Ich kann es mir nicht beantworten - ich selbst jedenfalls bin seit meinem ersten Renneinsatz in der Nach davor nie ruhig, kann kaum entspannen, geschweige denn fest schlafen. Ob es den Herren Profis jetzt auch so geht? Immerhin ist morgen das legendäre Monument Paris-Roubaix.
Für die.
Ich, ich habe die "Elbe Classics" - die erste große RTF in Norddeutschland.
Ich mache drei Kreuze, als mich das Handy um 7 Uhr (ist heute Sonntag?!?) aus einem nervigen Dahindösen hochschickt, von draußen fällt es kalt neblig schimmernd in die Wohnung, ich putze die Zähne, streife die Rennrad-Klamotten über. Auf dem rotglühenden Ceranfeld faucht wütend der Bialetti-Reaktor einen höchst leckeren Kaffee ins Aluminium. So kann der Tag beginnen. Ein bisschen früh zwar, aber hey - heute ist nicht Sonntag.
Heite ist Renntag!
Zwei dick mit Nutella beschmierte Stullen, ein Wurstbrot für die S-Bahnfahrt, das ist das Frühstück.
Mein Doping bereite ich auch vor - High5 IsoDrink in die eine Flasche. Die soll mir die ersten 50 Kilometer die richtige Menge Vitalstoffe und Zucker in die Arterien blasen. In die zweite Flasche das selbe, nur diesmal mit hochdosiertem Koffein-Anteil.
Denn wenn es heute nur halbsodoll Wind gibt, wie gestern, dann werde ich den Stimulus brauchen. Á propos "gestern" - ob das so klug war, nochmal den Waseberg zu fahren um anschließend die Windkante am Deich der Vierlande auszutesten? Die 100 km stecken mir in den Knochen.
Also packe ich mal noch 4 Power-Gels in die Trikottasche. Sicher ist sicher.
Mit Swantje - einer Mitstreiterin unseres German Cycling Cup-Teams Equipe SunClass - treffe ich mich wie verabredet 8:45 Uhr am Hauptbahnhof. Sie bringt noch Timo mit, einen Triathleten von Triabolos.
In der Bahn sieht man in jedem Wagen ein, zwei Rennradler - wie viele es heute wohl sein werden? Von 1.400 war im letzten Jahr die Rede. Ganz schön was los ...
Und das ist es auch. Wir erreichen die Startnummerausgabe in einer Schule am S-Bahnhof Neuwiedenthal. Trotzdem geht alles sehr flott - 10 Euro Startgebühr und 5 Euro Rückennummer-Miete wechseln in die Kasse der RG Harburg, die traditionell zu dieser ersten Hamburger RTF geladen hat.
Die Stimmung ist locker, wie immer vor solchen Events wird gejuxt und gefeixt, vielleicht, um die Anspannung zu übertünchen, sicher aber, um die langen Minuten in der dann doch sehr empfindlichen Frühkälte von 4 Grad zu wegzuwitzeln.
Wie sie es kontrollieren wollen, weiß ich nicht, denn alle stehen gleich an und an nichts ist die Distanz zu erkennen.
Timo und Swantje beschließen, es "sehr relaxed" anzuegehen. Was das bedeutet, kann ich nicht sagen, aber sie haben wohl nicht vor, heute in die Annalen der RG Harburg einzugehen.
Ich hingegen rechne mir heute dann irgendwie doch was aus: Mein Wintertraining auf der freien Rolle gibt mir eine enorme Zuversicht in meine Ausdauer - immerhin habe ich knapp 250 Stunden im GA1 und 2-Bereich verbracht und fühle mich - auch nach dem gestrigen Wind-Trip - richtig gut heute morgen.
Einige Daddies hier - verbissen, windgegerbt - sehen so aus, als haben sie ihren sportlichen Höhepunkt überschritten. Mir aber auf jeden Fall lieber, als die nervösen, aggressiven Schnöseltypen mit ihren Carbon-Boliden, die mir die Cyclassics bevölkert haben.
Und dann? Dann geht es plötzlich los.
Langsam. Laaaangsam setzt sich das Peloton in Bewegung. Swantje und Timo hinter mir. Wir klicken ein. Beschleunigen ... und bei 25 km/h ist Schluss. Hä? Was? Das ist doch nicht Euer Ernst?
