15. Juni 2011

Ultimate Challenge

Los geht es - die Sachen sind gepackt, das Cervélo ist zerlegt im Radkoffer und wartet auf den Flug nach Nizza. Meine Beine glänzen frisch rasiert und ich bin einfach nur gut drauf: Morgen geht es los.

11 Etappen, 1.300 Kilometer und mehr als 20.000 Höhenmeter liegen vor Flow und mir. In 2 Wochen werden wir uns - hoffentlich - wohlbehalten die Champs Elysées im mörderischen Feierabendverkehr triumphierend durchkämpfen, denn dann werden wir den Galibier, den Izoard, Alpe d´Huez, Tourmalet, Mont Ventoux und einige andere große Legenden der Tour de France bezwungen haben.

Bis dahin ist es ein weiter Weg.

Euch eine schöne Zeit. Ride safe.


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13. Juni 2011

Im Warpfeld - die Neuseen Classics 2011

"Mehr Power" - steht da auf den nagelneuen Trikots, Hosen und Jacken, die der Sponsor unseres Rennrad-Teams für die neue Saison zur Verfügung stellt. Und mehr Power, das werden wir auch brauchen. Immerhin stehen in dieser Saison 7 Rennen im Rahmen des German Cycling Cups in unserem Kalender.

Am Wochenende ist es wieder soweit: 4 Fahrer der Equipe besteigen den Bus. Es geht nach Leipzig zu den Neuseenclassics.

Wir sind guter Dinge. Das Wetter stimmt, die Stimmung ist mehr als hochgradig und zum schnellsten Rennen der Saison - wenn man anderen Blogs Glauben schenken darf - haben wir sogar den Segen der NASA.

Tjaha, die Nationale Raumfahrtbehörde, sie nämlich hat sich nämlich - wenn man dem Hersteller unserer neuen Bekleidungslinie glauben darf - maßgeblich an der Entwicklung der Arschpolster beteiligt. Na, wenn das mal nicht die beste Voraussetzung für ein schnelles, tolles Rennen ist?

Flow ist Samstag morgens noch bei seiner kleinen Tochter, Heiko weilt in der Pfalz und wird auch erst am Abend zu uns stoßen, und so fahre ich mit Swantje alleine nach Leipzig. Im Transporter haben wir unsere Räder, die des Teams und allerlei Zubehör.

Wir erreichen Zwenkau kurz vor 15 Uhr, genauer gesagt, das Kraftwerk Lippendorf, wo wir die Startunterlagen abgeben und die Beutel abholen werden. Wir nähern uns mächtigen Kühltürmen, fahren unter funkelnden Starkstromleitungen daher und auf den Parkplatz des riesigen Kohlekraftwerkes, das Vattenfall - Hauptsponsor des Rennens - betreibt.

Etwas schüchtern eingeklemmt zwischen Haupteingang, mehrstöckigen Generatoren-Hallen, mächtigen Kühltürmen und einem greenwashenden Besucherzentrum flattern Fahnen im Wind. Hier haben sie liebevoll drei, vier Zelte aufgebaut.

Odlo bietet Bekleidung zu Sonderkonditionen an, Multipower kann man auch billiger kaufen und es knattert Beat zu sächischem DJ-Akzent aus bassigen Boxen.
Klein und süß hier alles, fast familiär.

Wir treffen noch Lars, einem Freund, den ich noch aus Liegeradzeiten kenne, der mittlerweile auch auf das Rennrad umgestiegen ist. Aufgrund einer Knieverletzung wird er morgen leider nur die 30 Kilometer fahren - schade!

Die Pastaparty mutet wie eine gemütliche Zusammenkunft im Garten an. Ein Dutzend Bierbänke haben sie hier aufgebaut, die Vattenfall-Kantine macht in Sonntagsarbeit Überstunden und versorgt die Rennfahrer, die ich meist älteren Baujahres einschätze, mit Nudeln und Tomatensoße.

In Leipzig spazieren Swantje und ich noch durch die Gruftis, die während des Wave Gotik-Treffens die Stadt fest in ihrer Hand haben. Und nachdem spät am Abend mit der Ankunft Flows und Heikos das Team endlich komplett ist, lassen wir uns von den tollen Damen des Hauses "Weißes Ross" in Groitzsch mit deftiger Hausmannskost versorgen. Perfekt.

Die Nacht ist so ruhig, wie sie es nur auf dem Lande sein kann: Unter meinem Fenster mauzt eine kleine Katze, das war es aber auch schon.

Renntag! Sonntag, wir stehen auf. Die neuen Klamotten passen perfekt und schon beim reichhaltigen Frühstüclk schnattern wir angeregt über die zu erwartenden Stunden auf dem Rennrad.
Die 15 Kilometer vom Teamhotel nach Zwenkau bestreiten wir im Teambus - nobel, nobel, so muss das sein!

Die Neuseen Classics gelten als das schnellste Rennen im Kalender des German Cycling Cup. Heiko und ich rekapitulieren einige Blogeinträge aus den letzten Jahren, in denen rasantestes Tempo und gefährliche Stürze das Hauptthema waren. Da ich in 4 Tagen nach Frankreich in den Urlaub fliegen will, steht für mich dabei eines fest: Heute wird das keine Rekordfahrt werden, heute gehe ich es ruhig an, schwimme mit, sehe das Rennen als Training für Izoard, Galibier & Co.

Swantje ist unser Zugpferd. Der German Cycling Cup vergibt bis zum 200sten Platz "echte" Punkte - jeder, der ab Platz 201 finished, kann mit nur 15 "Mitmachpunkten" rechnen. Da nun jedoch wesentlich weniger Damen an den Start gehen ist natürlich die Chance, unter jene 200 Ersten zu fahren, für Swantje viel größer, als für uns Kerle.

