Cyclassics-Tag, es ist so weit! Naja, noch nicht ganz, es ist 3 Uhr, ich liege wach. Kann nicht schlafen. War doch gar nicht aufgeregt, gestern noch. Und jetzt? An Schlaf ist nicht zu denken.
5:20 Uhr. Mein Wecker klingelt erst in 20 Minuten, aber ich stehe trotzdem auf. Gerädert. Sonntag, eigentlich keine Zeit, an Gottes Ruhetag. Motivationslos putze ich mir die Zähne, quäle mir ein geschmackloses Frühstück rein und hoffe, dass es bald besser wird.
5:30 Uhr. Mein Handy klingelt. Es ist meine Süße, die mir alles Gute wünscht.
"Was rauscht da so komisch?", frage ich sie.
"Das ist die Straße."
Sie kommt gerade vom Partymachen nach Hause. Wird sich ins Bett legen. Und Schlafen.
Draußen, 6:10 Uhr, ich fahre gemütlich mit dem Rennrad zum Rathausmarkt. Die Straßen sind leer - außer einige Rennräder, die ebenso wie ich zum Start streben. Die charakteristischen orangefarbigen Beutel auf dem Rücken. Wir grinsen uns an, grüßen uns - Gladiatoren auf dem Weg in die Arena.
Auf der Kollaustraße springt mir mitten auf der Kreuzung die Kette vom Blatt. Ein böses Omen? Ich fingere sie wieder auf die Zahnkränze - meine Flossen sehen aus wie die eines Schiffsmaschinisten. Ölig. Schon vor dem Start. Naja, nichts anmerken lassen ...
Um 7 Uhr treffe ich mein Team. Wir sammeln uns, stehen frierend unter Hamburgs Wolkendecke, keine Sonne scheint auf uns, wärmt uns - wir halten uns mit Chauviesprüchen warm. Um die Alster kurven hunderte Rennräder - Warmfahren ist angesagt.
Mit Steve strebe ich zu Startblock L. Noch ist es leer, also fahren wir die Mönckebergstraße ein mal zur Probe ab. Schaufahren. Man beschaut die Räder des anderen, die Beine, den Helm. Rennrad-Daddies gucken uns hinterher: "Je dicker der Bauch desto teurer das Rad", sagt Steve.
Wir stehen da, zittern uns warm. Hinter mir starten vier Jungs vom Hamburger Recycling. Einer fängt an, mit mir zu schnacken:
"Schönes Rad hast Du da."
"Danke", sage ich, und bedanke mich.
Er deutet auf meinen Carbonrahmen: "Was kostet sowas?"
Ich schäme mich ein bisschen, denn augenblicklich schauen 7, 8 umstehende Rennradler uns an und sind gespannt, was ich sage. Diplomatisch entgegne ich: "Na, da gehen schon ein paar Gehälter für drauf."
"Ja!", macht er da und winkt ab. "Wem sagste das! Aber weißte was? So 6 bis 800 Euro für sowas auszugeben, das wäre mir nix ...!"
Äh ... okay, denke ich, und nicke nur.
8:00 Uhr. Die 55er (Mädchen) sind gestartet. Die Lautsprecher neben uns plärren Gute Laune Musik in die Morgenfrische. Da stehen wir nun, ich ziehe meine nur spärlich wärmende Regenjacke aus - ich bin bereit!
Bin ich bereit?
Noch einen Power-Riegel eingeworfen. Noch ein letztes Mal Luftdruck gecheckt. Am Trikot gezupft. Alles klar.
Neben mir, hinter der Absperrung, ein Obdachloser in schlimsten Kleiderfetzen beugt sich über den Eimer, um den herum ausgelutsche Geltütchen und jede Menge Bananenschalen liegen. Er durchforstet den Müll, über ihm plärren "Super-Oldies und das Beste von heute" aus den Boxen, wir hinter dem Zaun stehen da mit unseren Rädern, die mehr kosten, als er in seinem Restleben sich noch zusammenbetteln werden kann. Komische Welt, werde ich nachdenklich. Schlimme Welt, eigentlich.
