16. Dezember 2014

Von Transcontinental Race bis Ötztaler Radmarathon - Müde Beine & Rennrad? Die Top 10-Ermüdungserscheinungen bei Radsportlern.

Jeder von Euch kennt die Symptome: Nachts wach liegen, nicht einschlafen können. Oder das Herzrasen am Vorstart, die Trance im Anstieg - doch was genau passiert da im Körper des Radsportlers? Was sind die Ursachen für müde Beine auf dem Rennrad oder die plötzlichen Energiereserven am Ende eines Radmarathons? 

Ob bei harten Radmarathons für Jedermänner wie Ötztaler Radmarathon und Alpenbrevet oder auch beim Ultra-Langstreckenrennen wie dem Transcontinental Race: Ich habe meine Top 10 der Rennrad-Symptome zusammen gestellt und freue mich, dass Langstrecken-Rennradler Matthias Müller (auch bekannt als @bemme51 auf twitter) seine Erfahrungen beim Transcon 2014 mit uns teilt sowie Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln meine Fragen mit seiner sportwissenschaftlichen Kompetenz, seinen umfangreichen Erfahrungen als leidenschaftlicher Radsportler und als Autor einiger Fachwerke zu Rennrad-Trainingsmethoden beantwortet.



Schlaflosigkeit vor dem Radrennen - Warum kann man nie ruhig schlafen?


Die Nacht vor dem Rennen: Ich liege wach. Kann nicht einpennen. Egal, was ich mir vorstelle, welche Traumgeschichte ich anfange: Ich komme einfach nicht weg aus dem Hier und Jetzt. Es hilft nichts. Schweißig werfe ich mich ruhelos von links nach rechts. Es knarzt das Bett. Geräusche tausendfach lauter als sonst. Ich bin genervt. Warum wird das denn nichts?!? Aufgeregt. Morgen ist Start. Morgen? Nicht viel eher schon heute? Verdammt! Schon so früh? Ich muss aber wenigstens ein paar Stunden schlafen ... warum nur kann ich vor großen Rennen oder Events kaum einschlafen? Und, geht Euch das auch so?






Matthias Müller aka bemme51 vor dem Start zum 
Transcontinental Race 2014 in London. Aufgeregt? 

Matthias Müller, Finisher des Transcontinental Race 2014: "Ich habe zu wenig große Events hinter mir, als dass ich dir da eine genaue Antwort geben kann. Beim Transcontinental Race und auch einigen anderen Vorhaben, die ich hatte, habe ich meist weniger die Nacht vor dem Rennen selbst, als vielmehr die Nächte einige Tage vorher als sehr anstrengend empfunden. Ich denke, bei mir war das so, dass mir in diesen letzten Tagen dann ganz bewusst geworden ist, dass es nun ernst wird, die Vorbereitungszeit abgeschlossen ist - und es gab gar keinen Platz für Zweifel oder gar Angst, die hätten zu Schlaflosigkeit führen können."


Dr. Achim Schmidt von der Deutschen Sporthochschule Köln dazu: "Diese Schlaflosigkeit, die Rastlosigkeit ist völlig normal. Es liegt daran, dass wir im Prinzip zwei Nervensysteme in unseren Körpern haben: Den Sympathikus und den Parasympathikus. Ersterer ist es, der uns wach hält. Denn als Säugetiere, als Fluchttiere, die wir im Prinzip ja sind, ist es die bevorstehende Anstrengung, diese Prüfung, die durch unser Gehirn provoziert den Sympatikus auf den Plan ruft. Der schüttet dann einen ganzen Cocktail an Hormonen aus: Adrenalin vor allem, aber auch Cortisol. Das hält uns wach - Fluchttiere! - und bereit zum Sprung."



Dr. Achim Schmidt der Deutschen Sporthochschule Köln ist selbst leidenschaftlicher
Radsportler - Danke für das Interview.

Doch wie kann man dem begegnen? Ich frage mich das ständig, denn wenn ich zum Beispiel mit meinem Teamkollegen Heiko unterwegs bin, schnarcht der meist nach 10 Minuten fröhlich sägend neben mir herum, bei mir feuert der Sympathikus eine Hormonwelle nach der anderen. Was machen Heiko und Matthias denn dann besser?

Matthias: "Vor dem TransCon war ich kaum aufgeregt, weil ich schon ein paar Tage vorher in den Race-Modus gewechselt bin. Also ganze Tage Radfahren, das viele Futtern durchexerzieren und wenig schlafen. Ich dachte mir, dass mir das den Übergang in den Tagesrhythmus des Rennens erleichtern würde - was es auch definitiv tat. Der Nebeneffekt war, dass ich dann am Abend vor dem Start natürlich sehr müde war, mir extra ein paar Stunden Schlaf zubilligte und dann wie ein Baby einschlafen konnte. Ich denke aber, dass es ganz viel mit dem Kopf zu tun hat: Wenn ich etwas Neues starte, irgendwas vor habe, was ich noch nicht kenne oder mir unsicher bin, dann denke ich viel darauf herum - kann also nicht schlafen. Habe ich viel Selbstvertrauen, dann geht das leichter."


Dr. Achim Schmidt bestätigt das "Genau das ist die Technik, die wir auch unseren Studenten und den Profis, die durch uns angeleitet hier trainieren, beibringen: Denn es sind mentale Entspannngsübungen, welche die Sympathikus-Aktivität wirksam herunterfahren können. Dazu gehört das gedankliche Vorstellen der zu erwartenden Belastung - wohlgemerkt, das positive Vorstellen oder Techniken wie die progressive Muskelrelaxation, die man auch leicht zuhause erlernen kann. Der Körper befindet sich in einem Aktivitätsmodus - den muss man wegbekommen. Wenn man die richtige Technik hat, klappt das sehr gut."


Also positives Vorstellen des Rennens. Mein Finish. Das Visualisieren von Erfolg, von Leistung, von Ankommen. Und wenn das alles trotzdem nichts bringt?




Wenn das die Aussicht auf "ruhige Schlafstätten" beim TransCon ist - dann
genießt man die Nacht vor dem Start umso mehr.