Verwunderung.
Und dann der Hammer: Keine 500 Meter nach dem Start geht es hart links und vor uns türmt sich eine Wand auf. "Yeehaw!", frohlocke ich! Denn von dem Hammeranstieg gleich zu Beginn habe ich schon gelesen.
Es geht, sagen wir, 8 bis 11 Prozent über rund 2 Kilometer steil bergan. Schon sind die ersten außer Atem, schon strampeln und wackeln sie sich den Abhang hinan. Und ich? Ich schalte runter, kurbele ohne Probleme mit 5, 6 km/h Überschuss an ihnen vorbei.
Bin oben. Drehe mich um: Niemand folgt.
Okay. Dann halt zur Gruppe vor mir!
Ich trete rein, es geht noch bergauf, aber nicht mehr so stark, fixiere die Gruppe vor mir und kann sie einige Minuten später einholen. Windschatten. Ranfahren. "Moin" sagen. Mmmh. 27 km/h. Auch nicht so die Welt.
Wie auf einer Schnur reihen sie sich bis zum Horizont auf. Nasses Tau und kalter Nebel kleben mir an den Lippen. Ich fröstele nur kurz, denn ich sage mir - warm wird nur dem, der sich bewegt.
Also rausgehen, Kette rechts und ab dafür! Mit 35 kann ich ohne Probleme zur nächsten Gruppe aufschließen. Als die genauso schleicht, wie die Herren dahinter, nehme ich mir die übernächste Gruppe vor.
Ob das so klug ist? Ich zweifle ob der Leichtigkeit meiner Manöver. Ich überhole hier alles und jeden - keiner folgt mir, keiner macht Anstalten, sich an mich zu hängen.
Einen um den anderen hole ich ein, überhole ich und nehme mir den nächsten. Zu leicht? Kommt denn dann irgendwann noch ein Hammer? Ein Berg, eine Abfahrt, ein Teilstück - irgendwas, für das sie alle ihre Kräfte schonen? Und ich weiß von nix?
Holen die mich womöglich gleich beim ... was auch immer das sein mag ... ein und lachen mich aus?
Ich kanns nicht sagen. Und weil ichs nicht sagen kann, ich nunmal so gute Beine und keinen Bock auf einen 25er Schnitt habe, trete ich rein. Überholen. Überholen. Überholen.
Bis ich sie dann vor mir habe: Eine Gruppe, die es augenscheinlich genauso angeht, wie ich. Ah, herrlich - es dauert, es dauert wirklich, bis ich sie habe. Irgendwann hänge ich mich ran, habe sie - 35er Schnitt. Sehr gut.
Wie immer - RG Uni-Jungs sind dabei. Und die sind ja alles andere, als für Sonntagskaffeefahrten bekannt. Super kommen wir voran. Ich genieße zum ersten Mal den Windschatten, Zweierreihen, herrlich, dieses Konzert aus ab und zu einsetzendem Freilauf, das Bollern der Carbon-Laufräder. Ein Traum.
Dann der nächste Anstieg. Ich bin an 5ter Position. Langsam werden sie. Langsamer. Laaangsamer.
Und wieder: Irgendwie scheine ich der gebohrene Bergfloh zu sein, denn - obwohl ich anders als sie nicht auf dem großen Blatt fahre, sondern mit hoher Frequenz den Berg auf dem kleinen Blatt bezwinge - kann ich mich mühelos absetzen, fliege förmlich die Welle hinauf, errechne mir sogar gute Chancen, die nächste Gruppe vor mir zu erreichen.
Irgendwie ... sind die alle untrainiert? Das kann doch nicht sein! Oder doch?
Es geht Richtung Buchholz. Verstärkt fahren wir nun durch Wald. Eine tolle Straße - B-Straße, wenig Verkehr heute am Sonntag. Und wenn schon, bei eintausend Rennrädern auf der Piste sind selbst die verhassten PI-Kennzeichen vorsichtiger.
Die nächste Gruppe ist erreicht, im Windschatten ist es gemütlich.
An mir fliegen zwei in Blau gekleidete Jungs vorbei - Höllentempo! Ich widerstehe dem plötzlich freudig aufkeimenden Impuls, den beiden zu folgen, angesichts von Waden, die den Umfang meines kompletten Körpers haben. Sie rauschen nur so vorbei: Zuuuuusssssch!