Er kümmert sich nicht um die 10.000 Rennräder und die Spannung, die da in der Luft liegt. Er hat andere Sorgen, als Reifendruck und Arschcreme. Er hat nichts zu Essen.
Und ehe ich es mich versehe, startet vor uns der Block K. Gleich sind wir dran. Gleich wir. Gleich ... jetzt! 500 Rennräder treten rein. Wir strömen die Enge der eingezäunten Mönckebergstraße empor, passieren den Zielbogen - und hier in 4 Stunden wieder? - biegen rechts um die Ecke und schon tauchen wir ab, schlängeln uns an der Baustelle Hafencity vorbei, schneller als gedacht zieht sich das Feld in die Länge.
Steve, Teammitglied, bleibt vorn, ich hinter ihm, um ein paar Fotos zu machen.
Noch haben sich keine Gruppen gebildet. Noch sind "gut trainiert" und "gar nicht zum Training gekommen" eng zusammen, das Tempo mit knapp unter 40 recht mild - ich kann den Morgen genießen.
Es geht in den Freihafen, wir schlängeln uns meine neue Trainingsstrecke entlang, ich freue mich, kenne die Kurven hier, die Abschnitte mit schlechtem Belag, die kleinen, giftigen Steigungen und die Passagen, auf denen es sich lohnt, mal links rauszugehen und das Tempo anzuziehen.
Steve und ich haben vier, fünf andere gefunden, die ebenso wie wir schneller machen wollen, als der Rest. Der Rest, das sind die Rechtsfahrer. Die Gemütlichen. Die Rennrad-Daddies. Wir gehen raus, bilden eine Kette und überholen.
Minutenlang. Nur überholen. In den geraden Stücken, in den Kurven, in den Steigungen - wir überholen nur.
Hinter uns ziehen wir mittlerweile eine Traube ähnlich motivierter Jungs mit. Mal bin ich im Wind, aber meistens reihen wir uns hinter der "Arschbackenfrau" ein, wie Steve sie tauft: Eine wahnsinnig durchtrainierte Triathletin, hübsch anzusehen, tolle Figur, Aero-Räder - und ein Antritt, der mörderisch ist. Sie fährt mir etwas zu unberechenbar, zuckt noch zu sehr links und rechts, ich halte Abstand. Ihr Kollege ist ein ganzkörperrasierter Rennrad-Bolide mit einem schnieken Focus-Bike in kompletter Focus-Klamotte. Beide zerren uns durch den Hafen, dann durch Harburg.
Irgendwann sind wir in der Pampa - mit Rückenwind geht es nun 50 Kilometer straight nach Süden. Wir schlängeln uns durch Wälder, reiten Hügel und kleine Bergrücken ab, bald kommt Jesteburg. Am Straßenrand sitzen die ersten Familien, haben Tische und Frühstück auf die Gehwege geräumt, feuern uns an. Ein tolles Gefühl - wenn, ja wenn da nicht das ewige Reißen und kämpfen wäre: Steve hat sich schon vor 15 Kilometern mit Wadenkrampf nach rechts und ein paar km/h langsamer verabschiedet. Ich kann mich bei Rasur-Focus-Mann und der Arschbackenfrau halten.
Ab und zu überholen wir einige Pechvögel mit Defekten.
Ich bete, dass mir so etwas nicht passiert, womöglich noch bei 45 km/h inmitten von hetzenden, aggressiven und mit Adrenalin vollgepumpten Rennboliden. Einen Reifenplatzer von 8 Bar bei Fullspeed? Nicht so mein Ding.
Und ich bete, dass es keinem um mich herum passieren möge!
Direkt neben mir, ausgeschert, in mich hinein gekracht. Sturz. Oder vor mir, Vollbremsung - keine Chance, zu reagieren.