Dr. Achim Schmidt: "Ich unterscheide hier grundsätzlich zwei Arten von Schlaflosigkeit - wenn das Problem einmalig oder wenn es öfter hintereinander auftritt. Bei Letzterem, wochenlangen Schlafstörungen, kann eine ernste Indikation vorliegen, das sollte man unbedingt untersuchen lassen. Wenn man aber, zum Beispiel vor dem Ötzi, die Nacht nicht schlafen kann, dann ist das ganz normal. Mein Tipp wäre hier: Einfach auf den Körper hören. Wenn er wach ist - aufstehen. Wach sein. Ein Buch lesen, das wirkt oft Wunder, oder ein heißes Bad nehmen. Spazieren oder auf dem Balkon die Beine vertreten. Prophylaktisch kann man aber auch - ähnlich wie es Matthias tut - am Tag vorher eine dosierte Belastung mitmachen. Also ein kleines Training, ein "Anschießen" am Berg oder. Nichts Wildes, das an die Substanz geht. Wichtig ist auch, dass man nicht mit vollem Magen ins Bett geht. Also 21 Uhr noch ein Kilo Pasta auf der Party und dann schnell schlafen wollen, das klappt meist nie. Lieber in einem definierten, komfortablen Abstand zum Schlafengehen essen."

Bei mir klappte diese Technik bei meiner Alpenbrevet-Teilnahme (hier geht es zum Rennbericht) sehr gut. Sogar so gut, dass Heiko und ich volle eineinhalb Stunden verpennt haben ... Beim Ötzi hingegen habe ich mir wieder die halbe Nacht um die Ohren gehauen. Ich werde dann demnächst also mal "progressive Muskelrelaxation" googeln ...



Von 0 auf 100: Wie schafft es der Körper, direkt nach dem Startschuss hochzufahren?


Im Startblock, Vorstart: Ich zittere, kein Wunder: Schon fast eine dreiviertel Stunde stehe ich hier im Startblock und friere mir einen ab. Leichter Nieselregen beginnt schon jetzt mir die Klamotten durchzuweichen - dabei bin ich noch nicht einen Meter gefahren! Noch schnell eine Banane reingequält, vorne steht verschwommen 5 min bis zum Start. Neben mir klicken sie ein. Die Musik wird lauter gedreht, es dröhnt Beat aus den Boxen, mein Puls schießt nach oben, losrollen, langsam, langsam, ja nicht stürzen, dann, Ziellinie - piepen - die Uhr läuft - und Gas geben! Ich trete rein, wie ein Irrer, neben mir krachen sie die Gänge auf die Ritzel dass es nur so splatattert, sie schnaufen, sie ächzen: Seitenstechen! 45er Schnitt, keine 2 Kilometer gefahren ... wie schafft es der Körper nur, von Null auf 100 zu beschleunigen? Und was kann ich tun, um nach dem einlullenden Warten hochkonzentriert zu sein?


Matthias: "Beim Transcontinental Race ging der Start sehr gesittet und eher behäbig ab: Wir waren ein sehr kleines Feld und da hat auch keiner wie besengt rein getreten. Insofern hatte ich dieses Problem nicht. Im übrigen ist das auch der Grund, warum ich Events wie den Ötztaler oder andere Rennen meide: Der hohe Aufmerksamkeitsstress und die Sturzgefahr schrecken mich einfach ab. Aber ich kann ein bisschen nachvollziehen, was du meinst, denn auch bei solchen Langstrecken-Hammern ist gerade in der Anfangsphase, wenn man noch nicht so im daily business ist, vieles sehr verwirrend, die Eindrücke und Gedanken können einen da schon ganz schön mitnehmen!"




Die Rennräder, mit denen das Transcontinental Race gefahren wird:
Beschleunigungs-Arien eher ausgeschlossen.

Ich selbst habe vor allem bei den Rennen des German Cycling Cup, von dem ich 2011 fast die komplette Serie fahren konnte, diese Erfahrungen gemacht. Auch beim Ötztaler oder anderen großen Radmarathons kann es schon mal vorkommen, dass man sehr lange im Startblock wartet, einlullt, ehe es los geht. Und dann geht es aber auch los! Unvergessen die mehr als wahnsinnig zu bezeichnende Eöffnungsphase der La Leggendaria (hier geht es zum Rennbericht) in Italien - von 0 auf 200er Puls war da das Motto. Wie kann man so etwas "überleben"?

Dr. Achim Schmidt: "Zunächst zu der Zeit im Startblock: Ich kenne das nur zu gut. Ich rate dennoch davon ab, sich vor einem Radmarathon wie dem Ötztaler oder dem Alpen-Traum lange und intensiv aufzuwärmen - das macht nur bei einem Zeitfahren, bei einem eher kurzen Zeitfahren, Sinn. Die Startphase eines Ötzis - gerade eines Ötzis, wo es die ersten 35 Kilometer quasi nur bergab geht - würde ich eher nutzen, um warm zu werden. Also nicht gleich all-out, sondern intelligent fahren. Sich im Feld sicher positionieren, eher mitrollen und leicht treten, Routine finden. Vor allem Neulingen rate ich, es ruhig anzugehen: Sucht euch eine Position eher am Rand, rechts versteht sich. Überdreht nicht und verbeißt euch nicht in irgendwelche "den kriege ich noch!"-Spielchen. Falsches Handeln kann gerade in den hitzigen, unübersichtlichen und schnellen Anfangsphasen ganz schnell zu Stürzen führen. Lasst euch von vorn nach hinten durchreichen - das ist eine durchaus gute Strategie. Im Startblock möglichst weit vorn stehen, dann kann man schon mit schwimmen, und selbst wenn man durchgereicht wird, ist man am Berg nicht allzu weit hinten. Dafür dann aber schön warm."


Gerade die Anfangsphasen sind essenziell: Wer hier unklug fährt, verliert viele Plätze. Wer noch unklüger ist, kann sogar seine Gesundheit verlieren. Wie kann man sich hierauf einstellen?


Dr. Achim Schmidt: "Auch hier rate ich zur gedanklichen Vorwegnahme dieser Situation. Man kann sich alles genau ausmalen - vielleicht ein, zwei Tage vor dem Rennen. Alles peinlich genau durchgehen, durchspielen. Diese Simulationen geben Sicherheit. Aber klar sollte auch sein: Fahren im Pulk kann man nur üben, wenn man Fahren im Pulk übt. Da reicht eine Gruppe von 5 bis 10 Mann und eine kurvige Strecke, die Anstiege und kleinere Abfahrten enthält, schon aus."