Unglaublich! Sie treten einen extrem hohen Gang. Wo ich alle Sekunde mehrmals meine Knie unter mir auf- und abfliegen sehe, sind die mit einer stoischen, fast schon als Zeitlupe zu bezeichnenden Ruhe unterwegs, die einen vor Neid erblassen lässt.
"Nee, das lässte mal!", sage ich zu mir selbst und versuche, mich auf meinen eigenen Rhythmus zu konzentrieren.
Wie verlassen den Wald und stoßen in ein klirrekaltes Nebelfeld. Gespenstisch legt sich Stille übers Peloton. Kaum wird mehr gesprochen. Auch das charakteristische Ausschnauben des Rennschnodders, das man sonst immer um sich herum hört, ist kaum mehr wahrnehmbar.
Wie Geistersilhouetten schälen wir uns aus dem kühlen Dunst. Habe ich da Wasser auf meiner Sonnenbrille?
Der dreißgste Kilometer ist kaum angebrochen, da biegen wir plötzlich rechts ab und kommen zum Halt. Pause 1 ist erreicht.
Auf dem Parkplatz eines Möbeldiscounters haben sie Essen & Trinken aufgebaut, es gibt daumendick Nutella auf Rosinenbrot, Bananen, Riegel, Power-Drinks und jede Menge Jungs, die am Klönen und Schnacken sind.
Ich fülle mir meine erste halbleere Flasche auf, genehmige mir ein Rosinenbrot und bin schnell wieder auf der Strecke - ein Haufen gleichgekleideter Hühnen macht sich abfahrbereit, die sehen interessant aus, die Jungs: Da will ich mit!
Wenig später rollen wir wieder - und wie! Mit einem hohen 30er Schnitt treten sie hier rein, genau das Richtige. Ich belasse mich an 5ter, 6ter Position, halte mich von der Spitze fern, versuche aber, im vorderen Drittel des etwa 30 bis 40 Mann großen Grupettos zu bleiben.
Vorne fahren die charakteristisch in Gelb-Türkis gekleideten Herren des VfL Stade. Sie machen die Tempoarbeit unter sich aus - mir solls Recht sein. Flott sind sie und so haben wir schnell eine Speed, die wirklich ansehnlich ist.
Mittlerweile ist auch die Sonne herausgekommen und ich kann die langen Handschuhe ausziehen. Das zweite Gel ist ebenfalls schnell gegessen (das erste gab es kurz vor dem Start) und meine Strategie, mit einer Kombination aus hochdosiertem Energy-Drink (sonst nehme ich immer nur die Hälfte der empfohlenen Menge) und einem Power-Gel alle 30 Kilometer zu fahren, scheint aufzugehen: Ich kann ohne Probleme die Pace der VfLer mitgehen und fühle mich weder müde noch angestrengt.
Wenn ich da meine Beine beim Münsterland-Giro denke ... Katastrophe!
Ein langer Anstieg reißt unser kleines, feines Peloton wieder in die Länge. Ich kann es mit ansehen, ein Phänomen, dessen man sich mal sporttheoretisch annehmen sollte: Kaum hat das kompakt fahrende Feld die Steigung erreicht, brechen die geordneten 2er und 3er-Reihen auseinander, die Leute beginnen, sich einzeln hinter einander aufzureien und Geschwindigkeitsunterschiede kommen eklatant zum Vorschein.
Das Grupetto ist zerstört.
Unsere Gruppe zerreißt es auch an diesem Berg und so fahre ich mit nur noch 10 anderen an der Spitze dem Rest davon. Kläglich - oder heroisch, je nachdem, wie man es deuten mag - versuchen es einige im Wind allein hinter uns, zu uns aufzuschließen.
Nach und nach zeigt der nun hart von vorn kommende Gegenwind Wirkung. Wie bei den Profirennen, bei denen Erfolg und Mißerfolg von sich absetzenden Ausreißergruppen auch maßgeblich von den Windverhältnissen abhängt, kann unsere kleine Gruppe nicht die Speed machen, die sie bräuchte, um dem sich nun anscheinend wiedererstarkt von hinten nähernden "Hauptfeld" auf Dauer davon fahren zu können.
Vfl Stade holt sich uns wieder.