Und so spornen wir sie an, heute alles zu geben.
Mit Erfolg, wie sich heraus stellen wird.

Heiko ist wie immer verschlossen - aber guter Dinge. Er hat genug Rennen, RTFs, Triathlons und andere Wettkämpfe in seinen Waden, als dieses Rennen ihn auch nur irgendwie aus der Reserve locken könnte.

Auf dem Weg zum Start ist es Flow, der für die Scherze zuständig ist. Da ich mit ihm die Tour de France in vier Tagen fahren werde, wird auch er heute nach eigener Auskunft kaum um den Sieg mitfahren. Aber gut drauf ist er - kann man anders auch gar nicht, bei diesem Wetter.

Am Start reihen wir uns - diesmal komfortabel im ersten Startblock A - hinter unseren "Feinden" von Merkur-Druck ein. Diese Druckerei hat ein eigenes Jedermann-Team mit größtem PR-Aufwand und extremen Investitionen auf die Beine gestellt. Die Fahrer sind berüchtigt und Stark.

Da eine Dependence dieser Druckerei ebenfalls in Norderstedt bei unserem Sponsor SunClass angesiedelt ist, freue ich mich jedes Mal, einen von denen überholen zu können. Umso mehr, wenn ich mir deren hochkarätige Ausstattung und vor allem die dicken Waden anschaue.

Punkt 9 Uhr starten wir. Unerwartet irgendwie.

Und der Warpflug beginnt.

Nach der ersten Kurve geht es hart zur Sache. Der Block A bleibt kompakt beieinander und stetig steigt der Speed auf 52, 55 km/h. Ich bin sofort außer Puste, trete hart und noch während ich mich wundere, komme ich mit dem Schalten kaum hinterher - so hart habe ich in der Tat noch nie ein Rennen begonnen!

Warp 1.

Es geht zunächst auf die B-95, alle kloppen wie die Berserker gegen den Wind, ich wage einen Blick hinüber zu Heiko, auch er vollkommen fertig außer Puste dreht nur mit den Augen: Was ist hier denn los?

Die Brücke über die Autobahn die uns auf die B2 bringt, eigentlich nur eine unbedeutende Welle, sorgt für die erste Selektion: Oben staut es sich kurz, wir müssen hart in die Eisen, von 50 runter auf 25 - wahrscheinlich hat es vorn einige Schwache an der zarten Steigung zerlegt. Es regen sich alle um mich herum auf. Ich aber bin ganz froh, dass dieses irrwitzige Gebolze eine kleine Pause hat. Wie wollen wir das 135 Kilometer lang durchhalten?

Weiter geht es einige Kilometer in Richtung Markkleeberg, wieder im niedrigen 50er-Bereich. Ich verstecke mich im Windschatten des Pelotons und komme aus dem Staunen nicht heraus: Wieso freuen wir uns in anderen Rennen über Schnitte um die 40, und hier fahren sie 52 km/h im Schnitt?!? Sind die Sachsen so hart?

Vor Markkleeberg verlassen wir die Bundesstraße, es wird gefährlich.

Die Einfahrt ins Erholungsgebiet der Neuseen ist exrem eng. Hier fluten sie seit der Wende die großen Tagebaugruben, haben eine Parklandschaft von besonderer Schönheit angelegt. Nagelneue Wege für Radwanderer und Spaziergänger schlängeln sich durch frisches Grün, zarte, junge Wälder entlang der Ufer der erst halb gefluteten Seen.

Nachdem wir in höchster Geschwindigkeit es geschafft haben, uns in Zweierreien auf die dürren Asphaltwege einzufädeln, steigert sich das Tempo sofort wieder. Es geht in schärfsten Kurven auf und ab, kaum Zeit zum Gucken, ich muss extrem aufpassen, zwei, drei neben mir, Bremsen, reintreten, Spur halten!

Sehr gute Fahrkunst ist angesagt. Abreißen lassen geht hier nicht: Zum Rechtsranfahren wäre kein Platz! Sie bolzen auch hier die engen Wege entlang, es knallt mir der Wind in den Ohren, links, rechts, rechts und wieder links - hart herunter, scharf bergauf, wir schlängeln uns durch die Neuseen, und ich bekomme vor Action kaum etwwas mit.

Warp 2.

Am Störmthaler See kann ich dann endlich einmal kurz durchatmen - das längere Geradeausstück ist zwar nicht weniger schnell, aber fahrerisch anspruchsloser. So gelingt mir sogar mal ein Foto, leider kann ich den riesigen Abraumbagger, den sie hier am anderen Ufer stehen haben, nicht mehr festhalten, denn mit 47, 48 km/h geht auch die längste Geradeausstrecke einmal vorbei.

In der Ferne sehen wir immer wieder Lippendorf qualmen, wie in einem okulten Hexentanz scheinen wir um das Kraftwerk zu kreisen, aufgeladenen, wütenden Elektronen gleich, die ihren Kern umkreisen.

Das Wetter ist wunderbar - es scheint die Sonne, kein einziges Wölkchen am Himmel, nur ein scharfer Wind, der ab und zu zum Gegenwind wird, scheint die Laune zu trügen. Aber anders als sonst ist der Gegenwind heute kein Thema: Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber ich registriere keinerlei Verlangsamung, wenn wir in ihn drehen.

Oder hat bei Warp-Speed der Wind keinen Einfluss mehr?
Wir schlängeln uns in Höchgstgeschwindigkeit durch die Natur, es wird nicht gesprochen im Feld, alle fahren am Anschlag. Noch immer bin ich ich an der Grenze dessen, was ich leisten kann, meine Waden brennen, zum ersten Mal in einem Rennen schmerzen die Finger - vom vielen Schalten.