Es hilft also alles nichts: Ruhig bleiben, souverän agieren. Sich nicht verrückt machen oder ablenken lassen. Sich nicht anstiften lassen zu Späßchen oder gar überdrehen. Der Ötzi hat 240 Kilometer: Auf den ersten zwei gewinnt man ihn jedenfalls eher kaum.



Magenknurren im Anstieg: Wann sollte man was essen?


Im Anstieg: Auf 2.700 Meter muss ich hier jetzt rauf. Gleichmäßiger Tritt, Puls auf erträglichem Niveau, Schweiß auf dem Rücken, erste Zipperlein im Knie aber noch regelt das Adrenalin allen Schmerz ab. Ich weiß, ich habe hier noch 15 Kilometer vor mir. 6 Prozent. 10 Prozent. Da hinten, das werden sicher 14, 15 Prozent Steigung. Heftig durchfährt es meinen Bauch - ein lautes Rooooar! Magenknurren. Ich habe Hunger! Wie schnell braucht mein Körper die Energiereserven auf? Wann sollte ich wieviel Essen? Und welche Fehler kann ich bei einem Radrennen machen?




Auch beim TransCon wird die Luft dünn: Es geht
über die Alpen.

Dr. Achim Schmidt: "Zunächst zu deiner Frage, wie lange ein Körper ohne Nachlegen Leistung bringen kann. Das kommt auf die Belastung und natürlich den Trainingszustand an - vom individuellen Metabolismus mal ganz zu schweigen. Aber ich kann sagen, dass ein gut trainierter Radsport-Profi durchaus ein all-out-Zeitfahren das eine Stunde dauert komplett ohne Nahrungszufuhr nur auf Basis seiner Glykogen-Speicher und bei langen Belastungen seines ausgeprägten Fettstoffwechsels fahren kann. Oder auch eine 6 bis 7-stündige Trainingseinheit. Aber darauf sollten sich Hobbysportler oder Amateure nicht verlassen. Der Körper ist im Prinzip wie ein Tank an einem Auto. Bei Belastung zieht der Motor den Sprit unten raus. Oben muss durch den Tankverschluss neuer Spritt nachgegossen werden. Die Frage sollte da aber bei einem Sportler nicht sein, wann genau er nachlegen muss, man also an die Tanksäule muss. Ich kann dem Jedermann nur raten: Immer nachlegen. Konstant!" 



Locker fahren ist die Devise - auch und gerade wenn es steil geht.

Matthias: "Essen. Mein Lieblingsthema. Futtern. Futtern. Futtern - immer futtern! Gerade das TransCon habe ich eher als Fress-Challenge denn als Rennen erlebt, ehrlich. Wenn man wie ich dann da 15, 18 oder mehr Stunden am Tag auf dem Rad verbringt und dabei konstant treten muss, also Energie verbrennt, dann muss man eigentlich immer essen. Dabei ist es dann auch egal, ob es flach ist oder man sich gerade in einer Steigung befindet. Ich habe immer gegessen und ganz wichtig: Vor allem essen, bevor der Magen knurrt!"

Dr. Achim Schmidt: "Da hat Matthias alles richtig gemacht. Man sollte immer essen. Schon vor dem Start - wie du mit deiner Banane beim Alpen-Traum Vorstart. Gerade in dieser Phase sind es kleine Snacks, die die Verdauung nicht belasten aber am Laufen halten sollten. Dann spätestens nach den ersten 30 Minuten anfangen regelmäßig zu essen. Der Körper braucht einen kontinuierlichen Energiezufluss - auf keinen Fall auf das Magenknurren warten, denn dann kann es schon zu spät sein. In einem steilen Bergaufstück sind dann der schmerzhafte "Hungerast" oder der berühmte "Mann mit dem Hammer" meist schnell zur Stelle."




"Das Transcontinantal Race war eher eine Fress-Challenge", sagt Matthias.

Dann mache ich ja bisher auch immer alles richtig. Ich habe mir nämlich angewöhnt, direkt 10 Minuten am Vorstart eine Banane und 5 min vor Start ein Gel reinzuziehen. Mein Fehler jedoch: Ich bin ein sehr schlechter Frühstücker, zumal ich meist 3:30 Uhr kaum Hunger verspüre - und dann noch in Italien, wo das Frühstück ais Espresso und Puderzuckerkipferl besteht ...


Matthias: "Ich hatte beim TransCon und auch sonst bei meinen langen Fahrten eine Extra Lenkertasche für Fressalien. Meist Schnellverwertbares: Trockenobst, Frischobst, Kekse, Waffeln ... was sich unterwegs eben so findet. Wenn ich abschätzen konnte, wann es wo in den nächsten Stunden schwerer werden würde - also zum Beispiel in den Alpen - oder auch abends, wenn ich wusste, dass in den nächsten Stunden kaum Läden offen haben werden und ich mich nicht auf mein Pfadfinderglück beim Aufsuchen einer Tankstelle verlassen wollte, habe ich mir noch eine "Backup-Pizza" gekauft. Die habe ich dann schön zwei mal gefaltet und gut in der Seatbag verstauen können. Sicher, kalte Pizza schmeckt alles andere als lecker, aber Futter bleibt eben Futter, oder? Dennoch, als ich dann in Istanbul angekommen bin, war ich schon erstaunt, dass ich trotz tagelangem Daueressen einige Kilo Körper unterwegs auf den europäischen Straßen lassen musste. Trotz kalorienreichster Backup-Pizzen."




Die Maschine will am Laufen gehalten sein: Pizza bietet
eine Menge Energie. Und lecker ist die meistens auch.

Dr. Achim Schmidt: "Letztendlich sollte die Strategie eine solche sein, dass man für den letzten Berg, das letzte Hindernis immer genug Saft im Tank hat. Erst dann - und erst dann! - kann man los lassen, den Tank restlos leer fahren. Ansonsten jedoch gilt die Regel: Immer wieder kleine Happen essen."



Atemnot in der Höhe - wenn die Luft auf dem Pass dünn wird.


