17. September 2013

Etappe 5 - HAUTE ROUTE ALPS 2013 - Einzelzeitfahren auf den Col de la Bonette

Als wir gestern noch nach der fiesen, heißen Etappe, dem ekelhaft schweren Endanstieg nach Pra Loup hinauf, den beiden Hammerbergen Col d´Izoard und Col de Vars am Tisch saßen, haben wir (mein Teamkollege Heiko und die beiden Hamburger Carsten und Christian) bei Fleischbergen philosophiert, was heute wohl "abgehen" würde.


Eiweiß soll´s bringen - Rohes Fleisch vor dem EZF.

Ich hatte den Fleischberg, im wahrsten Sinne des Wortes: Ein Tatar aus rohem Rindfleisch, dazu rohes Ei und viel Pommes Frites als Kohlenhydratlieferant. Ob das wohl geholfen hat?

Wir können früh ins Bett - gestern endet die Etappe kurz aber schmerzvoll, wir können sogar einigermaßen ausschlafen, da unsere Startzeit erst um halb 11 Uhr angesetzt ist. Ob das manche Teilnehmer schon als "Ruhetag" empfinden?

Spannung am Start: Einzelzeitfahren mit allem Pipapo


Die Fahrt von Pra Loup nach Jausiers, dem Startort, müssen wir auf unseren Rennrädern selbst vornehmen. Es sind etwa 13 Kilometer, die wir leicht bergan (bei Rückenwind) sehr gemütlich zum Start rollen. (Die Rückfahrt übrigens auch, außer Pra Loup hoch gibt es ein Bus-Shuttle)

Dort haben Sie eine schöne Startrampe aufgebaut, eine große Uhr und wieder viel Tamtam. Leider wenig Zuschauer - oder halt: Die kommen doch bestimmt erst später. Bei den Guten. Denn, wie immer bei einem Einzelzeitfahren, wird nach Reihenfolge im Klassement gestartet.


Wieder mit viel Liebe & professionell gemacht: Start zum EZF der HAUTE ROUTE

Das heißt also "von hinten nach vorn". Die, die im Gesamtklassement ganz hinten stehen, starten als erste. Der Führende - Peter Pouly - wird als letzter auf die Strecke gehen.

Aus irgend einem Grund haben wir es geschaft - sicher nicht bewusst - dass nach Etappe 4 Heiko und ich genau einen Platz getrennt sind, voneinander. Ich liege einige Sekunden vor ihm, also hat Heiko einen Slot genau vor mir.

Gestartet wird im 20 Sekunden-Abstand. Und das hat mir geholfen, eine Strategie für heute festzulegen.

Individual Timetrial - meine Strategie für heute


Ich beschließe, den heutigen Tag auf keinen Fall als "Ruhetag" zu nutzen - sofern es meine Beine zulassen. Ich bin nun 3 Etappen lang mit diversen unterschiedlichen Schmerzen gefahren und musste mich dazu gestern ziemlich eindeutig Heiko geschlagen geben. Wenn es geht, will ich heute etwas reißen.


Das Cervelo S5 ist bereit fürs Einzelzeitfahren

Hier kommt mir meine Platzierung zugute: Da Heiko genau vor mir startet, kann ich ihn in Sichtweite halten. Ich könnte versuchen, ihn einzuholen (20 Sekunden Uphill ist schon mal eine Nummer!) und dann sehen, was passiert. Heiko ist meine Referenz, ihn kenne ich, kann ihn gut einschätzen.

Je nachdem, wie ich seine Speed halten kann oder nicht, werde ich entscheiden, wie ich weiter verfahre.

Auf der Hinfahrt hatte ich keinen Herzschmerz, keine Beinschmerzen, nichts. Der Tag beginnt gut.

Die Startzeit rückt näher und ich drücke mir mein Gel rein, trinke noch einmal ausreichend Wasser (ich gehe mit 2 vollen 750 ml-Flaschen in das EZF) und begebe mich in die Startaufstellung. Der Puls dürfte jetzt so bei 180 liegen ...