Sie bolzen durch die Heide, das einem Angst und Bange werden kann. Vor allem die Passagen auf den sehr engen Wanderwegen fordern höchste Konzentration, zumal sie alle 2, 3 Kilometer riesige Schilder in Neon aufgestellt haben: "Gefahrenstelle!". Nur leicht wird dann abgebremst, dann rufen wir alle "Liiiiinks!" oder "Aaaaachtung!". Widerwillig wird sich in Kurven hinein gebremst - wie Wikinger nach dem Angriffsbefehl beschleunigen wir wütend. Es scheint, alles unter 40 km/h ist unter ihrer Würde.

Irgendwann - ich kann meine Kamera nicht mehr herausholen - warnt ein Schild vor der anstehenden "Bergwertung". 2.000 Meter soll die Rampe lang sein, und siehe da: Wir biegen um die Ecke, von Warp 2 auf 15 km/h gebremst bleibt das Peloton im vertikalen Asphalt stecken. Ich rufe noch "Ach du Scheiße!" und dann brauche auch ich meine Lunge für etwas anderes.

Selbst Heiko, neben dem ich wie ein Adjutant fahre, muss aufs kleine Blatt. An der Steigung stehen sie und feuerrn uns an - sowieso, wenn wir durch Dörfer kommen, herrscht immer ausgelassene Feierstimmung - ich pruste mich die Steigung hoch. Wieder kann ich viele Plätze gut machen, irgendwann an Position 3, irgendwann, ganz oben, bin ich an 1. Na hossa!

Dann geht es in die rasante Abfahrt. Na, dabei bleibe ich lieber vorn, denn es geht mit 69 km/h und Gegenwind auf einem nicht einmal 3 Meter breiten Weg durch ... Weinberge.

Ja, sie haben hier Weinberge ...

Bergab meistere ich super, fühle mich gut. Neben mir schließt einer von Merkur-Druck, der Feind, auf. Mir ist der lieber, als hinten im Pulk zu fahren. Bei fast 70 Sachen möchte ich nicht in Dreierreihe fahren!

Bergrunter, bergauf, bergab, bergoch - ich führe das Feld durch das Geschlängel einige Kilometer an, dann habe ich meine Pflicht erfüllt, meinen Windschatten bezahlt, den Kräfteobulus erbracht und lasse mich ins Feld zurück sacken, an 10ter Position lässt es sich besser mitschwimmen.

Von da an halte ich Heikos Hinterrad. Da kann man nichts falsch machen, denke ich mir und weiche kaum mehr von ihm. Wir sind mal an 10, mal ganz vorn. Von jetzt ab ändert sich auch das Tempo ein bisschen. Der Schnitt sinkt von Lichtgeschwindigkeit auf vertretbare 38 bis 40 km/h, das Peloton fährt ruhiger.

Neben mir ab und zu der Merkur-Mann, auch er hat nun genug Luft zum Plaudern über.

"Besser als Münsterland-Giro", sage ich zu Heiko. Er neben mir: "Da haste Recht! Sehr geil - aber sehr schnell!"

Bei Kilometer 90 scheint sich die hohe Pace der Anfangsphase dann endgültig zu rächen. Die Führenden - in unserer Gruppe so 10 sehr starke Fahrer aus unterschiedlichen Teams - schaffen es nicht mehr, uns konstant über 40 km/h zu halten. Verständlich - wie soll das auch gehen?!?

Ich sehe zwei Fahrer des Deutsche Post-Nationalteams, zwei sehr starke Rennfahrer vom Chariteam München, einer in Rot, auf dessen Hintern "Tölutex" steht (der immer an der Spitze zu finden ist) und eine saustarke Dame, klein, kompakt, sehr muskulöse Schenkel, vom Sparkasse Leipzig-Team, die sich nicht zu schade ist, auch selbst mal zu führen.

Wir rollen in eine Abfahrt hinein. Schnell steigt der Speed wieder in den 53er-Bereich. Kühlender Wald, Grüne Hölle. Es duftet nach frischem Torf.

Die Straße wird wieder eng, ich halte mich eher hinten, Position 15. Dann ein Schild: "Buffett 1.000 m" - na, da werden also gleich einige Fahrer anhalten, denke ich mir. Noch immer Abfahrt. 55 km/h. Schneller immer schneller. Irgendwas stimmt doch hier nicht, frage ich mich - normalerweise machen sie Verpflegung doch in der Steigung?

Dann der Moment. Helfer von der Feuerwehr stehen am Wegesrand und versuchen, uns Flaschen zu reichen. Vollkommen chancenlos - wer es dennoch versucht, bei 55 km/h eine Flasche zu erwischen, knallt sie dem Helfer meist nur aus der Hand und uns in die Räder. Ein Wasser-Massaker. Bekloppt! Und gefährlich obendrein - diese Verpflegung bietet allerbeste Chancen zum Abflug!

Als wir wieder aus dem Wald in die Sonne schießen, wirft einer der Mitfahrer seine leere Flasche zur Seite hin weg. Sie prallt an einem Laternenpfahl ab und trifft den Rennfahrer hinter mir an der Brust. Wildes Gepöbel folgt: Idioten fahren also auch noch mit!

Da wir fast alle drei Flaschen dabei haben, hat niemand unserer Gruppe angehalten. Das Feld konnte sich also auch nicht neu formieren. Also mit der alten Garde weiter. Wir schießen aus dem Wald, zwei drei Kurven, dann wieder Felder und Kulturlandschaft - und Wind.