Und doch: Bei allen Risiken. Wir alle fahren am Limit. Geben alles: Keine 5 cm trennen mein Vorderrad vom Hinterrad der Arschbackenfrau. Neben mir spüre ich die Ellenbögen der Nebenmänner, hinter mir, wenn ich meinen Kopf drehe, kann ich das Weiße in den Augen der Verfolger sehen. Kein Raum für Fehler. Keine Chance, wenn es passiert.
Schlüsselbeinbruch? Wohl noch das Erträglichste. Ich selbst bin krankenversichert.
Meine Rennmaschine aber nicht. Und Carbon splittert schnell.
Ich muss an den Obdachlosen denken: Pervers, dass ich hier Angst um mein Rad habe?!
Aber für allzu philosophische Überlegungen bleibt keine Zeit: Die erste richtige Steigung zerrt an den Muskeln. Die Jungs schnaufen, quälen sich, schalten zurück, andere gar sind sich zu fein, überhaupt aufs kleine Blatt zu wechseln. Ich ziehe bequem an den Jungs im Berg vorbei - wieso geht das so einfach? Fast leicht, fast doppelt so schnell kann ich 20, 30 Fahrer überholen. Bin ich wirklich besser - oder mache ich was falsch? Egal, reingetreten.
Dann knickt die Strecke ab. Holm-Seppensen. Vorher geht es links, rechts, links durch ein Dorf, die Bewohner feuern uns an. In einer Kurve stehen Öko-Aktivisten. Sie brüllen die Fahrer an. Es klingt wie "Mööörder...!" - oder war es nur Anfeuern und ich habe sie missverstanden? Keine Ahnung. Keine Zeit.
Jaja, ich bin ja auch gegen Atomstrom. Gegen Vattenfall sowieso. Aber da muss man Radsport und Energiepolitik trennen. Geht das? Heute ja. Aber vermutlich nicht.
Ich habe jetzt ein anderes Problem: Gegenwind. Was uns gerade noch locker auf Geschwindigkeiten jenseits der 45 km/h katapultiert hat, schlägt uns jetzt brutal entgegen. Was das dem Peloton antut, ist sofort zu beobachten: Das vormals kompakte Feld, 50, 60 oder mehr Fahrer, die mehr oder weniger regelmäßig eine Art belgischen Kreisel vollführt haben, ist gesprengt. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht fährt jeder für sich. Schön hinter einander. Nur selten mal zwei nebeneinander. Und wer? Tja, klaro: Arschbackenfrau und Rasur-Focus-Mann. Die beiden peitschen die Fahrer an, ziehen und beißen. Und ich? Ich freue mich, lutsche an ihrem Hinterrad so gut ich kann, lasse mich mal, wenn ich nicht mehr kann, vom Windschatten anderer mitziehen, ausruhen, Kräfte sammeln, dann rausgehen - und nach vorn!
Schnell vergeht die Zeit. Die erste Verpflegungsstation verpasse ich fast, kann mir gerade noch eine Wassergflasche aus der Hand eines Helfers klauben, hastig stoße ich das Wasser hinab. In einer Steigung. Wieder das selbe Bild: Ich bin wieder massiv schneller als alle anderen. Was ist hier nur los?
Das erste Gel schlucke ich, dann verlassen wir den schützenden Wald der Schwarzen Berge und kämpfen uns durchs Alte Land. Und nun weiß ich es: Bald kommt der Höhepunkt der Cyclassics. Die Köhlbrandbrücke.
Die ganzen Jungs mit den gelben Starternummern - also die 100 km-Fahrer - grinsen sich einen ab: Sie haben nur noch 6, 7, vielleicht 8 Kilometer zu fahren, dann sind sie im Ziel. Für sie ist die Brücke krönender Abschluss. Noch mal quälen, noch mal beißen, dann wars das. Für uns, die wirr die grünen Nummern auf dem Rücken tragen - umso stolzer jetzt - ist die Brücker nur mehr eines von so vielen Hindernissen, die es noch zu überqueren gilt.