00:03:00 - Die erste Hürde: Heiko einholen


Als Heiko dann auf die Strecke geht, gibt es fast einen Unfall: Genau vor ihm hat es eine Mutti (Gott weiß wie die das durch die ganze Security geschafft hat!) fertig gebracht, nichts ahnend ob der Fahnen, dem Gebrüll, der treibenden Beats, der alle 20 Sekunden losschießenden Starter und der Moderation, sich mit ihren Einkaufsbeuteln auf die Brücke, über die wir starten, zu mogeln.

Sie rennt genau in Heiko rein, als der von der Rampe stürmt.
Alles brüllt, alles ruft.
Mutti nickt nur und geht langsam, unbeirrt an die Seite.
Unglaublich ...


Heiko nach holprigem Start auf der Strecke

Heiko ist außer Sichtweite, ich rolle hoch, Kette auf das kleine Blatt (es geht sofort steil über die Brücke) mittlerer Gang rein, einklicken (beide Schuhe!) und warten.
Elend lange vergehen die Sekunden.
Heiko ist weg.
15 Sekunden to go. Der hinten ruckelt am Sattel.
Heiko ist weg.
10 Sekunden to go.
Oh man, Leute, los jetzt!
5 Sekunden to go.
Der Mann spreizt seine Finger ab und zählt zurück.
5
4
3
2
1 - Départ!

Ich trete rein, die kurze Rampe beschleunigt mich, sofort aber in die Brücke, nun treten! 30 km/h, aus dem Sattel, hinten, sich entfernend, rufen sie noch meinen Namen, erste Linkskurve, hochschalten, großes Blatt, treten, treten! Wo ist Heiko? Rechtskurve, 90 Grad, abbremsen, kleines Blatt, Bonette, es wird sofort steil, ab gehts, Wiegetritt.

Kein Heiko.

Ich setze mich, zwei Gänge runter - erstmal Tempo finden! Nur keine Seitenstechen oder sowas. Ruhig, ruhig! Langgezogene Rechtskurve, es zieht mächtig an, 8, 9 % stehen da, ich bin auf dem größten Ritzel, hohe Frequenz, noch immer: 19, 20 km/h.

Da! Heiko! Sein Hinterrad, er fährt gerade in die erste Serpentine über mir. Cool! Ich habe ein Ziel, so weit ist er nicht weg. Langsam ziehe ich an, versuche, die Speed zu halten, was aber angesichts der Steigung kaum gelingt.

Nach 5 Minuten habe ich ihn. Bin am Hinterrad. Er guckt sich nur um, unbeirrt dann, weiter nach vorn guckend, tritt er kräftig rein. Ich entscheide mich, erstmal runter zu kommen, passe mein Tempo an und halte sein Hinterrad.


Die da hinten sind schon weiter. Ob ich da rankomme?

Keine 2 Kilometer gefahren, da nähert sich von hinten der, der nach mir gestartet ist. Er überholt mich. Es ist ein Däne, wie ich an seiner Rückennummer erkenne. Sein Geschwindigkeitsüberschuss ist erschreckend. Ich schalte schnell: Wenn der einen Platz besser ist - und so viel schneller, dann bin ich ja jetzt eher zu langsam, oder?

00:09:09 - Hinterrad finden & Tempo forcieren


Dann entscheide ich mich, ziehe links raus und gehe mit. Statt 10, 12 km/h steht da nun fast permanent eine 15. Heiko zieht anfangs mit, hält es aber keine 5 Minuten aus, lässt abreißen und bleibt zurück. Wer weiß, wie sein Plan für heute ist?

Ich kann dem Dänen gut folgen. Er fährt gut: Schöne Linie, hohe Kadenz. Er atmet ruhig, aber etwas schnell, wie ich finde. Ich selbst fühle mich gut, noch zwickt nichts, ich trinke viel und bin sehr guter Dinge.