Heiko scheint es zu bunt zu werden. Die Geschwindigkeit ist mittlerweile auf 37 bis 35 km/h gefallen, anscheinend zu langsam für unseren Fahrer. Zielstrebig arbeitet er sich nach vorn - und ich mich mit ihm. Wie im Paarflug halte ich sein Hinterrad, kein noch so forscher Drägler kann mich davon abhalten, stur meine Position zu halten.

Irgendwann sind wir ganz vorn - aber nach meinem Führungsritt vor der Verpflegungsstelle, der mir noch immer in den Waden brennt, verspüre ich wenig Lust, hier noch weiter im Wind zu bolzen. Ich lasse ihn ziehen und halte mich vornehm an einer hinteren Position.

Vorne bolzen sie Tempo. Heiko führt, wechselt sich ab mit einem Kollegen vom Deutsche Post-Team, der Mega-Lady von Sparkasse Leipzig und einem Ur-Krostritzer-Fahrer, dem Team von Uwe Raab, einem meiner Friedensfahrt-Idole von ... damals.

Wir erreichen jedcoh nicht mehr die hohen Anfangsgeschwindigkeiten: Von hinten kommt kein frisches Blut nach vorne, jedes mal, wenn einer aus dem Wind geht, schlängelt sich alles hinter ihm her, keiner geht nach vorn. Ärgerlich - aber ich ziehe ja selbst auch nicht.

Irgendwann sind es nur noch 20, dann nur noch 15 Kilometer und wir beginnen, die letzten Hörnchenlenker der 80er-Runde einzusammeln. Wilde Gruppen in 5er-Reihen versperren uns den Weg, man kommt kaum vorbei, Pöbeln und Meckern an der Tagesordnung, ich schüttle nur meinen Kopf, aber hey, wer erwartet von den Muttis, dass sie sich mit Rennrad-Etikette auskennen? Ich genieße die Sonne und schwimme mit.

Wenig später stehe ich mit den anderen Finishern schon im Zielbereich und hole mir meine Medallie ab - zum Schluss geht alles ganz schnell: Wir kommen nach Zwenkau rein, das Tempo zieht wieder kurz an. Auch ich kann noch einige Plätze gut machen, schieße noch einmal über die 40er-Marke, wild surren die Freiläufe, sie treten rein, links und rechts Menschenmassen die uns anfeuern - Musikbeats dröhnen aus dem Zielbereich, bunte Reklameposter fliegen vorbei, ich sprinte und trete rein.

Vor mir versammeln sich die Merkur-Druck-Leute, bilden eine geschlossene Reihe über die ganze Straßenbreite, ein Fotofinish, bestimmt sehr schön anzusehen, nur, dass ich nicht vorbeikomme. So kann Heiko noch rechts an ihnen vorbeischlüpfen. Ihm sei´s gegönnt.

Wir treffen uns an der Medallienausgabe wieder. Glücklich.

Die Neuseen Classics sind eines der schönsten Rennen bisher, resümmieren wir: Eine wundervolle Strecke, durch die Neuseen-Landschaft, die Rampen und Steigungen, vorbei am idyllischen Schloss Colditz, einfach perfekt!

Wir warten auf die anderen beiden. Bei einer Bratwurst und alkfreien eiskalten Getränken machen wir es uns bequem. Salz steht krustig auf unseren Gesichtern, Massen an Helden ziehen an uns vorbei.

Heiko meint, Flow vor uns gesehen zu haben. Umso wunderlicher, dass er nicht ans Telefon geht. Laut Heiko hat sich das Peloton, der Startblock A, bei der ersten Autobahnüberführung, auseinander gezogen. Und ich erinnere mich: Es gab diese Bremsorgie, ja, klar, im Anstieg ganz am Anfang, als wir uns lautstark aufgeregt hatten, warum es nicht weiter gehe: Hier haben die Bremsenden vorne dafür gesorgt, dass sich die andere Hälfte absetzen konnte.

Und laut Heiko war Flow in eben jener ersten Hälfte.

Swantje trifft ein. Überglücklich, Adrenalin und Endorfine scheinen ihr nur so aus den Ohren zu quellen: "Ich habe es geschafft!", flötet sie fröhlich. Beim Frühstück hatte sie uns nämlich enthusiastisch von ihrer Idee erzählt, ihrem Körper mittels Power-Gels 60 Gramm Kohlenhydrate zuführen zu wollen. Pro Stunde.

Pro Gel-Tütchen werden 20 Gramm konsumiert: Sie müsste also 3 Tütchen pro Stunde essen. Ekel erregend für uns andere, aber sie hat ihr Experiment wohl durchgezogen.

"6 Gels!", trötet sie über den Bratwurststand.

Und niemand wundert sich, dass sie keine der leckeren Würste ordert. (Abgesehen davon, dass sie Vegetarierin ist).

Irgendwann trifft auch Flow ein. Stinksauer.

"5 Kilometer nach dem Start, kurz hinter dem ersten Anstieg, hatte ich einen Platten!" flucht er und schmeißt die Radhandschuhe in die Ecke. Wer kanns ihm verübeln? All seine Ambitionen durch eine erzwungene Pause zerstört: Nachdem er seinen neuen Schlauch drauf hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als im sehr viel langsameren C-Block zu versuchen, das beste herauszuholen. Was natürlich nicht geht. Bierbauchfraktion. Kuchenblock.

Und trotzdem, wir können zufrieden sein: Der erste Einsatz für die neue Equipe SunClass war mehr als ein Erfolg. Mehrmals werden wir auf unsere schicken neuen Trikots angesprochen, und wenn wir Verträge mit gehabt hätten, hätten wir für unseren Sponsor sicher die eine oder andere Solar-Anlage verkaufen können.