Auf Höhe: Die höchste asphaltierte Straße Europas, die zur Cime de la Bonette, bringt mich auf über 2.800 Meter. Bergzeitfahren, "meine" Etappe hier bei der Haute Route (hier geht es zum Bericht) - ich will es hier heute allen zeigen und trete rein! Sauerstoff ist hier oben weniger, als auf Meereshöhe - ob mir das als Flachland-Hamburger was ausmacht? Oben angekommen, ich japse nach Luft, die Schenkel brennen. Andere um mich herum japsen wie geangelte Fische, einige fallen in sich zusammen, zwei, drei kollabieren: Wie groß ist tatsächliche der Einfluss der Höhe auf unsere Leistungsfähigkeit? Wie kann ich mich - auch als Hamburger - auf die hohen Pässe vorbereiten und was sollte man beachten, wenn man unvorbereitet in diese Höhen kommt?


Matthias: "Ganz ketzerisch: Einfach Hinradeln! Dann kommt die Akklimatisierung ganz von selbst ... Nee, im Ernst, ich denke, dass wer einigermaßen gut Rad fährt, auch auf Höhe gut klar kommen wird. 2.800 Meter Höhe sind ja auch noch ganz gut erträglich, ist ja kein Everest oder noch höher das, was die Fallschirmspringer haben. Ich versuche jedenfalls immer gut zu haushalten - beim Transcontinental Race hatte ich im Prinzip ja nur zwei, drei richtig harte Bergtage, wo es über die Alpen ging, auf dem Balkan kamen auch noch ein paar Pässe hinzu."




Auf dem Balkan geht es dann nicht mehr in die großen Höhen.

Dr. Achim Schmidt: "Generell ist es ein physikalisches Gesetz: Mit steigender Höhe nimmt die Sauerstoffkonzentration ab. Und das bedeutet ebenso unweigerlich, dass pro Atemzug dann ganz einfach weniger O2 in die Blutbahn kommt. Dennoch halte ich den Höheneffekt im Hobbysport generell für vernachlässigbar. Erstens, weil die Dauer des Aufenthaltes auf Höhen über 2.500 Meter sehr begrenzt ist. Eine Pass-Überfahrt nimmt da wenige Minuten in Anspruch, es ist ja nicht wie beim Wandern oder Trailrunning, wo man mehrere Stunden in diesen Höhen verweilt. Zudem ist einfach die Höhe noch nicht extrem genug - richtig spüren wird man das als sehr gut austrainierter Radsportler erst so ab 3.500 Metern."


Das kann ich nur bestätigen: Ich selbst habe bisher noch nie Probleme auf dem Rennrad in den Passhöhen gehabt. Selbst nicht beim Zeitfahren auf die Cime de la Bonette, wo auch vor allem im Endspurt ganz oben deziliterweise Luft angesogen hatte - dennoch, Heiko beispielsweise meinte schon desöfteren zu mir, dass ihm die Höhe spürbar zu schaffen machte. Woran liegt das und wie kann man da vorbeugen?


Dr. Achim Schmidt: "Wie bei allen Körper-Effekten hängt auch hier eine Beurteilung immer vom individuellen Trainingszustand ab. Die Einen ertragen das ohne Probleme, die Anderen spüren etwas. Was das Training angeht, da gibt es drei einfache Wege: Erstens, du kaufst dir Epo - wovon ich dir medizinisch wie auch ethisch strengstens abrate! Zweitens, du verbringst Zeit auf Höhe und trainierst da auch. Und drittens, du trainierst in Höhenkammern und -zelten. Nur wie gesagt: Im Hobbybereich sind die Höheneffekte sehr gering und wenn du etwas erreichen willst, gibt es da ganz andere Stellschrauben, an denen du drehen kannst. Wenn man aber doch mal etwas spürt oder von sich weiß, dass man auf Höhe sensibel reagiert, kann ich empfehlen, einfach langsamer zu machen - weniger Leistung erfordert weniger O2-Zufuhr. Und dann einfach locker durchtreten - und sich auf das Tal freuen."





Schon die Abfahrten können effektiv zur Regeneration genutzt werden.

Matthias: "Selbst der Stelvio, der ja auf fast 2.800 Meter führt, war bei mir nur ein kleiner Teil des Tages. Die halbe oder dreiviertel Stunde da oben fällt beim TransCon kaum ins Gewicht. Für mich ist dann weniger wichtig, eine Hammerleistung in die Steigung zu brennen, sondern möglichst gleichmäßig da rüber zu fahren. Ich möchte nicht überdrehen, schön smooth durchstiefeln. Und wenn es dann ein, zwei Stunden länger dauert - egal, schlafe ich halt weniger ..."


Übersäuerung im Zwischenstück? Wie man die Flachpassagen überlebt.


Im flachen Zwischenstück: Gerade ist die rasante Abfahrt zu Ende. Kaum Zeit genug, die Beine zu lockern, sich von 10, 15 oder 20 Kilometern harter Aufstiegsarbeit zu erholen. Schon ballere ich in das Zwischenstück - Schlüsselstellen für mich, wie zum Beispiel ganz krass beim Endura Alpentraum (hier geht es zum Bericht) schon zwei mal erlebt: Nach dem eher langsamen, gleichmäßigen und kräftezehrenden Anstieg nun wieder Vollgas. Doch was ist "Übersäuerung" und welche Gefahren drohen einem da? Was kann man tun, um die flachen Zwischenstücke zu überleben?


Matthias: "Das Transcontinental Race bestand ja eher nur aus deinen Zwischenstücken. Darin liegt ja die Herausforderung: Diese Strecken gleichmäßig zu fahren. Ich persönlich bin da eher Lokomotive, Dieselmotor. Deshalb fahre ich da niemals am Limit, eher gemütlich, dafür lange durchhalten. Das bedeutet auch, dass ich öfter mal anhalte, pinkle oder was esse. Daily Business halt, denn das TransCon dauert 8, 9, 10 oder mehr Tage. Übersäuerung ist deshalb für mich gar kein Thema - Sprints, wie du sie da hinlegen musst, sind bei Langstrecken-Events einfach nicht drin."




Frankreich, TransCon 2014: Endlose Weiten. Das kann schlauchen - mental vor allem.