Schnell schmelzen die Kilometer. Nach einem recht steilen Stück wird es kurz flacher, hier fangen wir beide an, die ersten anderen Fahrer zu überholen. Da die ja vor uns gestartet sind, also langsamer als wir, müssten wir ja einige von ihnen bekommen. Wie Balsam für meine Seele: Ich fasse immer mehr Vertrauen in meine Leistungsfähigkeit heute.


Die Bäume weichen schnell - dann wird der Bonette wild-romantisch

Das Flachstück fahren wir mit 15 bis 17 km/h, der Däne atmet immer schneller, schnauft fast - und fährt auch schneller. Da wir aber erst 5,5 der mehr als 23 Kilometer Anstieg gemeistert haben, lasse ich ihn ziehen. Das ist mir dann doch zu krass.

00:21:33 - Vorsprung sichern & Ressourcen schonen


Ich schaue mich um: Kein Heiko in Sicht. Ich lasse etwas Speed raus, kann noch zwei weitere Mitstarter überholen und pendele mich nun bei um die 10 km/h ein. Das ist mein Ziel: Erstmal eine Weile bei nicht unter 10 bleiben (das wäre eine Zielzeit von 2:30 Stunden), dann weiter oben, wenn es geht, noch einen drauflegen. Negativer Split halt.

Dann kommt der "MTB-Klaus" in Sicht.


MTB-Klaus. Welche Zeit wäre er wohl gefahren?

MTB-Klaus ist ein in T-Shirt und Schlüpperhose gekleideter Franzose, der eine schwer aussehende Sporttasche um die Schultern geschnallt hat und mit seinen Speckturnschuhen in absurd hoher Kadenz mit quietschender Kette einen Teilnehmer verfolgt.

Ich kann das Duo schnell einholen und erkenne den Deutschen "Tim" (alle Rückennummern haben den Vornamen der Fahrer aufgedruckt). Ich ziehe an beiden vorbei und grüße. Klaus nickt, Tim sagt nur: "Kannscht vergesse - der Typ isch krass!"
Was er meint, merke ich schnell.

MTB-Klaus zieht raus und tritt noch absurder in seine Quitschepedale rein. Seine Federung wackelt, die gefährlich schwer aussehende Schulterbaumelsporttasche droht jeden Moment in den Abgrund neben uns zu stürzen - Klaus hängt sich an mich ran.

Lässig sitzt er da, seine Turnschuhe wirbeln um das kleine Blatt und er grinst. Alter ...

Mehrmals holt er mich ein.
Mehrmals ich ihn.

So lenkt mich das von mindestens 3, 4, 5 Kilometern ab, in denen ich mich auf Klaus, nicht auf die Steilheit konzentrieren muss.


Einsamer wirds. Die Luft dünner.

In einem relativ flachen Stück - 5, 6 % steil - merke ich, dass ich trinken muss. Ich habe knapp 10 Kilometer geschafft. Schnell ein Gel reingedrückt, dann nachspül...SCHEISSE! Ich komme von der Fahrbahn ab, das Vorderrad rechts 30 cm vom Asphalt runter in den groben Schotter, dann das Hinterrad, die Felge schleift am Asphalt, ich verkannte, klicke aus ... springe ab ... kann das Cervélo und mich gerade so aufrecht retten, ohne mich hinzulegen.

Phuuuh! Der Schreck fährt mir aus den und das Adrenalin in die Glieder.

Und alles, ohne das halbvolle Gel fallen lassen zu müssen ...

00:43:57 - Durchhalten & konstant fahren


MTB-Klaus hat sich nur kurz umgedreht, kurbelt aber schon längst uneinholbar und wenig später außer Sichtweite.

In Sichtweite kommt dafür ein französischer Teilnehmer, der wie kein zweiter das gesamte Feld - und auch die Organisation - jeden Tag aufs Neue inspiriert.

Er hat nur noch einen Arm. Und nur noch ein Bein.


Ein Arm. Ein Bein. Wille für Zwei. Respekt von 600.