Langsam schälen sich die Pylone der mächtigen Brücke gegen den nun wieder bedeckten Himmel heraus. Langsam schneiden auch wir durch den Wind auf das Wahrzeichen Hamburgs zu. Ich fahre in einem Pulk von 8 dänischen Teamfahrern, die für eine Brauerei antreten. Es wird kaum mehr gesprochen im Peloton - noch stiller ist es als sonst, wo es schon kaum geredet wird. Die Brücke macht ihnen Angst.
Zunächst müssen wir eine Schleife unter der Auffahrt hindurchfahren. 40 Meter über uns auf der massiven Betonpiste sehen wir die Radfahrer wie an einer Perlenschnur aufgereiht: Minitaursportler, entrückt. Wie Ameisen so klein, nur nicht fleißig - sie scheinen fast zu stehen. Da hoch? Wir? Jetzt?
Das Peloton wird immer langsamer, fast schäme ich mich, als ich nach außen gehe und alle wieder zu überholen beginne. Ich schalte auf das kleine Blatte, schalte ein paar Gänge zurück und nehme die Steigung in Angriff.
Wow, geht das gut! Wiederum schneller als die meisten anderen hüpfe ich fast beiläufig die Piste hinauf. Am Ende der Brücke haben wir Benjamin, unseren Azubi, mit einer Kamera postiert. Ich rufe ihn an, dass ich gleich durchkommen werde. Er sagt okay. Na denn.
Totenstille, je höher wir kommen. Links von uns eine einmalige Kulisse: Hafenbecken, Elbe und dahinter grüßt der Michel. Sensationelle Ausblicke auf tausende Container, auf Frachtriesen, auf die Süderelbe unter uns. Ein schillerndes Band. Kein Fluss mehr. Jetzt seid Ihr es, Welt, die entrückt seid - wir schweben in einer anderen Sphäre.
Hinter und neben mir hecheln sie sich die Zunge aus den Lungen.
Ich trete ruhig, rund und - schneller.
"Probier´s mal, miiiit Gemütlichkeit ...", beginne ich zu pfeifen.
Einer neben mich guckt mir schmerzverzerrt und irgendwie völlig entgeistert auf die gespitzten Lippen. Fast gequält presst er hervor: "Na, da ist aber einer gut drauf!"
"Du nicht?", frage ich.
Er redet aber nicht mehr mit mir.
Oben ist einer von Greenpeace an der Brücke befestigt und protestiert gegen Vattenfall. Leider kann ich sein Transparent nicht lesen. Wir sind einfach zu schnell.
Durch den Hafen, über die Elbbrücken, Eisenbahnschienen, Gegenwind - Stadt kommt näher. Wir fliegen, wir sausen, es gibt kein Feld mehr, Einzelfahrer, alle 10 Meter. Kein Windschatten, nichts. Ich beiße, ich ziehe. Hinter mir zwei Jungs, Führungsarbeit will keiner leisten. Mir egal, leckt mich, ich gebe Gas.
Hafencity, Kurve 1, 2 und 3 und dann sehe ich ihn, den Hauptbahnhof, es kommt näher und näher, immer mehr Zuschauer stehen an den Seiten, feuern uns an. Feuern mich an. Mir gilt das alles hier.
"Achtung - Feldertrennung! 100 km Distanz, links einordnen - 155 km Distanz, rechts einordnen!" Monoton erzählt uns eine Stimme über die letzten paar hundert Meter, dass wir es noch nicht geschafft haben, die Gelbnummern aber schon. Sie sind glücklich, sie grinsen, sie beglückwünschen sich, jetzt schon.
