber die laktatgeschwängerte Stimme hat Recht: "Hier führen alle 100 Meter irgendwelche Sträßchen auf den Berg, das könnte jede Abzweigung sein - und was, wenn du dich dann vollends verfährst?"
Na, ihr habt Recht - dann halt Medio Fondo. Ich bin geknickt. Auch die letzte Motivation, der letzte Spaß ist nun vorbei. Was wird Flow nur sagen, wenn er - mit Sicherheit super ausgelaugt - ins Ziel schnauft und ich ihm sagen muss, dass ich nicht mal die ganze Strecke gefahren bin?
Agonia - Das Ende vor dem Ende
Ich lasse von der Gruppe abreißen, als ich rechts schon das Ziel, Montefalco erkennen kann. Von hier ab sind es nur noch 16 Kilometer. Die fahre ich nun allein. Wir schlängeln uns durch die windige Ebene, drehen wieder in den Wind und dann auf eine schnurgerade, etwa 10 Kilometer lange Straße. Die Vorhölle.
Eine harte Probe für Material und Psyche.
Von "Straße" möchte ich kaum sprechen. Der Belag ist dermaßen erodiert, dass sie besser daran tun würden, diesen zu entfernen und die groben Pflastersteine der alten Römer darunter zu nutzen - die fahren sich sicher bequemer!
Ich werde durchgerüttelt, gerade so, wie ich mir Paris-Roubaix vorstelle. Der Gegenwind bremst, aber selbst ohne ihn wäre eine Geschwindigkeit von jenseits der 25 hier nicht möglich. Es ist die Hölle. Und das ganze nun 10.000 Meter! Ich werde verrückt!
"Grazie!", ruft einer von hinten über meine Schulter. Ein älterer Herr, schickes Pinarello, macht es sich in meinem Windschatten gemütlich, er grinst und bedankt sich nochmal bei mir, als ich mich umdrehe. Ah, siehste: Der Einarmige unter den Blinden und so ...
Da klingelt mein Handy. Da ich eh langsam unterwegs bin, gehe ich ran. Es ist Flow.
"Digger, wo bist Du?", fragt er. Wie? Ist der im Ziel, oder was?
"Ich bin auf so´ner Scheißstraße kurz unter Montefalco ... äh ... und habe die Abzweigung zur großen Runde verpasst ... wo bist Du denn?" Oder wartet der bei der Verpflegung auf dem großen Berg auf mich?
"Ich habe die auch verpasst ... bin jetzt im Ziel." Wie bitte? Flow auch? Das darf doch nicht ... "Ja, dann bis gleich und viel Spaß beim Endanstieg. Der ist einfach nur übel ..." Aufgelegt.
Wie?
Was?
Bevor ich richtig nachdenken kann, sind die 10 km rum. Wir biegen Richtung Montefalco ein.
Ballando Morto - Totentanz
Den Endanstieg nach Montefalco kann ich mir von den Autofahrten gestern zur Akkreditierung und heute morgen zum Start noch gut ausmalen - die Realität aber ist noch viel krasser.
Endanstieg. Ich glaube, Ihr spinnt wohl?!
Sie schicken uns nämlich nicht die Hauptstraße entlang nach oben, sondern kleine Landwirtschaftswege. Und die haben es in sich. Zunächst eröffnet wird der Reigen bunter Hammerrampen mit einer gemächlichen 13%-Steigung, bei der die Ersten schon mal absteigen dürfen.
Diejenigen, die sitzen bleiben, müssen dann aber schon bald nach der ersten Kurve - bei seichten 11% - wieder aus dem Sattel gehen.
Der Waseberg lässt grüßen.
"Fuck ...!", bleibt mir fast die Spucke weg, als ich auf dem Garmin eine runde 18 sehe. 18% Steigung und das nach 1.000 Höhenmetern mit Beinen wie Pudding. Na hossa! (Und irgendwie bin ich jetzt glücklich, dann doch nur den Medio gefahren zu sein, denn sonst hätte ich jetzt an dieser Stelle noch 1.500 hm mehr in den Knochen).
Ich beiße mich den 18er hoch, kann "entspannen" als es kurzzeitig mal wieder nur 9% steil wird.
Nicht absteigen! Wenigstens diesen Sieg will ich heute haben!
Hier stehen dann auch die ersten Zuschauer. Meist ältere Herren und Damen, wahrscheinlich die Anwohner der Gehöfte hier. In den Einfahrten stehen dicke SUVs - anders kommt man hier wohl auch nicht hoch.
Außer wir, wir Verrückten, wir polken hier auf Rennrädern hoch.
Immer mehr Abgestiegene und Schiebende überhole ich. Sie grüßen, fahle Gesichter, grüne Hautfarbe. Ich schnaufe mich hoch. Absteigen? Nee! Wenigstens einen Erfolg möchte ich heute feiern - und wenn ich oben umkippe! - aber absteigen werde ich hier sicher nicht!