Leipzig Neuseen Classics? Ein feines, kleines, familiäres, ganz großes, super spannendes, tolles, extrem schnelles Superrennen und mithin der Tipp für alle Jedermänner, die noch was Schickes für 2012 suchen - Ab nach Leipzig, es lohnt sich!


Gefahren: 132,07 km in 3:32 h und einem Schnitt von 37,8 km/h

Den Garmin Track gibts hier.


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10. Juni 2011

Auf der Velothon Rennrad-Messe ...

Ach, das habe ich ganz vergessen, Euch zu zeigen.

Als ich vor 3 Wochen beim Velothon in Berlin war, habe ich es mir natürlich auch auf der Messe gut gehen lassen. Allerdings bot diese wenig Spannendes - abgesehen von einem virtuellen Bergsprint, den man auf neuen Tacx-Modellen zur Belustigung der Zuschauer absolvieren konnte und den bekannten Rabatt-Verkäufen der großen Nahrungsergänzungsmittel-Marken.

Und das hier, das AX-Lightness. Angeblich mit 500 Gramm der leichteste Rennrad-Rahmen aus Serienfertigung.

Allerdings ist dieser beim Tour-Test glatt durchgefallen - die Steifigkeitswerte bewegten sich allesamt unter den als sicher geforderten Mindestwerten, obwohl die Tour nicht müde wird zu betonen, dass es das AX auch auf Wunsch sehr viel steifer geben würde.

Die Laminierung - vor allem im Tretlagerbereich - sah interessant aus, das muss ich zugeben. Allerdings, mich würde die gewöhnungsbedürftige Optik nicht wirklich abschrecken. Aber steif? Ich bitte Euch, Jungs - steif MUSS er sein!

Wunderschön dagegen auch die Maßrahmen, die Pasculli am Start hatte. Hochmoderne Carbonrahmen - auf Wunsch nach den eigenen Abmessungen und Anforderungen hergestellt - im Retro-Look. Das finde ich Klasse!

Wenn es dann noch Trikots im Woll-Look aber mit dem Komfort moderner Funktionsmaterialien geben würde, wäre das echt mal eine Überlegung wert.

Bei diesem Design könnte man glatt sogar unter den gestrengen Augen der Renn-Komissare, die bei der Strade Bianche-Jedermannausgabe auf das regelgetreue Alter der Renner achten sollen, hinwegrollen.

Schick.

Leider war am Cervélo-Stand kein S3 am Start - das hätte ich gern mal mit zünftigen Zipps Probe gefahren. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.


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5. Juni 2011

Die Luftschlacht von Nortorf

Es ist einer jener Tage, die dir für immer im Gedächtnis bleiben werden. Die sich einbrennen, die bleiben. Unauslöschlich. Und doch dabei seltsam verklärt, verwirrend unscharf - fast wie auf alten Fotos des Großvaters, die von damals künden, von großen Tagen, von großen Taten.

Es ist die RTF "Rund am Mittelpunkt", die mich schon auf der Rückfahrt nachdenklich stimmt. Warum nur? Was macht sie so anders. Was macht diese RTF so einzigartig? Zu einem Ereignis in Sepia? Zu einer Erinnerung mit Großvater-Style?

Weil diese RTF in Nortorf eine Schlacht war. Episch. Herrlich. Homerisch.

Schlacht.
Wind.
Gegenwind.

Die Luftschlacht von Nortorf.

Wie es mit Erinnerungen so ist, sie verblassen. Und sie verblassen umso mehr, je mehr Schmerz mit ihnen verbunden ist. An diesem Sonntag, als Heiko, Swantje, Tati und zwei Bekannte uns einfanden, um dem Mittelpunkt Schleswig Holsteins zu fröhnen, war es der Schmerz, den ein mit gleichbleibend unerbittlicher Härte wehender Sturmwind verursacht.

Ein Schmerz, der dir die Beine absterben lässt. Dir den Rücken bricht. Der dich beinahe aufgeben lässt.

Schmerz, der den Fahrern Kräfte abverlangte - unmenschliche Kräfte, das Normale übersteigend, wer schnell sein wollte, musste treten, wer schneller sein wollte, müsste permanent sprinten.

Ein Tag der Unmöglichkeiten.

Sehr spät - um nicht zu sagen als letzte - gestartet, hat unser kleines 5-Mann-Gruppetto keine Chance mehr, an die anderen Teilnehmer anzuschließen. 10:20 Uhr rollen wir los - das Peloton ist da schon seit eineinhalb Stunden auf dem Kurs.

Von Anfang an setzen sich Heiko und ich an die Spitze, schon die ersten hundert Meter lassen, ohne dass wir es wollten, große Abstände zwischen uns beiden und den anderen entstehen. Immer wieder müssen wir warten und so ist es Swantje, die irgendwann vorschlägt, dass wir uns einfach trennen.

Zu zweit gegen den Wind? Ein Fluchtduo?

"Besser, als mit 27 km/h durch die Heide zu kurbeln!", sagen wir uns und geben Gas.

Nun, Gas geben ist ein sehr relativer Begriff, denn der Wind verhindert Geschwindigkeiten über 35 km/h. Langsam aber sicher ziehen wir den Vieren davon, fahren neben einander her und plaudern (noch) gemütlich über dies und das.

Noch ist es auch eher ein nerviger Seitenwind, der dann und wann hart-böig an unseren Rennrädern zieht, doch die fast waagerecht durch den Wind kurz vor dem Einknicken wabernden Gräser am Straßenrand, die um Milde betenden Baumkronen, die gefährlich schräg im Blau des Himmels über uns hängen und nicht zuletzt das stetige korrigieren müssen unserer Fahrlinie lässt nichts Gutes erahnen, denn wir wissen: Irgendwann wird auch uns der Kurs in den Wind drehen.