Heiko, Steve, Jan - meine Mitfahrer, ihr habt es geschafft. Seid durch. Fertig. Könnt absteigen. Was trinken. Was essen. Und ich? Ich muss noch. Wollte es ja nicht anders: 55 Kilometer noch. Verdammt!
Ich ordne mich rechts ein, werde weg geführt von der Mönckebergstraße, deren Lärm und Beifall ich kurz vernehme, dann wieder das Gesurre von Freiläufen, das Schnaufen meiner Mitfahrer.
Dezimiert sind wir. Gerupftes Feld. Nur noch grüne Rückennummern. Geschlagen. Fertig. Und doch - erst zwei Drittel geschafft! Vorbei an Alster und Dammtor geht es raus aus der Stadt. Schleswig Holstein einen Besuch abstatten. Es stehen immer noch Massen an den Begrenzungen, feiern uns, feuern uns an. Ich nehme sie kaum wahr: Noch ein Gel! Nachspülen! Ah, das wirkt. Wirkt das? Es muss wirken!
Gemütlich wird es. 30, 32, mehr nicht. Wie eine Perlenschnur sammeln wir uns. Ein Shimano-Lindwurm, der sich durch die Stadt zieht. Gemütlich, behäbig. Lurup, hier wohnt ne gute Freundin, wir lassen es jetzt also gemächlich angehen? Okay, denke ich, reihe mich ein und fahre mit. Ausspannen. Sehr fein.
Aber Hamburg lassen wir wieder hinter uns.
Bei der Verpflegung halte ich nur kurz. Beim Absteigen durchfährt mein rechts Bein ein Krampf sondergleichen, ich schreie kurz, die Rennradler gucken, nicken - sie kennen das. Aus Badewannen werden Trinkflaschen mit giftrosa Energydrink befüllt. Ich reiche eine Flasche dem Mädchen, stopfe mir gleichzeitig sieben halbe Bananen und vier geviertelte Orangen in den Mund. Scheiß auf Etikette!
Und wieder aufs Rad. Au, das tut weh! 115 Kilometer geschafft. Na, den Rest packen wir auch noch! Ich beschleunige langsam - wir wollen den Krampf ja nicht noch ein mal provozieren - und reihe mich wieder in die Perlenkette ein. Eine Menge Jungs hält erst gar nicht bei der Verpflegung an. Wie machen die das nur mit ihrem Wasser? Ah, denke ich, klar: In den Trikottaschen auf dem Rücken einfach zwei Flaschen mehr mitnehmen, dann könnte man die 155 km überleben ...
Wir kommen aus Hamburg raus, ab auf die Autobahn, Schenefeld hinter uns - Pinneberg wird geschrammt, in Wedel sollten wir es fast geschafft haben. Autobahn. Freie Fahrt für freie Radler, denke ich mir. Einige hundert Meter vor mir sammeln sich Rennradler zu einer Traube. Die nachrückende Perlenschnur macht die Traube immer dicker. 50, 70, 80 Rennräder müssten das sein. Ein richtiges kleines Peloton.
Und wie bei einer Atombombe, deren kritische Masse irgendwann erreicht ist, zündet auch unser kleines Peloton irgendwann die Booster: Es wird beschleunigt. Hart am Wind. Es geht los! Die Arschbackenfrau und der Rasur-Klaus im Focus-Dress sind wieder mit dabei, einige andere Jungs auch, die ich noch kenne: Keine Gelbnummern mehr. Keine Bierbauchdaddies. Hier sind alles harte Kerle, abgebrühte, drahtige Rennradler.
42, 45 km/h im Schnitt, es ist ein harter Kampf. Ich habe Mühe, mitzuhalten. Einer ums andere muss abreißen lassen, es ist ein KO-Spiel - wer nicht mithält, ist verloren. Wenn du abreißen lässt, verlierst du den Windschatten der Gruppe - und dann kämpfe dich allein gegen den Gegenwind durch! Schnurgerade Autobahn. Keine Bäume. Nicht angenehm.