18 %
Immer wieder geht es in der Kurve fast senkrecht nach oben - leider sind die Distanzen zu kurz, als dass mein Garmin den Gradienten ausrechnen könnte, aber die kratzen bestimmt an der 21, 22%-Marke.
Richtig spaßig aber sind die etwa 50 bis 100 Meter langen 18%-Rampen, die hier immer wieder kommen. Einen Vorteil hat es ja, denke ich mir: So machste schnell die etwa 400 Meter bis nach Montefalco hoch. Aber es tut weh, so weh!
"Sobald ich in Deutschland bin, gibts die Kompaktkurbel!", schwöre ich mir wiedermal und denke an Flow, der heute seinen ersten Einsatz mit der Bergübersetzung gehabt hatte. Allerdings richtig erholt hat der sich auch nicht gerade eben am Telefon angehört ...
Ich sehe langsam nur Sterne vor dem Grau der Straße.
Als ich schon vor lauter Wändeklettern nicht mehr klar denken kann, sich Sterne rund um meinen Kopf formieren, da steht endlich das Schild "Ultimo chilometro", der letzte Kilometer, 1.000 Meter und dann war es das!
Ich ächze nach oben, wie viel Power jetzt hier wohl auf der dünnen Kette lastet? Ah, wieder 18%, na, Ihr habt hier doch alle den Arsch offen! Das kann doch nicht sein ... ich biege ein, die Stadtmauer, es wird etwas flacher, 8, 9%, dann ein Polizist, der mich anfeuert, ich fahre durchs Stadttor, vor mir die "Frühsport-Rampe", Musik schwallt mir entgegen, Leute klatschen, feuern mich an. Ich hole alles raus. Treten, treten, ein letzter Blick aufs Garmin - 14% - na Mensch, bis zum Schluss krass, diese La Sagrantino.
Und dann. Dann endlich: Der Zielbogen.
Finish.
Aus.
Absteigen, Krampf.
Phuhh! Geschafft ... im wahrsten Sinne des Wortes.
Flow kommt auf mich zu. Zitternd vor Kälte. Blaue Lippen. Ich drücke ihm den Autoschlüssel in die Hand, er mir seinen Transponder. Rückgabe. Weg hier!
Risultato
Ich bin hier heute das schlechteste Rennen meiner gesamten Karriere gefahren. Abgesehen davon, dass wir nicht einmal die lange Strecke fahren konnten - woran auch immer das gelegen hat (Falscher Startblock? Falsche Startzeit - Internet sagt 9:30 Uhr Start Gran Fondo, Starterbeutel-Beilage sagt 8:30 Uhr ... Hat jemand den Pfeil geklaut? Keine Ahnung.) - habe ich heute eine erbärmliche Performance gezeigt!
Enttäuscht.
Ich beende das Rennen nach offiziellen 4:02 Stunden. Für 96 Kilometer und läppische 1.270 Höhenmeter! Das ist nicht einmal die Höhe des Stelvio! Und nicht einmal ein 25er-Schnitt! Man, ist das schlimm! Ich stehe einfach nur in der Schlange und bin enttäuscht, maßlos enttäuscht.
Selbst, als der ältere Herr wieder zu mir kommt und sich noch einmal für meinen Windschatten bedankt - nee, das hier war alles andere als eine gute Vorstellung. Ein Glück nur, kann ich sagen, dass meine Kackform heute auf einmal mit dieser verpatzten Streckenteilung zusammenfiel. So sind wenigstens zwei doofe Sachen auf einmal, glücklicherweise beim kleinsten und unwichtigsten Rennen, aufgetreten.
Sicher liegt das schlechte Ergebnis an meinem geringen Trainingsstand auf dem Rennrad - auch 2012 bin ich das Eröffnungsrennen beim
Gran Fondo Colnago in Saint Tropez mit 25,3 km/h Durchschnitt auch nicht schneller gefahren. Nur in Saint Tropez bin ich halt wenigstens 180 km und 2.600 hm gefahren. Nicht sone läppische Runde wie hier heute!
Sicher liegt das Scheitern natürlich auch darin, dass ich noch nicht ganz auf dem Damm nach dem
Marathon Jerusalem bin.
Whatever. Ich schäme mich fast, meinem Sponsor SunClass von diesem Rennen zu berichten. Aber hey, einen Lichtblick gab es wenigstens: Ich musste bei x mal 18% nicht absteigen. Wenigstens das.
Ciao, Foligno ...
Ich gehe gesenkten Hauptes.
Das muss besser werden.
Wird es.
Versprochen!
Hier gibt es die Garmin-Daten des Medio Fondo La Sagrantino 2013.