Dr. Achim Schmidt: "Die Erfahrungen, die du beim Alpen-Traum gemacht hast, sind dramatisch, aber keine Übersäuerung. Übersäuerung ist in den allermeisten Fällen nicht der Grund dafür, dass Hobbysportler bei einem Radmarathon beispielsweise aufgeben - es ist meist eher der komplette Systemausfall. Bei einer Übersäuerung ändert sich der pH-Wert im System durch Laktat-Ausschüttungen. Um diese zu provozieren, muss man sehr hart in den anaeroben Bereich fahren, was kaum einer macht. Zudem ist das System nach einer Überschreitung der Schwelle meist in sehr kurzer Zeit wieder erholt."


Matthias: "Ich weiß allerdings genau, was du meinst, wenn du von deinem Respekt vor den Flachstücken berichtest: Beim Transcontinental Race konnte ich rund 250 bis 300 km oder auch 3.000 hm am Tag fahren - und das 10 Tage lang. Witzigerweise am Ende dann sogar noch besser ertragen, als am Anfang. Doch es kamen dann erste Mangelerscheinungen zum Vorschein. Vor allem eine Unterversorgung mit Mineralien, besonders da, wo es dann richtig heiß wurde. Eben weil es bei solchen Monster-Events morgen, übermorgen und überübermorgen auch noch weitergehen muss, verbietet sich jegliches Überpacen, sogar das Ranfahren an die Laktatschwelle selbstredend. Das Kunststück ist dann eher, sich gut darauf einzustellen, die Strecke einteilen. Und natürlich viel, viel trinken."


Das hilft schon mal, doch wie genau kann ich mich bei einem Radmarathon verhalten, um die verdammten Flachstücke möglichst gut zu überleben?


Dr. Achim Schmidt: "Zunächst einmal, es hilft alles nichts: Je fitter man ist, desto besser steckt man diese Leistungsspitzen - auch und gerade, wenn sie länger dauern - weg. Um das Training kommt man nie herum. Dennoch gibt es auch ein paar Faustregeln. In den Abfahrten sollte man immer leicht mitkurbeln - nicht richtig reinhacken, sondern mitdrehen. Das baut Laktat schneller ab: Einfach bewusst ins Leere kurbeln. Intelligent fahren, das sollte die Devise sein. So kann es sinnvoller sein, mal für 3 Kilometer richtig Vollgas zu fahren, um eine Gruppe zu erreichen, in der man dann mitschwimmen kann, als 30 Kilometer alleine im Wind zu verhungern. Auch das sich zurückfallen lassen kann wertvoller sein, wenn man dadurch in eine Gruppe kommt. Zu guter letzt kann ich dann nur empfehlen, vernünftig Windschatten zu fahren, denn die meisten nutzen diesen nicht effektiv genug aus. Viele wissen nicht genau, wo genau sich der Windschatten in Abhängigkeit mit der Windrichtung befindet, dosiert zu fahren und vor allem - mit rotieren, auch mal in den Wind gehen. Das macht man aus Anstand, aber vor allem auch, um das System am Laufen zu halten. Wobei bei einem Rennen wir dem Transcontinental Race Windschattenfahren natürlich verboten ist."


Technisch geschickt und taktisch gewieft fahren - so überlebt es sich also auch als Bergfloh im gefürchteten Zwischenstück. Das Gesparte kann man dann am nächsten Berg wieder ausgeben, vielleicht ja sogar auch Vorsprünge ausfahren?



Die "Sportler-Trance" - wenn das Gehirn auf Reisen geht.


Gegen Renn-Ende: Müde Beine, schwere Waden. Ausgelaugt und auf dem letzten Loch pfeifend kämpfe ich mich die Strecke entlang. Klare Gedanken kann ich lange schon keinen mehr fassen, mein Körper sendet mir nur noch Signale von Schmerzen, mein Schweinehund flüstert - nein, er brüllt - mir ständig "Aufgeben!" ins Ohr. Und doch zwinge ich meinen Geist, weiterzumachen. Tunnelblick, Augen zu und durch, so geht es zum Ziel - was ist diese "Sportler-Trance"? 


Dr. Achim Schmidt: "Eigentlich kämpft ein Sportler ständig gegen den Schweinehund, nicht erst gegen Ende der Belastung. Wir haben in Studien heraus gefunden, dass es immer wieder Höhen und Tiefen während einer Belastung gibt. Das Tief kann nach 7 Stunden kommen - oder schon nach 30 Minuten. Das betrifft im übrigen alle Sportler, vom Hobbystarter bis zum Profi-Athleten."




Allein auf weiter Flur: Wohl dem, der sich in Trance versetzen kann?

Matthias: "Deine Trance nenne ich Tunnel. Als Ausdauersportler, gerade bei so langen Sachen, sollte man ja schon so ein bisschen ein Faible für Schmerzen haben, oder? Ein Rennen wie das TransCon ist ja auch ein bisschen eine masochistische Angelegenheit. Ich selbst komme da durch, indem ich mich einerseits mit immer wechselnden Dingen beschäftige: Navigieren, dann wieder essen, dann trinken, dann kurz anhalten ... es gibt immer was zu tun. Der Kopf spielt da einfach eine große Rolle: Gedanken, Selbstmotivation, Reflektionsvermögen und auch Selbstgespräche. Diese Routine wiederum hilft auch, die lästigen Aufgabe-Gedanke  aus dem Kopf zu bekommen. Dennoch: Ich kann dir zu weiten Teilen Mazedoniens oder Griechenlands nichts erzählen - da war ich wohl im Tunnel."



Im Tunnel: So vergehen endlose Stunden wie im Fluge.

Dr. Achim Schmidt: "Was das Aufgeben angeht, so kennen wir eine Vielzahl erprobter und sehr wirkungsvoller Maßnahmen, mit denen man die Stimmen abschalten kann, sozusagen. Die wohl Wirkungsvollste ist der Reiz von außen - das können zum Beispiel Zuschauer sein oder das Hinterrad eines Vordermannes, den man unter keinen Umständen ziehen lassen will oder auch der Teamkollege, dessen Motivation einen am Laufen hält. Nun sind Zuschauer bei 240 Kilometer langen Rennen eher selten, auch gibt es lange Passagen, wo man weder Hinterrad noch Teamkollege hat. Hier helfen dann wieder mentale Techniken. Wir nennen das eine leistungsbejaende Einstellung. Die Idee ist, dass der Schmerz, den man sich antut, nicht als etwas Schlechtes oder Schlimmes empfunden wird, sondern als etwas Willkommenes. Er ist ja Zeichen unserer Leistung. Sich zu sagen Es tut mir weh - macht mir aber nichts ist der Schlüssel. Sicher: Das kann man nicht von heute auf morgen erreichen. Das muss man sich mühe- und schmerzvoll antrainieren. Interessant ist hierbei aber, dass man alles aushalten kann, wenn man es sich nur antrainiert. Oder anders gesagt: Würden wir einen Hobbyradler den Schmerzen aussetzen, den ein Profi-Radsportler, der Alpe d´Huez hinauf stürmt erträgt - er würde sofort ohnmächtig werden."