Ich reiße am Lenker, ich beiße. Löcher entstehen, hinter mir vier, fünf Wackelkandidaten, einer lässt abreißen. Aber halt: Bin ich nicht auch schon längst ein Wackelkandidat? Nicht abreißen lassen! Ich beiße die Zähne zusammen, komme wieder ans Feld, habe drei andere mitgezogen, gerettet Euch! Könnt ja mal Danke sagen ... aber dazu bleibt keine Zeit.
Ein Dorf, eine Kurve, Beifall fliegt vorbei - und wieder eine Tempoverschärfung. Wieder treten sie rein da vorn, die Arschbackenfrau, sie wills aber wissen heute! Wow, keuche ich, scheiße, Jungs, was soll das? Wieder schmecke ich blut. Ich keuche, keine Zeit zum Trinken, rankommen, rankommen! Wieder Anschluss, wieder die wohlige Stille des Windschattens. Aber wo vor ein, zwei Stunden noch beruhigend der Freilauf von gemächlichem Windschattenlutschen kündete, treten sie jetzt alle rein - aussetzen mit treten kann sich keiner leisten.
Und wieder schneller. Und wieder schneller. Ich kann nicht mehr! Bin hinten. Bin ganz hinten. Lasse sie ziehen. Muss aussetzen. Trinken. Nuckeln an der Flasche. Das Seifenwasser einsaugen. Warum hab ich Idiot nur eine Flasche auffüllen lassen???
Ich schaue wieder auf die Straße vor mir - das Feld, 500 Meter, 800 Meter vor mir. Dann verschwindet es in der Kurve. Aus. Das wars. Weg. Ich bin abgehängt. Ausgeknockt.
Beim Umdrehen erkenne ich vereinzelte wie mich hinter mir. Vor mir noch zwei weitere, die es nicht mehr mithalten konnten. Ich gehe in Untenlenkerposition. Beißen. Ruhig treten, das kann ich. Bin so viele tausend Kilometer alleine gefahren: Die restlichen 30 km schaffe ich jetzt auch noch!
Die Zuschauer, die ich jetzt treffe, feuern mich eher aus Mitleid, denn aus Begeisterung an, habe ich das Gefühl: Immerhin ist mein Feld hier schon vor Ewigkeiten durch. Und ich? Abgehangen. Geschlagen!
Aber hey - hinter mir sind die ganzen anderen, die, die es früher erwischt hatte, die, die früher schlapp gemacht haben. Das tröstet. Aber schiebt mich nicht.
In Wedel ist die Hölle los. Eine lang gezogene Rechtskurve, Volksfest, Massen an Leuten. Das baut auf, ein wenig. Sogar so sehr, dass ich meinen Vordermann endlich einhole. Ich setze mich vor ihn, will Windschatten geben, aber er lässt abreißen - selbst bei mir kann er nicht mehr mitfahren. Egal, denke ich, trete rein. Es läuft wieder ein bisschen besser. Wenig später sammle ich den zweiten ein. Auch er lässt mich ziehen. Und dann, kurz vor dem Wilkomm-Höft, da finde ich sie - versprengt, aber zu Vielt unterwegs: Mein Peloton. Oder zumindest das, was von ihm übrig geblieben ist.
Die Triathletin, die Arschbackenfrau hat ganze Arbeit geleistet: Vollkommen demolierte Rennradler quälen sich durch die Zuschauer. Und dann geht es in die Steigung. Bergauf Wedel - und das sind noch nicht mal die Steigungen von Blankenese! - zersprengt es den letzten Rest unseres Feldes! Ich kann es explodieren sehen. Vor mir, neben mir und dann auch hinter mir - die Reste des Feldes zerschmettern, scheitern an der Steigung. Aufgerieben. fertig.