Mit dem Armstumpf ist er - Klicksystem? - in den Lenker fest eingeklickt, am rechten Steuerhorn eine Doppelbremse sowie die Schaltungselemente. Sein Beinstumpf ruht in einer Plastikschale, die am Sitzrohr befestigt ist. Das Rennrad hat nur eine Kurbel.

So startet er jeden Tag vor dem Feld.
Und wird jeden Tag aufs Neue - irgendwann, früher oder später - vom gesamten Feld überholt.

Anfangs schockiert, später voller Anerkennung klopfen sie ihm auf den Rücken, wünschen ihm alles Gute, nicken ihm zu. Er kommt jeden Tag ins Ziel. Er humpelt jeden Tag, mit Prothese, zum Briefing. Und heute brutzelt er genauso wie wir in der heißen Sonne am Col de la Bonette.

Wie trinkt er nur?
Wie schafft er die Abfahrten bei 70, 80 km/h?
Bei Nässe?

"Bon Courage!", sage ich ihm jeden Tag, wenn ich dran bin.


Die Lazy-Boys: Ich kann viele überholen.

Ich habe nach 45 Minuten knapp 12 Kilometer geschafft und bin nach meinem Beinahe-Slowmotion-Crash guter Dinge: Wieder überhole ich eine Traube Fahrer, noch immer keinerlei Beschwerden, kein Herzschmerz, kein Seitenstechen, nichts.

01:09:31 - Erfolgserlebnisse


Bei Kilometer 15 fängt es an, Spaß zu machen: Ich überhole zwei Fahrer eines italienischen Teams. Wie immer, geschniegelt, die Räder blitzeblank, die Fahrer perfekt gebräunt, kein Gramm Fett, durchtrainiert. Sie fahren schnell und gut.

Ich aber schneller und besser.

Ist das der negative Split? Geht das heute?


Zwei Italiener. Werden gleich überholt.

In einer Kurve erwischt mich der Fotograf. Mir tut dieses Zeitfahren weh, klar, aber heute läuft es einfach perfekt. Es schnurrt, es funktioniert. Ich grinse halb, es ist der Rosenheimer, der mir "Alles Gute, Lars" nachruft.

Perfekter Tag heute! Und mich freut es doppelt: Denn vor zwei Jahren musste ich hier bei 4 Grad Schneeregen mit Ganzkörper-Dauer-Krampf keine 2 km vor dem Pass aufgeben. Heute werde ich ... eine gute Zeit fahren, alles gut machen, habe ich im Gefühl.


Super läufts heute!

Zeitfahren sind etwas ganz Besonderes. Die Konkurrenz ist man eher selbst, als dass es die Anderen sind. Klar, ich setze mir Ziele: "Den da vorn" oder "die beiden da hinten". Oder eben, Heiko zu schlagen. Aber am meisten will man sich selbst schlagen: Ehrlicher geht es kaum. Alle haben die gleichen Bedingungen, alle nur die Zeit als Gegner. Alle Vollgas oder nicht - am Ende hilft kein Windschatten, keine schnelle Gruppe. Nur du. Deine Entscheidung. Dein Wille.

Und Deine Beine.

01:24:17 - Durststrecke & Rückschlag


Bei Kilometer 17 komme ich nach einem recht schnellen, nur 1 bis 2% steilen Flachstück, um eine Bergflanke und blicke erstmals auf den Grat des Bonette. Augenblicklich wird es steiler. 10, 11 Prozent. Und ich stecke im Asphalt.


Der Felsgrat des Bonette. Der Mars ist nur roter, sonst nicht anders.

Schnurgerade, wie Damokles´ Schwert, schwingt die steile Strecke im kargen Fels. Die Sonne im Zenit, sie blendet mich, zwingt Tränen aus den Augen. Schweiß steht unter dem Helm, gepaart mit Hitzestau. Gehirn kocht.

Ich realisiere, dass das alles seinen Preis hat.
Unendlich weit weg wirkt die Spitze nun.

Ich merke es: 23 Kilometer nonstop bergauf. Das zieht Körner!