Matthias: "Schmerzen. Ein langes Lied, gerade beim TransCon. Bei mir waren das aber weniger die Beine, eher der Hintern, Schultern und Nacken. Oder der Sonnenbrand, den ich trotz LSF 50 und mehrmaligem Eincremen dann doch bekommen habe. Dann hieß es Backen zusammenkneifen und durch: Da hilft dann der Tunnel wieder. Ansonsten hat mir sehr eine Mischung aus Gesäßcreme und Diclofenac-Salbe geholfen. Ich habe so die letzten drei Tage überlebt: Je eine halbe 600er Ibuprofen-Tube alle 12 Stunden ..."




Schmerzen? Nach 10 Tagen wie beim TransCon überall.

Wir lernen also: Positivieren, mentale Stärke antrainieren und sich langsam an die Schmerzen, die ganz normal bei Belastungen sind, heran trainieren. Wenn mir dann also das nächste Mal die Lunge am Timmelsjoch rauszuspringen droht, werde ich Dr. Schmidts Worte zitieren ... und mir bestimmt ein paar neue Freunde machen :)



Den Turbo zünden: Ins Ziel noch einmal alles geben (können).


Die letzten Kilometer! Ich schnuppere schon die Zielluft, höre vor meinem inneren Ohr die Drums zur Musik, die Zuschauer, die klatschen und einen Ansager, der meinen Namen und meine Startnummer ausruft. Ich schaue auf mein GPS - noch 30 Kilometer! Nun nur noch die letzte Abfahrt, ja keinen Fehler machen, überleben. Kurve um Kurve, Kribbeln, Vorfreude. Abfahrt beendet - 15 Kilometer to go. Plötzlich öffnen sich Schleusen, meine Beine wirbeln um das Tretlager, ich drehe auf. Vergessen all der Schmerz, ungeahnte Kräfte stehen mir zur Verfügung, längst verbraucht geglaubt: Ich trete rein, locker über 40 kann ich durchhalten. Zum ersten mal seit 200 Kilometern überhole ich andere. Wahnsinn! Was sind das für Reserven? Wann und wodurch werden sie freigegeben? Und vor allem: Kann ich mich auf sie verlassen?


Matthias: "Für mich sind diese letzten euphorischen Kilometer fast schon zum Ritual geworden. Man haushaltet, reißt sich am Riemen, hält zurück, was geht und ist sehr knauserig mit seinen Kräften. Und nun, kurz vor dem Ziel, wirst du einfach nur von Endorfinen getragen. Ich nehme da als Beispiel den letzten Abend des Transcontinental Race: Der einzige Tag, an dem es kein "morgen" gab. Keine Backup-Pizza nötig war. Keine Bervorratung für die Nacht. Dann nur runterzählen, echtes runterzähen! "All in" und einfach mal Raubbau betreiben: Geil!"




Bosporus. Ziel in Sicht: Jetzt einfach nur Gas geben. Können.

Dr. Achim Schmidt: "Diese Welle an plötzlicher Energie ist uns als Sportwissenschaftlern wohlbekannt. Man kann sich das so vorstellen, dass die willentlich abrufbaren Kräfte und Reserven eines Menschen nicht 100% seiner wirklichen Leistungsfähigkeit sind. Es sind diese Geschichten, die man immer wieder hört: Man springt auf der Flucht vor einem Löwen über eine 2,50 m hohe Mauer oder ein Verschütteter entwickelt übermenschliche Kräfte und kann Lasten bewegen, für die man sonst kleine Bagger benötigen würde. Dieses Phänomen nennt man autonom geschützte Reserve. Ein Erbe unseres Urmenschen-Daseins. Unter bestimmten Bedingungen werden die dann freigegeben - meist, wenn ohne die Freigabe die Gefahr besteht, dass der Körper ernsthaften Schaden nimmt. Unsere Muskeln können wesentlich mehr leisten, als wir denken und als uns das Nervensystem durch Schmerzimpulse weiß machen möchte: In Laborversuchen kann man durch elektrische Stimulation beispielsweise einen Menschen dazu bringen, einen Softball vier mal so lange mit voller Kraft zu kneten, als ohne. Also um bei unseren Urahnen zu bleiben: Nach 30 Kilometern Tageswanderung mussten sie einfach die letzten 15 Kilometer auch noch schaffen, sonst wären sie erfroren. Oder halt die Flucht vor dem Löwen. Im Rennen passiert das gleiche: Eigentlich ist schon längst Ende. Aber dann schüttet der Körper wieder eine Palette an Hormonen aus, welche die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit verschieben - plötzlich kann man viel mehr leisten. Man hat wieder Energie. Fühlt keinen Schmerz mehr. Diesen Second Wind kannst du im Rennen ruhig nutzen - denn du bist bald im Ziel und dann ist alles egal. Außer bei Etappenrennen sollte man sich hüten: Die Reserve anzugreifen bedeutet auch eine verlängerte Regenerationsphase in Anspruch nehmen zu müssen."


Matthias: "Genauso war das bei mir, als ich dem Ziel näher gekommen bin: Istanbul! Dann so richtig Rennrad fahren - wie bei einer Eintages-Tour. Die ersten Straßenschilder mit dem Zielort drauf, die Skyline - unfassbare Momente! Das Eintauchen in die Stadt. Und dann diese letzten, wunderbar intensiven Kilometer. Automatismus und Euphorie. Aufpassen, nicht allzu viel übersprudeln. Und dann ... ausklicken. Extrem. Und extrem geil."