Und mich plagen Ansätze von Krämpfen - diesmal im Unterschenkel links. Muss runterschalten. Langsam machen. Eigentlich könnte ich sie jetzt wieder alle überholen, ich weiß es - am Berg bin ich stark. Aber mit einem wabernden Krampf im Fuß? Nee, lass mal. Bei 8 % Steigung krampfgeplagt schreiend umfallen - nicht der Rennausgang, den ich mir erträume ...
Ich beiße mich die Steigung hoch - kenne das hier alles. Ist meine Trainingsstrecke. Kösterberg, schon tausendmal gefahren. Und doch: Heute ist es was besonderes. Vor mir, alle 300 Meter, sehe ich Rennradler. Langsam taste ich mich ran. Erst das schicke Pinarello. Dann ein Bianchi ganz in Celeste. Schweres Atmen. Und ich trinke den letzten Schluck Seifenwasser. Aus, das wars - jetzt muss das Ziel aber kommen!
Bergab geht es, Teufelsbrück, dann die letzte Steigung, lang gezogen, es tut aber nicht mehr weh. Keine Krämpfe mehr. Keine Radler mehr auf weiter Flur: Feld zerstört. Arschbackenlady und Steigung haben ganze Arbeit geleistet!
Ich komme Altona rein, jetzt sammeln wir uns wieder, 10, 15 Fahrer, ein kleines Feld kommt da zusammen, ein wenig Windschatten. Ein wenig Mut. Ein wenig nur. "158 km" steht da auf meinem Forerunner. Naja. Was solls.
Wir biegen durch die Neustadt, fliegen über den Kiez, dann links, dann rechts - und ehe ich es mir versehe, sind wir auf der Mönckebergstraße. Ich gehe rechts raus, will sprinten, schaffe aber nichts weiter, als den Speed meiner Mitstreiter zu gehen. Ziellinie. Freude quillt in mir hoch. Das wars. Aus. Vorbei. Yeah! Geschafft.
Wir werden in eine Seitenstraße geleitet. 5.000 Rennradler wollen ihre Transponder abgeben und ihre Medallien haben. Schmucklos, enttäuschend irgendwie. Massenabfertigung. Und doch: Alle grinsen. Man schnackt. Erleichtert, begeistert. Musik wabert durch Hamburg. Rennräder überall. Ich steige ab. Kann kaum laufen. Und doch: Es war der Wahnsinn!
Es folgen die Chauvie-Sprüche mit meinen Teamkollegen. Man vergleicht Durchschnittsgeschwindigkeiten wie Schwanzlängen. Wir trinken ein Bier, stoßen an auf uns Helden, verschweigen die Wunden, die wir gleich lecken werden und treffen eine Entscheidung, die aber schon wenige Meter nach dem Start feststand: Nächstes Jahr Cyclassics? Wir sind dabei!
Scheiß auf Atomkraft - aber das Rennen war der Hammer! Und nächstes Jahr, das schwören wir uns unisono, sind wir wieder am Start, Ehrensache! Und ich? Ich schleppe mich mit meiner Süßen nach Hause. Kann kaum gehen. An Radfahren - auch gemächlich ist nicht zu denken.
In meiner Tasche klimpert die Cyclassics-Medallie. Meine Startnummer, ich werde sie aufbehalten. Mein zweites Rennen, das war es also. Kurz und schmerzlos - wie leicht 4 StundenVollgas dann schon vergessen sind ...
Am nächsten Tag habe ich Muskelkater vom Feinsten - entdecke zwei neue Muskeln direkt unter meinem Arsch. Am Tag 2 nach den Cyclassics ist alles wieder fein.
Wie schnell so ein Körper verzeiht ...
Stats:
(offiziell) 157,8 km in 4:20:56 Stunden mit 36,12 km/h avg
4 Power-Gel
2 Energie-Riegel
2,3 Liter Energy Drink
.
