Nun geht es ja Schlag auf Schlag: Konnte ich vor 3 Wochen noch den großen Test der "besten Rennräder 2012" in der Roadbike kritisch beleuchten, flattert am Wochenende die neueste Ausgabe der Tour in meinen Briefkasten.
Lang ersehnt, denn in dieser Edition lassen sie das McLaren S-Works Venge gegen Scott Foil, Litespeed Archon C1R, Centurion Megadrive und Felt A1 antreten. Und das Cervélo S5 mischt natürlich auch mit. Spannend!
Um das Tour-Ergebnis vorweg zu nehmen: Das Foil hätte nach Tour-Meinung gewonnen, wenn der Rahmen etwas stabiler gewesen wäre.
Den Aerotest allein gewinnen das Cervélo S5 und das McLaren S-Works Venge.
Soweit, so gut.
Zu den Laborergebnissen und denen des Windtunnelstests kann ich nichts sagen: Das wird dann wohl alles so stimmen. Interessant ist hier allerdings schon mal, dass beim Aero-Test das Scott Foil nur auf dem vierten Rang landet. Und trotzdem gewinnt.
Das wäre wie bei einer Mathematik-Klausur keine einzige Lösung richtig zu haben, aber trotzdem eine Eins zu bekommen, weil man ein so schönes Schriftbild hat.
Als ich mir dann die Skala genauer ansehe, um zu gucken, zu welchen Anteilen die Einzelnoten in die Gesamtbenotung einfließen, kommt dann doch der kleine Statistiker in mir hoch.
Tour vergibt für die einzelnen Tests Noten, die dann zu einem bestimmten Prozentsatz in die Gesamtnote laufen. Das wären zum dann 20 % für das Rahmengewicht, je 12 % Seitensteifigkeit und Fahrtstabilität, Kraftübertragung und Komfort zu je 8 % und dann bekommen Lack und Finish jeweils 4 %, Bedienungsanleitung und Garantie je 2 %.
Und irgendwie kommt mir diese prozentuale Verteilung reichlich spanisch vor - warum? Nun, weil sie, meiner Meinung nach, nicht aus dem Blickwinkel des Kunden geschrieben ist.
Was interessiert den Radkäufer?
Erinnere ich mich daran, wie ich damals in den Laden gegangen und mir mein Cervélo R3 ausgesucht habe - und versuche, das mal empirisch nachzuempfinden.
Ein Kunde, der sich ein Aero-Bike kaufen will, interessiert vor allem ... Aero. Finde ich irgendwie logisch. Sollte diesem Kriterium dann nicht auch der größte Platz eingeräumt werden?
Dass Aero-Bikes etwas schwerer und etwas weniger steif sind als Rundprofil- oder klassische Rennräder, wird dem geneigten Interessenten klar sein (auf diese Fakten wird man ja allenthalten hingewiesen) und deshalb sollten die klassischen Werte nicht höher bewertet werden, als der Aero-Faktor.
Ich beschließe, mir meine eigene Test-Torte zu backen, diese mit den Tour-Ergebnissen zu befüllen und zu sehen, was dann heraus kommt.
Komische Werte
Die Aero-Performance wird bei der Tour mit 20 % in die Gesamtnote eingerechnet. Tour sagt, das sei ein "realistischer Wert". Auf ganze 80 % der Gesamtnote summieren sich die technischen Eigenschaften wie Fahrstabilität, Komfort usw.. das Verhältnis von Technik zu Aero ist bei der Tour also 1:4 - und das ist realistisch?
In meiner Torte, und immerhin wollen wir Aero-Rennräder testen, soll Aero nun dem ihm gebührenden Platz bekommen. Ich werde das Verhältnis auf ein, wie ich finde, angemessenes Verhältnis von 1:1 bringen.
Hey - die Kunden investieren Kleinwagenbudgets in diese Rennmaschinen und Ihr sagt ihnen, dass der Top-Kaufgrund nur zu 20 % wichtig sei? Oder anders herum: Dass die klassischen Werte des Rennrades 4 mal wichtiger seien, als die aerodynamischen?
Technisch gesehen mag das ja stimmen (oder auch nicht), aber aus Käufersicht sehe ich das anders.
Ein weiterer Punkt: Moment mal, denke ich, und schaue genauer hin - "Lack" und "Finish" insgesamt 8 %? Kann man bei Rennrädern in dieser Preisklasse nicht davon ausgehen, dass hier Lack und Finish 100%ig sauber sind?
Wenn ein 15.000 € teures Bike hier Fehler aufweist, ist das keine 4% wert - das ist ein Ausschlusskriterium! Kein Radkäufer wird sagen "Oh, ja, Mist, der Lack ist echt Scheiße, so mit Blasen und Nasen, aber hey, egal ... Hauptsache steif und schnell.".
Nope. Der 15.000-€-Kunde würde sagen: "Was? Bläschen im Lack? Nasen? Tschüs!"
Traue keiner Statistik, bei der du nicht selbst ...
Schauen wir mal weiter. Einen Punkt, den man aufgrund seiner kleinen 2 leicht übersieht, wäre die Garantie.