Auch für mich sind das immer die besten Momente. Nicht unbedingt der Zieleinlauf selbst. Da bin ich zu sehr beschäftigt. Aber diese letzten Kilometer. Das Rasen. Das Scheißegal, alles raus! Urmenschen-Erbe. Nun weiß ich, warum sich das so archaisch anfühlt.



Endorfine, Opiate & Emotionen: Wenn im Ziel die Dämme brechen.


Im Ziel. Endlich angekommen. Endlich aus den Klickpedalen, Rollen lassen. Beine hängen. Körperspannung aufgeben. Viele freuen sich tierisch. Andere (wie ich) bleiben eher ruhig. Und wieder andere (vor allem bei Marathons schön zu beobachten) brechen emotional total auseinander. Weinen, schluchzen, fallen ihren Lieben heulend in die Arme. Was ist die Ursache für diesen Endorfin-Overflow?




Überschwängliche Freude - mal mehr, mal weniger. Hier finished ein
Team beim Transcontinental Race 2014.

Dr. Achim Schmidt: "Hier ist die Antwort so einfach wie kurz: Morphine. Der Körper schüttet sie aus. Übrigens das ganze Rennen über - sie sind denn dann auch der Grund dafür, dass du zum Beispiel in Flachstücken deinen Hänger hast. Zu wenig Morphine im Kreislauf und die Schmerzen dringen zu sehr durch, die Motivation lässt nach. Mehr davon und der Betäubungsgrad nimmt zu - gepaart mit Adrenalin eine Mischung, die dich abgehen lässt. Mancher Typ bekommt am Ende dann seinen Schuss und das lässt ihm im Ziel dann emotional Achterbahn fahren. Manch einer eben nicht. Je nach Typ fällt das dann deshalb unterschiedlich aus."




Matthias im Ziel: 10 Tage gebraucht und auf Platz 5 gefahren.
Die Freude ist bei ihm wohl eher "innerlich". *

Matthias: "Ich bin im Ziel auch eher der Ruhige. Sortiere mich erst mal und ordne mich. Beim TransCon hatte ich kein Hotel in Istanbul - ich wusste ja nicht, wann ich ankommen würde. Also musste ich alle Sinne beisammen halten und losziehen, was zum Schlafen finden. Dann ankommen, auspacken. Wieder essen - die Fressmaschine läuft weiter, als sei nichts geschehen. Erst viele Stunden nach der Ankunft hat dann auch mein Körper mitbekommen, dass er im Ziel ist. Nicht nach 15 Minuten Pause wieder aufs Rennrad? Einfach nichts tun. Sitzen. Starren. So sitze ich dann eine Stunde einfach nur da. Wo ich doch tagelang vorher jede einzelne dieser Stunden nur Rennrad gefahren bin. Mich immer wieder auf den Sattel geprügelt habe. Die Entdeckung der Langsamkeit. Herrlich. Wie gesagt: Erst viele Stunden später kam bei mir so etwas wie Euphorie auf. Zum Beispiel als ich mir die Timings angeschaut hatte und erst mal realisiert hatte, wie viel Vorsprung ich vor bestimmten Leuten rausfahren konnte. Irre!"



Regeneration nach dem Rennen: "Sieger-Kakao" oder doch High-Tech-Produkt?


Auf dem Heimweg. Ich rolle ins Hotel. Sitzen geht schon gar nicht mehr. Ich schiebe das Rennrad neben mir her. Angenehm - sogar in diesem strömenden Regen. Das Mistwetter kann mich mal. Denn ich weiß, wenn ich gleich mein Zimmer aufschließe, habe ich 15 Minuten später eine Wanne voller heißem Wasser. Ich werde mich einweichen. Gar kochen. Ich trinke sofort einen "Sieger-Kakao", mein Ritual nach dem Ziel. Proteine. Sollen gut sein für die Regeneration. Doch wie sieht die beste Regeneration aus? Was sollte man essen, was nicht?


Matthias: "Essen. Nur Essen. Ich konnte fast kaum einen klaren Gedanken fassen: Wie gesagt, die Fressmaschine lief unbeirrt weiter. Gottseidank bietet Istanbul so viel Leckeres. Auch noch Wochen nach dem Transcontinental Race bin ich mitten in der Nacht mit Magenknurren und Hunger aufgewacht - okay, das waren dann zwar auch wieder 600 km/Woche Trainingseinheiten, aber trotzdem, es ging weiter. Ansonsten esse ich nur, was mir schmeckt und Spaß macht. Ich habe da kein bestimmtes Rezept oder Getränk oder so. Ich liebe es, lokale Spezialitäten auszuprobieren, mich einfach gehen zu lassen. Achte kaum auf Fett, Kohlenhydrate oder so - ich denke, intuitiv mache ich da schon das richtige. Zuschlagen: Türkisches Eis, Köfte, Kaffee und Waffeln ... alles, worauf ich Lust hatte. Zudem: Ich musste mir die fehlenden Kilos ja wieder anfressen ..."




Gerade in der Türkei macht Essen doppelt so viel Spaß.

Dr. Achim Schmidt: "Zunächst der aktuelle Stand der Wissenschaft: Kohlenhydrate mit Proteinen zu sich zu nehmen macht nach einer harten sportlichen Belastung absolut Sinn. Denn in Kombination sind beide besser verwertbar. Fett hat hierbei zum Beispiel gar nichts verloren. Der "Sieger-Kakao" wäre im sportwissenschaftlichen Sinne also sogar eher kontraproduktiv, weil er je nach verwendeter Milch und Kakaopulver zu viel Fett und zu wenig Kohlenhydrate enthält. Am besten, du trinkst einen Fruchtsaft und isst dazu einen Eiweiß- und Kohlenhydratriegel, so etwas kannst du besser im Hotelzimmer bereitlegen, als den Kakao, wenn du deine Regeneration ankurbeln willst. Auch ein Müsli mit Honig und Quark wäre gut. Cola wiederum eher schlecht. Wichtig bei der Regeneration ist nicht nur die Nahrungszufuhr, sondern auch Ruhe. Verletztes Gewebe muss nachgebildet werden. Nach einem Rennen wie dem Ötztaler zum Beispiel sollte man sich schon 4 bis 6 Tage völlige Ruhe gönnen. Kein Training. Dann ist es auch egal, was man isst - solange man die Basics gesunder Ernährung beachtet, geht das super. Anders ist das bei einer Transalp oder einem Etappenrennen wie der Haute Route: Hier muss die Regenration schneller gehen. Hochwertige Ballaststoffe und Proteine sollten dann zugeführt werden. Beispielsweise in Form von Müsli, Quark und etwas Milch."