Das erste Depot erreichen wir überraschend schnell nach knapp 40 Kilometern. Auf dem Pausenhof einer Schule haben sie ein reichhaltiges Büffet mit Wurst-, Käse- und Nutella-Broten, mit Obst und Gemüse, Bananen und Gummitieren aufgebaut.

Hier laben sich denn dann auch ein, zweihundert Rennradfahrer - da wir wissen, dass man hier zweimal vorbei kommt, haben wir aber keine Hoffnung, hier Mitfahrer für das nächste Stück zu finden. Windschatten? Gibt es hier nicht.

Ich genieße eine Doppelstulle Salami, proste mit einem eiskalten Energy-Drink meinem Cervélo zu, das hier heute den 7.000sten Kilometer absolviert hat und stehe in der Sonne: Geblendet besehe ich mir die, die nach der nächsten Schleife eintrudeln.

Fluche und Schimpfe allenthalben. "Sauzucht" und "Scheißwind" wird in Ächzen und Stöhnen beim Absteigen ausgekotzt, sie sehen verschwitzt und zerzaust aus - die Strecke richtet die Fahrer zu, nicht umgekehrt.

Helm ab zum Gebet, denke ich mir.

Mich mag das alles - noch - nicht sehr erschrecken. Erst Ostern habe ich eine 700 Kilometer lange Schleife durch Dänemark gezogen. Und dies bei konstantem Gegenwind. Er folgte mir auf meinem Kurs und erwischte mich, egal ob ich nach Norden, nach Westen oder wieder nach Süden fuhr, immer genau von vorn.

Was sind 700 Kilometer gegen 150 heute? Nichts!
Nichts?

Renntempo!

Immer mehr drängeln sich nun an den Campingtischen, die beiden Muttis bei der Flaschen-Auffüllung kommen kaum hinterher.

Alle freuen sich über die Scheiben Grüne Gurke, die da einsam auf einem Haufen liegen. Ehec-Witze machen die Runde, kaum einer isst davon.
Aus Solidarität nehme ich mir eine Handvoll. Blutiger Durchfall in Lycra? Gab es wohl auch noch nicht.

Mir fällt auf, dass hier heute sehr viele eher betagtere Leute unterwegs sind - auch viele jugendliche Nachwuchsfahrer haben die Startnummer der Radsportgruppe Nortorf auf ihrem Trikot.

Oder ist das immer so, wenn man am Schluss startet? Klingt ja logisch - die Jungen, die Schnellen sind wahrscheinlich schon längst weg.

4 Minuten hinter uns kommen dann auch Swantje und die anderen an. Vier Minuten herausgefahren - und dabei haben wir noch nicht einmal Gas gegeben. Na, verzeihe ich meiner Teamkollegin: Immerhin ist sie noch am Donnerstag eine 158er RTF gefahren. Da kann man es mal langsam angehen lassen.

Wenig später, keine 5 Minuten, machen Heiko und ich Pause, sind wir wieder unterwegs.

Es geht zunächst nach Norden - Seitenwind - und auch merklich ab und zu bergan. Am Ende des Tages wird mein Garmin 775 Höhenmeter anzeigen: Für das angeblich so flache Schleswig Holstein nicht schlecht.

Wir fahren auf absolut ruhigen, idyllisch zwischen Feldern und ab und zu auch kühlen Wäldern gelegenen Sträßchen von lobenswerter Asphalt-Güte. Weites, grünes Land mit satten Feldern, duftende Wäldchen mit frisch-feuchtem Odem der Natur, dann und wann auf den Graten der Hügel, die wir erstreiten, ein Blick in die Ferne. Ist das der Nord-Ostsee-Kanal?

Nach einigen Kilometern geht es auf Westkurs. Rückenwind. Schneller, schneller! Wir konsumieren die Kilometer, kassieren Abgehängte und wechseln uns im Rausch der km/h ab - fast ungesehen fliegt ein Stakkato aller möglichen Grüntöne an uns vorbei, wir rasieren die Kurven und Schweißperlen treibt der Wind, der uns um die Stirn knallt, augenblicklich nach hinten.

So merken wir nicht, dass wir hier gerade Luxus erleben. Bei Seefeld kommt die Wende. Wir halsen die Rennräder. Drehen auf Süd. Dann auf Ost. Die Digits stürzen ab. Aus 35 werden 25.
25 verwelken zur 20.

Es beginnt, weh zu tun.

Wir kauern uns über die Lenker. Im Paarflug geht es als Rennrad-Rotte durch die grüne Hölle. Hart treten wir rein, vielleicht neben dem späten Start die zweite Fehlentscheidung des Tages.

Stoisch versuche ich die Härte zu ignorieren. Immer wieder blicke ich nach links zu Heiko. Vergleiche seinen Tritt mit meinem - wenigstens zwei Gänge mehr hat er aufgelegt. Entsprechend hektisch sieht mein Gekurbele aus.

Bergauf wird immer deutlicher, dass ich heute einen nicht so guten, Heiko dafür einen umso besseren Tag zu haben scheint: Ich glaube zu erinnern, dass er nicht ein mal vom dicken Blatt auf das kleine wechselt. Wie eine Lokomotive treibt er sich die Rampen hinan - wo ich mich abfallend hinten auf großen Ritzeln mit dem Gradienten prügele.