Zum Col de la Bonette ist es ein weiter, sehr weiter Weg.

Endlos zieht sich die Straße nun. Ich trinke die erste Flasche leer, stecke um, setze gleich die zweite an. Unten, rechts neben mir, geht es einige hundert Meter sanft in die Bergflanke. Dürre Linien markieren Wanderwege. Oder Wildpfade. Was lebt eigentlich hier oben? Gibt es Leben auf dem Mars?

Die Sonne sticht, das Trikot ist längst schon offen, Schweißperlen glänzen auf der Brust, ihre Schwestern und Brüder bilden Rinnsale die Nase hinab. Nun schnaufe auch ich.

Der Anstieg ab Jausiers ist laut Quäldich.de die ersten Kilometer bei durchschnittlich 5 bis 7% noch sehr moderat, dann 8 bis 9,5% im Schnitt - das ist mehr, als manch anderer Tour de France-Titan.


Die Schleife - Cime de la Bonette - unten am Ende der Passübergang.

Endlich erreiche ich die Spitze des Grates - vollkommen durchnässt, die Lungen brennen. Und dann sehe ich sie: Die Cime de la Bonette, die Spitze. Die angeblich höchste asphaltierte Straße Europas (die aber eigentlich in Spanien ist, naja ...)

Was - da noch hin? Viele knicken hier ein.
Ich nur ein bisschen.

01:32:41 - Endspurt? 


Ein kurzes, sehr schnelles ebenes Stück, dann habe ich ihn auf ein mal vor mir: Den Dänen! Ich fahre an sein Hinterrad, er bemerkt mich, dreht sich um, erkennt mich und nickt. "Los komm, Alter", denke ich mir, "den Rest rocken wir jetzt!"

Der Passübergang am Bonette ist nicht das Ende. Denn von hier aus windet sich die Straße noch einmal in einer 3 km-Schleife um die Cime de la Bonette - also noch 1,5 km bis ins Ziel!


Letzte Kilometer - heiß. Hölle!

Jetzt reiße ich alles raus, was geht, kann den Dänen kurz überholen, rufe ihm zu: "Come on, that´s the finish!", wir gehen beide aus dem Sattel, er stürmt an mir vorbei.

Vorn, da, ganz vorn, eine Fahne, eine rote Fahne, Leute stehen rum - das ist das Ziel! Ich gehe mit, stöhne, pruste, nun sticht es auch in der Seite, die Schenkel brennen, ich reiße am Lenker, ja Wahnsinn! Geht da noch was? Ich bleibe am Hinterrad des Dänen. Noch 200 Meter müssen es sein! Ja, Scheiße - los jetzt! Tritt rein, Alter! Kopf runter, ich hechle wie ein Köter ... dann, endlich, die Fahnen, ganz nah ... jetzt ... muss es doch ... ein Blitz.

Ein Blitz?

Der Fotograf lichtet uns ab. "Come on guy. 1.000 meters to go!"

Leckt mich am Arsch!


Der Däne zündet den Turbo.

Jetzt kommt der Einbruch - in meinen Garmin-Aufzeichnungen kann ich es genau sehen. Meine Speed sinkt stetig (oder wird es steiler?), zum Schluss schlauche ich mit 9 km/h dann mit 8 dann mit nur 7 km/h kurz vor dem Umfallen über den kochenden Asphalt.

Langsam kämpfe ich mich um die Kurve, der Wind wird stärker. Erste Zuschauer stehen da, feuern uns an. Es brennt nun überall, das Laktat läuft mir aus den Ohren, der Däne hat sich abgesetzt, bei ihm geht jetzt wohl der Turbo an: Er wird sogar noch drei Leute überholen und 4 Positionen vor mir finishen.

Mir ist das egal (und irgendwie schaffe ich es, vom elenden letzten Stück noch ein Foto zu machen), denn jetzt geht es nur noch ums Ankommen.



Für einen, der sich schon im Ziel glaubte, einfach nur der Depri!