Da warst Du recht flott unterwegs .... schade, dass Du nur noch die lange Strecke bekommen hast. Die Kräfte für 155km einzuteilen ist bestimmt schwierig und Du bist eher der Typ kürzere Runde und Vollgas :-)
AntwortenLöschennaja, nee, bin schon eher der langstreckentyp (nicht umsonst fahre ich die ganzen touren) - die 100er runde wäre mir auch zu kurz gewesen, denn wedel, blankenese - das war echt nochmal ein höhepunkt.
AntwortenLöschenhinzu kommt das "elitäre gefühl", die längste aller strecken gefahren zu sein. ich wollte eh von anfang an die 155 km machen ... :o)
kurze runde & vollgas ist auch nett, aber 2:30 h wären mir zu kurz gewesen, bei so einem event ...
LG
Hey,
AntwortenLöschensehr cool wie du dieses Erlebnis in deinem Blog aufbereitet hast, das lässt sich echt gut lesen und glückwunsch, dass du durchgekommen bist!
Ich bin auch mitgefahren die 100km Strecke, aber bei km 40 ca. bin ich mit in einen Sturz geraten. Schon vorher hat es ein paar mal in dem Feld geknallt mit dem ich unterwegs war. Aber als mir der Sturz wiederfahren ist haben wir die Gruppe verloren und das hat meinen ganzen Schnitt versaut, ich habe gehört die ist am Ende mit 41km/h + ins Ziel gedüst. Die neue Gruppe die ich gefunden habe war ein wenig langsamer am Ende hat es nur für einen 37,1 Schnitt gereicht. Das waren meine ersten Cyclassics und ich sehe das Event mit gespaltener Meinung. An sich ist es ja wirklich genial, vom Spaß und auch von der Organisation. Jedoch gibt es viel zu viele Leute im Feld die nicht richtig fahren können. Damit meine ich besonders das in der Gruppe fahren. Plötzlich ziehen Leute nach links und gefährden das ganze Feld. Falls ich noch einmal da mitmache werde ich die ganze Zeit rechts oder links an der Seite fahren, damit ich auch ausweichen kann falls wieder so ein Sturz passiert.
Na ja, wäre das nicht geschehen wäre ich auch so begeistert. Wenigstens konnte ich am Ende noch neben ein paar Profis radeln, die sich am Start aufgehalten haben ;)
MfG
hi mezzenstein,
AntwortenLöschendanke für dein comment! und danke fürs lob.
ist natürlich doof, dass du gestürzt bist. davor hatte ich auch angst.
bist du in HH? vielleicht hast du lust, mal ne ausfahrt zusammen zu machen? ich will morgen (wenns das wetter zulässt) mal auf ne kleine 60-80km runde.
kannst mich ja mal bei twitter anfunken (FastTransit)
ansonsten alles gute & lieben dank,
Lars
Da hast Du ja ein klasse Rennen hingelegt!Und training ist ja da bekanntlich nicht alles, die Erfahrung kommt dann auch noch irgendwann dazu.
AntwortenLöschenIch werd ja vielleicht kommendes Jahr meinen Einstand in die Rennszene geben (wenn auch eine andere ;-)). Bin gespannt, was mich dann so trifft!
danke olli!
AntwortenLöscheneine genaue analyse ist in vorbereitung. und klar, training ist nicht alles, aber ich denke, mit mehr power in den schenkeln hätte ich einige minuten gut machen können.
aber da spielen so viele faktoren rein ... trotzdem: ist ne supergeile erfahrung, die man da mit 20.000 anderen teilt.
und auf deine rennkarriere bin ich auch mal gespannt ... :o)
btw: das zeitfahren im okt. steht? dann würde ich mich auch mal anmelden.
Ups, ich hab wirklich gedacht, Du fährst lieber kurz und Vollgas :-)
AntwortenLöschenWas Mezzenstein schreibt, ist mir auch aufgestoßen. Leute, die scheinbar noch nie Grupppe gefahren sind, beanspruchen die ganze Fahrbahnbreite für sich und können einem schnell die gute Laune verderben ...