Irgendwann verkrieche ich mich in seinen Windschatten. Es kommt mir wie Aufgeben vor. Schäbig - zu zweit unterwegs, und dann im Windschatten.

Doch ich will keinen Eindruck erwecken, zu lutschen. Fast beschämt in seinem Rücken drücke ich mir die Gelpacks in die Speiseröhre, hole Luft und ziehe neben ihn. Den Anschein wahren - Zähne zusammenbeißen und durch - bald sollte doch wieder eine Pause kommen. Sollte sie? Sollte sie!

"Die Gruppe da scheint gar nicht so langsam zu sein!", sagt er auf einmal. Und zieht an.
Vor uns - am Horizont, wie ich meine - sehen wir eine Gruppe bunter Rennradler. 10 sollten es sein, die kritische Masse für genug Windschatten und genügend hohen Speed.

Wir starten eine Aufholjagd. Sonderbar elektrisiert drehe auch ich auf, scheiß auf den Wind!, denke ich mir und wechsle mich mit Heiko ab. Ich vorn, ziehen, treten, machen - heißer Atem brennt die Lungen aus, Beine brennen, Kurven dampfen. Zurückfallen - Heiko führt. Anziehen! Dranbleiben!

Kurve um Kurve tasten wir und ran. Auch Steigungen und Bergkuppen ignorieren wir. 4, 5 Kilometer geht das so. "Das Loch zufahren" nennen sie es - bei mir brennt es eher Löcher hinein. Irgendwann gibt uns ein kantiger Krankenwagen Windschatten, die letzten 500 Meter überbrücken wir locker kurbelnd, bedanken uns bei den Johannitern, den Engeln in Neonrot, überholen sie und sind endlich dran.

Ich rolle aus. Atmen. Ruhig. Wir sind in der Gruppe.

Sie haben rote Rückennummern - die "Marathonis". Seit früh um 7 auf dem Kurs unterwegs absolvieren sie im Rahmen des Nord Cups hier den Marathon über 250 Kilometer. Harte Jungs, gegerbte Haut. Stahlrahmen fast allesamt. Bärte und Retro-Trikots. Ü 50, was das Alter der Fahrer angeht.

Entsprechend der Speed. Keine schnelle Gruppe also, für die wir uns so aufgerieben haben: 28 km/h steht auf dem Tacho. Nicht übermäßig schneller, als vorher. Dafür im Windschatten. Hier bleiben wir erstmal, beschließe ich - selbst wenn Heiko es plante, mitgehen würde ich beim Überholen jetzt nicht. Können.

Wir folgen den Marathon-Fahrern für eine Weile, halten uns in der Mitte der Gruppe. Vorne wechseln sie sich ab. Irgendwann, das Gesetz des Pelotons, kommen auch wir dran. Heiko vor mir. Sobald der Alte aus dem Wind ist, zieht das Tempo an. 31 steht da jetzt. Ich blicke mich immer wieder um: Sie hängen noch dran!

So windet sich unser Lindwurm durch die Felder. Ich glaube, die da hinten - abgekämpft wie sie sind - sind ganz froh, dass es etwas schneller voran geht. Seit 7 Uhr am Start? Da würde ich jetzt auch eher im 20er-Bereich fahren!
Ich führe. 31, 30 halte ich. Eine Kreuzung. Rot. Kurz anhalten. Dann fahren wir an. Heiko hinter mir. 25, 27 ... dann wieder 30 km/h. Ich ziehe. Ein Dorf kommt. 32 km/h. Ich blicke mich um. Niemand mehr da. Wir haben die Gruppe verlassen. Zu schnell für die Marathonis.

Wenig später - der gegnerische Ansturm heißer Luftmassen hat uns ganz mürbe gemacht - erreichen wir abgekämpft das zweite Depot bei Loop. Und tatsächlich - einen Looping könnte ich auch machen!

Kaltes Wasser, Wurtstullen, Bananen! Ich greife in die Vollen. Vorher wische ich mir die grünen Flecken vom Knie, ein Vogel hatte mich vor 15 Kilometern angekackt. Na, wenn das kein Omen ist ...

5 Minuten nach uns kommen die Marathonis an. Man kennt sich, sie kamen hier heute schon öfter vorbei. Sie steigen ab. Dürre Gestelle in schlacksiger Lycra. Weiße Bärte pellen sich aus alten Helmen, einer gar ist in Sandalen unterwegs. Eine ganz andere Kultur, dieses Marathonfahren.

Die Nortorfer geben sich Mühe. Vorbildlich die Beschilderung. Fast heimelich die Betreuung durch die vielen - meist weiblichen - Betreuer in den Depots. "Wie bei Muttern" wird hier noch großgeschrieben.

Heiko hat den Helm schon wieder umgeschnallt, als ich von der Toilette komme - er drängt zum Aufbruch. Wir haben die letzte Schleife vor uns - die Sonne steht im Zenit, alle schwitzen und schmelzen sie hier dahin, der Parkplatz mit all den Radfahrern sieht aus wie die Absturzstelle eines Flugzeuges, Überlebende in Zeitlupe, Gestrandete nach dem Sturm.

Im Land der tretenden Untoten.

Wir brechen auf.

Was folgt, ist pure Einsamkeit.
Ist nichts als Schmerz.

Heiko zieht mir ständig davon. Ich merke, wie er rausnehmen muss, um mich nicht abzuhängen. Zähne zusammenbeißen hilft nichts mehr. Bei Kilometer 110 verlassen mich die Kräfte. Ich ziehe zwei Iso-Gels auf einmal. Ihre Wirkung wird eher psychologisch sein.