Ich knarze an einem Streckenposten vorbei "Une kilometre" oder sowas ruft er, Autos hupen, oben hört man einen Moderator aufgeregt durch die Lautsprecher hämmern. Ich kann das Ziel noch immer nicht sehen - steil, steil! Ich kann nicht mehr ... Leute, ich kann nicht mehr!

01:45:21 - Endspurt & Laktatflut


Dann, endlich, der letzte Fotograf, er kann in Ruhe hundert Bilder von mir machen - ich brauche eine Ewigkeit, bis ich an ihm vorbei bin, könnte kotzen, denn mir brennen sogar schon Augäpfel, jeder noch so kleine Muskel, jedes Faserchen scheint sich in den Kampf geworfen zu haben, Trockenheit schnürt mir die Kehle zu - absurd!


Jetzt reicht es. Angekommen!

Und dann, auf ein mal, ich komme um die Kurve: Links und rechts Absperrgitter. Zunächst das nackte Alu. Dann mit Werbebannern beklebt, dann, wie die Himmelspforte, wie der Eingang ins Paradies. Der Zielbogen. Endlich.

Ich rege mich auf: Die Zielmatte mit der Induktionsschleife ist ein kleiner Hubbel - noch eine Steigung! Jeder Zentimeter tut einfach nur weh. Ich höre das "Piep!" der Zeitnahme. Und ich schwöre, ich bin in diesem Moment ausgeklickt und stehe.

Keinen einzigen Millimeter kann ich mehr treten!


Im Ziel: Es hat alles geklappt!


Ich stoppe meine Uhr.
Schiebe das Rad an die Seite. Muss meine Beine über den Lenker schwingen - hinten über den Sattel und sie würden mir in einem einzigen gigantischen Krampf abfallen ...


Auf der Cime de la Bonette. 

Der Ausblick ist Atem beraubend. Wenig Platz hier. Viel Wind geht, augenblicklich kühlen wir herunter. Ich greife mir ein, zwei, drei Becher Coke - wachschießen! Andere kommen rein, Leute jubeln. Und irgendwie: Jeder bleibt erst einmal für sich allein. Hier oben. Entrückt. Auf dem Mars.

Mein Herz kommt langsam runter.
Nur noch 180er Puls. Die Beine pulsieren.
Handschuhe zum auswringen.
Magen knurrt.
Mir pfeift das Blut durch die Ohren.

Alter, war das eine Schinderei!


Toller Ausblick. Selbst erarbeitet: Unbezahlbar!

Leute rufen ihre Verwandten an. Andere Pinkeln 2.700 Meter in die Tiefe. Ein Rundumblick wie aus dem Flugzeug. Eine wunderbare Aussicht. Der Lohn für uns heute, es wird nicht die wohl verdiente Abfahrt sein. Es ist dieser Augenblick, den wir hier alleine stehen, schlucken müssen, so hoch sind wir, japsend durch die dünne Luft atmen.

Und die grotesken Felsspitzen hier an der Grenze zu den Seealpen genießen. Keine 130 Kilometer von hier ist Nizza. Unser Ziel.

Rennergebnis: Die fünfte Etappe der HAUTE ROUTE ALPS


Zwei, drei klappen um. Sofort sind Helfer zur Stelle. Stabilisieren die Ankömmlinge, Fahrer helfen einander. Viele haben Tränen in den Augen, andere stöhnen vor Schmerzen, so sehr tut ihnen das bloße Atmen weh.


Für Einige kommt im Ziel der Kollaps.

Als ich zurück im Hotel bin, checke ich die Ergebnisse. Und bin so zufrieden, dass ich in Hochstimmung versetzt bin. Ich erreiche die Spitze des Bonette nach 1:49:36 Stunden.

"Das sind unter zwei Stunden!", freue ich mich und darf auch Heiko gratulieren, denn er bleibt mit 1:58:06 ebenfalls unter der 2h-Marke. Meine Zeit, das ist Platz 28 der Bestenliste von Quäldich.de.