Ungewohnte Ansicht nach 10 Tagen: Das Bike steht still.

Tja, da trinke ich Saison für Saison in gutem Glauben hektoliterweise Kakao - und nun das. Aber hey, so kann ich nun die Fruchtsäfte dieser Erde testen und Proteinriegel gleich dazu.



Restless Legs im Hotelbett: Warum auch die Nacht nach dem Rennen Horror sein kann.


Licht aus. im Hotelzimmer. Vorbei. Geschafft. Gebadet und gegessen. Satt und zufrieden. Mit den Lieben daheim telefoniert - so sinke ich ins Bett, morgen die Heimreise. Aber bis dahin - schlafen. Endlich Ruhe. Endlich loslassen und träumen. Doch dann: Ich kann wieder nicht schlafen. Diesmal sind es meine Beine. Blut, heiß und wuchtig, strömt durch die Adern. Ruhelos, laut, rauscht es in meinen Ohren. Ich werfe mich von einer Seite auf die ander: Restless legs. Fast schon schmerzhaft: Was ist die beste Methode, nach dem Rennen runter zu kommen? Und was lässt uns einfach nicht schlafen?


Dr. Achim Schmidt: "Hier schließt sich der Kreis wieder - denn über unsere Gene kommt nun wieder der Urmensch durch. Es ist wieder der Sympathikus, der uns zu schaffen macht. Denn stundenlang hat er uns nun auf Trab gehalten, war auf "Krawall" gebürstet und hat gefeuert - sicher gestellt, dass wir die Hatz auf das Mammut durchhalten, die Flucht vor dem Tiger gewinnt oder wir die lange Wanderung zur nächsten Oase schaffen. Er hält uns weiterhin fluchtbereit, stellt nur langsam seine Aktivitäten ein. Wer von den "Restless legs" betroffen ist, für den sollte das gleiche gelten, wie am Vorstart-Tag - wenn der Körper wach bleiben will, dann bleibt er halt wach. Umherlaufen, Buch lesen, TV schauen oder im Netz surfen. Irgendwann gehen immer die Lampen aus - und dann sollte man sich auch unbedingt der Müdigkeit hingeben. Auch wenn das nur für 1, 2 Stunden ist: Schlafen, wegdämmern. Und dann halt eben wieder aufwachen. Lasst die Lampen ausgehen. Der hohe Puls, der aktive Muskeltonus, all das wird abebben. Mein Tipp für alle, die wieder ab März in die Trainingslager fliegen: Wenn ihr zwischen den Tagen diese Symptome verspürt, habt ihr zu viel trainiert."




Wer SO aussieht, der sollte jetzt vor allem eines: Regenerieren!

Matthias: "Ich hatte nach dem TransCon diese Probleme nicht. Dafür bin ich zu lange in einem erträglichen Rhythmus gefahren und ehrlich, die Aussicht auf ein richtiges Bett und mehr als 5 Stunden Schlaf am Stück war wie die Vorstellung vom Paradies für mich. Zum Einschlafen - auch wenn man das auf keinen Fall machen soll - dann noch ein, zwei Bierchen. Und weg war ich. Einfach herrlich! Meist hat mich nach einigen Stunden dann eh wieder der Magen genervt - die Fressmaschine - und ich wurde wach. Alles in allem aber hatte ich keine Probleme mit von selbst tretenden Beinen."



Zu viel Medizin? Viel Intuition und Erfahrung!


Ich lerne, dass bei sportlichen Betätigungen und Höchstleistungen noch viel Urmensch in mir steckt. Dass ich mich bestimmten Dingen einfach beugen muss, da in meinen Genen noch die Erfahrungen zehntausender Jahre Leben in der Savanne stecken und ich andererseits erstaunlich viele Probleme und Problemchen mit bewusstem Handeln, taktischer Cleverness und nicht zuletzt auch durch eine gesunde Portion Selbstvertrauen und Körpergefühl regeln kann. Alles halb so wild also? 




Nicht vergessen: DAFÜR machen wir das alles. Unbezahlbare Momente
in toller Natur. 

Ein Rennen wie den Ötztaler oder den Alpen-Traum zu meisten macht es dadurch sicher nicht einfacher - gibt aber gerade für die kommende Saison vielleicht ein bisschen Halt und Sicherheit, das eigene Training zu justieren und zu fokussieren. Oder im Rennen selbst sich zu erinnern: "Ah, Sympathikus, altes Haus - lass uns das Mammut jagen!"


Ich bedanke mich herzlich bei Dr. Achim Schmidt für das sehr angenehme, ausführliche Interview und die vielen plastischen Beispiele. Wer sich in Trainingsansätze und sportwissenschaftliche Erkenntnisse einlesen möchte, dem seien die Bücher von Dr. Schmidt wärmsten empfohlen.


Liebes Danke auch an Matthias Müller, der das abgefahrene 3.430 Kilometer lange Transcontinental Race von London nach Istanbul in 10 Tagen 9 Stunden und 17 Minuten auf dem sensationellen 5ten Platz gefinished hat. Einen detaillierten Rennbericht zum TransCon 2014 könnt ihr hier in seinem - auch sonst spannend zu lesenem und witzig geschriebenen - Blog nachschmökern.




Welche Zipperlein plagen Euch vor, während oder nach Euren Rennen, Trainings-Events oder Rennrad-Touren? Habt Ihr auch Hausmittelchen, Tricks oder Routinen, um diesen zu begegnen oder vorzubeugen? Ich freue mich auf Eure Comments.



Fotonachweis: Alle Fotos bis auf * sind mit freundlicher Genehmigung von Matthias Müller. 
* by Mathias Wjst, ** by Dr. Achim Schmidt










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1 Kommentar:

  1. Hallo Lars,
    ein sehr spannender und interessanter Artikel, welcher sowohl die Seite des Sportlers als auch des Sportmediziners betrachtet.
    Mir gefällt vor allem die "Praxisnähe"
    Ich habe auch vor ein paar meiner wenigen Rennen, Probleme mit dem Einschlafen gehabt.

    Grüße
    Marc

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