Es geht gen Osten - dem Wind entgegen. Es hilft nichts außer die Gewissheit, dass uns auch diese Schleife irgendwann wieder aus dem Wind nehmen wird. Aber bis dahin blute ich Schweiß wie ein abgestochenes Schwein. Geschächteter Muskelarbeiter, ich verliere Salz wie ein Streuer über dem Teller.

Heiko tritt stoisch ins dicke Blatt. Kaum aus der Ruhe zu bringen. Ich versuche mit ihm zu Plaudern - nur nicht zugeben, dass ich eigentlich schon platt bin!

Dann endlich. Wir der Frühling nach einem harten Winter. Wie, als gehe nach Stunden bitterkalter Nacht endlich wärmend die Sonne auf - Bisssee erreicht, eine Kurve, nicht irgendeine, es wird DIE Kurve des Trips - die Kurve nämlich, die uns erlöst. Jesus-Kurve. 90 Grad, die uns aus dem Wind nehmen.

Wir biegen uns endlich wieder mit den Halmen. Neue Kraft fließt in meine Waden. Endlich wieder schneller als 25. Endlich wieder rollen lassen können, ohne sofort herunter gebremst zu werden. Wir fliegen. 35, 40 km/h. Wir sausen durch die Heide. Ich grinse, ich stoße ein Gebet des Dankes in den Himmel.

Fliegen. Wir fliegen sogar die Steigungen hinauf.

Oben holen wir eine Gruppe ein. Radmarathonis, auch sie den wirren Blick von geretteten Elenden. Schlaffe Kurbelumdrehungen. Salz in den Armbeugen, ich lecke es dann und wann von mit Sonnenmilchgeschmack ab.

Sie zwinkern in die Sonne, können kaum ihr Glück glauben - Wahnsinn, sie sind hier schon 220 Kilometer unterwegs!

Sie fahren unordentlich, fast liederlich. Geordnete Schlachtordnung geht heute nicht mehr. An disziplinierte Zweierreihe ist nicht zu denken. Zu ausgelassen feixen die Marathonis, das Ziel nahe wähnend. Einer gar fährt einhändig auf der Gegenfahrbahn und redet wirres Zeug.

Von hinten ruft ein Anderer: "Mensch pass doch auf! Idiot!" Klar, auf Erste Hilfe wegen einem Geisterradfahrer hätte ich so kurz vor dem Ziel auch keinen Bock.

Als der lebensmüde Geisterfahrer in unsere Gruppe ruft: "Aber eines ist klar - die Grundlagenausdauer kann dir keiner nehmen!" entscheiden wir uns, diese Gruppe zu verlassen. Wir treten rein, Heiko und ich geben Gas und in wenigen Minuten sind wir außer Sichtweite.

Die letzten Kilometer führen uns noch ein ums andere Mal in den Wind. Steigungen haben sie auch noch eingebaut. Für die letzte Schleife haben die Nortorfer Organisationen noch einmal ein paar Schmankerl für uns bereit.

Es gibt einige Rampen zu erklimmen ("Sag mal, habt ihr den Arsch offen?!?"), wir fahren auf manchem unberührten Asphalt-Feldweg, auf dem sich wunderbare Ein- und Ausblicke in unsere schöne Heimat ergeben, eine Passage durch einen "grünen Tunnel" - vollkommen umwachsen von Pflanzen, fast, als haben sie durch den dichten Jungel eine Tunnelbohrmaschine geschickt.

Ich zähle die letzten Meter. Wie lange kann das noch gehen? Was? Noch 5 Kilometer? Spinnt ihr?

Selbst Heiko flucht nun ab und zu. Unser Schnitt fällt, lustlos treten wir in die Pedale. Das letzte Dorf vor Nortorf nehme ich wie im Koma wahr, taub ist mein Nacken, meine Handballen schmerzen, die Beine fühle ich kaum noch. Mir ist heiß, Schweiß steht in meinem Helm. Es ist eine Qual.

"Wenn das da nicht der Kirchturm von Nortorf ist - STEIGE ICH AB!", schwöre ich mir. Und siehe da, das Ortseingangsschild verspricht Erlösung. Noch einmal mobilisieren wir alle Kräfte, eine Kurve, eine zweite Kurve und dann, das Garmin piept zur letzten Kurve, ich biege ein auf den Schulhof. Grillgeruch liegt in der Luft. Ausklinken. Absteigen. Das wars.

150 Kilometer. Und zwei Bonus-Kilometer. Ich kann nicht mehr!

Swantje sieht uns und jubelt: "Hey-ho! Willkommen!"
Sie hat es sich mit Ian und Tati im Gras bequem gemacht. Spontan habe man sich entschlossen, "nur" die 110er-Runde zu fahren. Und ich kann es voll und ganz verstehen.

Als ich die Mavic Rennradschuhe ausziehe, dampfen meine Füße.
Als ich den Helm abnehme, schwappt Schweiß aus der Schale.
Als ich Heiko anblicke, kocht Stolz in uns hoch.

Wir haben sie gewonnen, die Luftschlacht von Nortorf. Wir haben dem Element getrotzt, haben Kubikmeter Sturm gefressen, haben gelitten und geflucht - und es geschafft!

Eine großartige RTF war das - großes Lob nach Nortorf, Ihr habt eine wundervolle Strecke herausgesucht, abwechslungsreich, profiliert, sehr selektiv - die Straßenwahl war vorbildlich, keine B-Straßen, sehr sehr tolle Landstraßen, eine vorbildliche Beschilderung und die Depots wie am Schnürchen.

Hut ab!

Nächstes Jahr ... sind wir wieder dabei. Vielleicht.



Gefahren: 152,21 km in 5 Stunden Netto mit 30,4 km/h Schnitt


Den Garmin-Track gibts hier



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