Und was wichtiger ist: Zum aller ersten Mal erreiche ich die Top 300 der HAUTE ROUTE-Tageswertung. Es ist ein fantastischer 288er Platz (von noch 464 verbliebenen Männern in der Wertung) über den ich mich freue.

In der Gesamtwertung kann ich mich auf Platz 348 (vorher 368) verbessern und damit 5 Plätze vor Heiko landen, der sich aber auch auf Platz 353 (vorher 366) verbessert hat.

Ich staune: Peter Pouly fährt diesen Berg in 1:05 Stunden. Knapp eine Stunde?!

Was hat der denn gestern wohl gegessen?

Ausblick auf Etappe 6: Der Mann mit dem Hammer?


Wir treffen uns wieder alle Viere in Pra Loup in unserem alten Restaurant. Wir sind alle fertig. Wir sind alle froh und sehr stolz. Und ich vielleicht am meisten: Mein Plan ist aufgegangen. Ich konnte heute ein um 76 Plätze besseres Ergebnis erarbeiten, als Heiko.

Ich konnte Christian und Carsten, die jeweils auf Rang 384 und 432 reinkommen, fast schon deklassieren.

"Das Tatar hat gewirkt ...", meint er, als wir wieder die Speisenkarte wälzen.
"Richtig", erwidere ich. Und beschließe, es wieder zu bestellen.


Tatar? Double!

"Ich bestelle mal lieber das Doppelte ...", kündige ich meine Absicht an und lasse mir einen 750 Gramm großen Fleischberg kommen. Und Pommes. Auch Carsten und Christian ordern gleich 2 Riesenburger. In weiser Voraussicht.

Denn morgen, Etappe 6, das wird die Rechnung sein: Sie haben auf 143 Kilometern ganze 3 Pässe und einen Schlussanstieg mit satten 3.800 Höhenmeter für uns in petto.

"Na, ob heute ein Rang 400 nicht cleverer gewesen wäre?", denke ich so beim Kauen und kann mir fast schon vorstellen, dass ich die drei Jungs nicht wirklich geschlagen habe - sondern die vielleicht einfach nur etwas cleverer waren ...



Hier gibt es wieder meine Garmin-Daten des Einzelzeitfahren auf den Col de la Bonette.


Und natürlich haben sie wieder ein schönes Video des Tages gemacht. Leider wieder mal ohne mich zu filmen. Phöö! :-)








9 Kommentare:

  1. MTB Klaus.. geil! Aber mal ehrlich... so ein Berg rohes Fleisch ist schon etwas strange... aber solange es was nützt! Bin schon gespannt, ob es bei der folgenden Etappe gewirkt hat.
    Grüsse - Andreas

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    1. erstmal war es sehr lecker (sone art französisches zwiebelmett) und es ist schon richtig: früher haben die ja auch rohe steaks gegessen ... :)

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    2. aber haben sich die nicht die rohen Steaks vorher erst in die Radhosen gepackt, als Polster? :-)

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  2. frage... der im Video mit dem gelben Trikot No. 89', ist das der führende Fahrer?

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    1. ja, gelbes trikot, das ist der führende. er heißt peter pouly. zu dem mann schreibe ich beim bericht der letzte etappe etwas mehr.

      jetzt erstmal etappe 6, die aber auch schon mit etwas resümee ... sollte in 1-2 tagen live gehen.

      grüßle,
      L

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  3. Bei der Leistung die du bei der Haute Route gebracht hast, war der Hänger am Wochenende verständlich, ich habe mal deine zeiten bei datasport verglichen du warst ja trotzdem gut unterwegs so schnell war ich nicht. mfg Ingo

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    1. hi ingo,
      danke, das tut gut :-)
      aber: du bist angekommen, das ist, was zählt.
      grüßle,
      L

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  4. Klasse geschrieben und Glückwunsch zur Platzierung.
    btw Peter Pouly;
    Der Name kam mir doch bekannt vor;
    http://www.youtube.com/watch?v=TsaAbHrB5-g

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