Sicher, auch eine Garantie hat nichts mit der Performance eines Rades zu tun, schon gar nicht mit der Aero-Performance, aber sie in meinen Augen ist eines der wichtigsten Argumente für oder gegen den Kauf eines bestimmten Produktes.
Wenn ein Hersteller weniger als 3 Jahre auf ein Rahmenset gibt, dessen Preis sich nahe an der 9.000 €-Marke bewegt, dann finde ich das gelinde gesagt skandalös! Zurecht bekommt das Specialized hier eine glatte 5. Aber die geht eben nur zu 2% in die Gesamtnote ein.
Habt Ihr mal die Stürze bei einem Jedermann-Rennen gezählt? Ich habe 2011 nicht ein einziges beendet, ohne dabei an Verunfallten vorbeigekommen zu sein. Stürze gehören nunmal leider zum Radrennsport dazu. Und dann kein Crash-Replacement? Das wird teuer. Ein solches Rad kann dann aerodynamisch sein, wie es will, es kann mit Steifigkeiten glänzen, wie es möchte: Ich würde es mir nie kaufen.
Wenn mir ein Hersteller in dieser Leistungs- und vor allem Preisklasse nicht mindestens eine Limited Lifetime Warranty und einen vernünftigen Crash-Rabatt bietet, spricht das meines Erachtens sehr viel stärker gegen einen Kauf, als eine 2,2 gegenüber einer 2,4 beim Rahmenkomfort im Tour-Test.
Wir sind keine Profifahrer, die nach einem Sturz einfach ein neues Rad bekommen. Einem Alberto Contador dürfte die Garantieleistung von Specialized vielleicht auch nur 2 % wert sein. Uns Normalofahrern, uns Kunden, aber nicht.
Ich möchte die Sicherheit haben, dass wenn etwas passiert, ich vom Hersteller nicht im Stich gelassen werde. And guess what? Die Einzigen, die die Bestnote 1 für Garantieleistungen bekommen, sind die Kanadier von Cervélo.
Komisch, dass so ein - für den Radkäufer essenzieller Wert - ganz klein und ganz hinten in der Tabelle auftaucht und nicht mit einem Wort in den Tour-Tests erwähnt wird ...
Meine eigene Torte
Ich mache mich daran und ordne die Tour-Werte mal ganz neu. Ich bin kein Profi-Tester und auch kein Statistiker, aber ich denke, ich habe ein wenig Erfahrung auf dem Gebiet des Marketings und der Bewertung von Kaufanreizen und Kunden-Bedürfnissen (gerade durch meinen Job in der Werbung) - und wenn man davon ausgeht, dass die Tour mit diesem Test den aerointeressierten Kunden Kauftipps geben möchte, finde ich, müsste die prozentuale Verteilung der Testnoten meiner Meinung nach so aussehen - so jedenfalls, würde ich entscheiden, wenn ein Radkauf anstünde:
Aero ist das wichtigste Argument. Ebenso wichtig - aber keinessfalls 4 mal so hoch bewertet - sind die klassischen Werte. Die Kaufentscheidung wird dann abgesichert durch eine gute Garantie, die zu einem sehr viel höheren Prozentsatz einfließt - in meinem Rennradladen, wäre das die Beratung.
Last but not ...
Aha. Oho. Sie an. Das Testergebnis sieht dann schon leicht verändert aus ... interessant ist auch, welche Räder im Tour-Aerotest super abgeschnitten haben und welche nicht - und wie diese durch die Testgewichtung im Gesamttest gewonnen oder verloren haben.
Natürlich anders herum genauso: Welche Räder beim Zugrundelegen meiner Bewertungskriterien gewonnen und verloren haben. Für mich spiegelt dieses Ergebnis besser die Priorisierung und Bewertung der Testergebnisse wider, denn sie ist aus der Sicht des kaufinteressierten Kunden geschaffen, der eine Kaufberatung braucht.
Wie auch immer, am Ende bleibt die verwirrende Einsicht, dass ein noch so toller Windkanaltest, auch wenn man mit allen Nachkommastellen rechnet, noch lange nicht bedeutet, dass die Ergebnisse interpretationsfrei dastehen.
Was man nun von meiner Bewertung oder der Tour-Torte hält - die Ergebnisse dokumentieren, dass schon eine kleine Veränderung des Blickwinkels ein solches Testergebnis komplett umstellen kann.
Und da ist noch Luft nach oben - so etwas wie "Preis-Leistung" könnte man ja auch mit einfließen lassen. Nur dann sähe die Rangliste wieder komplett anders aus. Wetten?
*seufz - Glück gehabt ...
Am Ende jedenfalls bin ich froh, dass das Cervélo meinen eigenen Test mit den Tour-Werten gewonnen hat. Wie peinlich wäre das denn gewesen wenn ...
Undenkbar. Mmh. Aber ... denke ich mir so ... Dann hätte ich ja noch ... einen Wert wie "cooles Marken-Image" einarbeiten können. Dann hätte es schon wieder gepasst. :o)
Lasst Ihr Euch von Tests in Radsportmagazinen beeinflussen? Wie genau schaut Ihr Euch Tests an. Kommentiert und diskutiert mit.
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