Aber okay, mir soll es recht sein. Immerhin steigert sich nun wieder die Geschwindigkeit. Teilweise, bei Ortsdurchfahrten, wird es sehr eng, aber ich muss sagen, sie fahren hier alle äußerst diszipliniert. Hut ab - das hätte ich nicht erwartet.
Aber vielleicht ist es auch logisch: Eine RTF, die keine Werbung macht, lockt dann wahrscheinlich weniger Spinner und Rennrad-Schwackowiaks an, wie, sagen wir mal, eine touristische Kommerzveranstaltung, wie die Cyclassics. (Cyclassics hin oder her - auf abgesperrten Straßen durch die City und über die Köhlnbrantbrücke, hat halt auch was).
VfL Stade macht an der Spitze richtig Tempo, zeitweise kratzen wir an der 40 km/h-Grenze, und obwohl ich mich mittlerweile auch vorn an 2ter Stelle zeige, bin ich noch immer voll da - schon mehr als die Hälfte gefahren und keinerlei Ermüdung, keine schwere Atmung, mein Herz pocht ganz normal, die Waden fühlen sich toll an - alles rollt und ich fühle die perfekte Rennrad-Performance heute.
So holen wir ein, zwei weitere, größere Gruppen ein. Das ist dann immer sehr spannend, denn mit einer in 3er-Reihen fahrenden Gruppe geordnet eine ebenso breite langsamere Gruppe zu überholen, kann einen manchmal auf die Gegenfahrbahn treiben - und dann wirds spannend, wenn Autos kommen. Doch auch hier rufen und warnen sie alle diszipliniert - nichts passiert, nicht geschieht. Ich habe von keinem einzigen Sturz heute gehört.
Wieder ein Berg.
Wieder ich, der vorfährt, wieder ich, der den Anstieg als erster meistert, wieder ich, der sie alle abhängt. Verflucht, so begnadet bin ich doch gar nicht!?
Na, da fängt wohl ein Größenwahn an, durchzubrechen. Muss die Sonne sein ...
Aber wie beruhigend, wenn sie mich dann nach den Anstiegen wieder ein paar Minuten später einsammeln, ich mich wie gewohnt im vorderen Drittel einordne und mitrollen kann.
Es folgt ein Stück auf einem schmalen Bauernweg - Vorgeschmack auf das (ich darf es ohne Übertreibung hier ankündigen) furiose Schlussstück dieser Elbe Classics-RTF. Ich klemme mich an die Stader-Hühnen und klopfe mir bei jedem Kilometer auf die Schulter: Das war wirklich genau das richtige Training in diesem Winter! Denn wie sonst könnte ich so lange so schnell mit den organisierten Rennrad-Tieren hier mithalten?
Dann ein Dejá-vù: Die Schwarzen Berge. Harburg. Von weitem habe ich eben noch den Nebel weiß schwebend wie eine Untertasse über der Bodenwelle, die wie eine massive Mauer Hamburg vor dem Süden beschützt, gesehen. Nun rollen wir den Abhang hinunter, es geht rasant mit 43, 45, teilweise sogar 54 km/h. Motorräder heulen auf, überholen uns mit 180 - mich reizt das nicht!
Ich nehme mir ein Herz - und lasse den VfL hinter mir. Ausreißversuch!
Einige Zeit geht das gut. Ich schieße bergab, kann mich trotz Gegenwind richtig gut behaupten, kurbele in Untenlenker-Position stetig in einem hohen Gang und kann sogar noch einige Einzelfahrer überholen.
Weit vor mir sehe ich eine größere Gruppe, die will ich erreichen! Mittlerweile brennt es heiß in meinen Lungenflügeln. Unter der Wollmütze, die ich gegen die Kälte unter dem Helm trage, wird es immer nasser, die Nase läuft - keine Zeit zum Schnauben! Nur ja die Hände am Lenker lassen!
Die Gruppe werde ich so nicht erreichen, zwingt sich mir die Erkenntnis auf. Und nun? Zurückfallen lassen? Wie peinlich!
Zwei, drei andere überholen mich schließlich. Ziehen davon. Demütigend. Aber hey, sie sind halt schneller. Ein nächster kommt, überholt mich - Radsportgruppe des FC St. Pauli. Tarnklamotten als Rennrad-Bekleidung. Roter Stern, braunes Wappen. Pauli halt.
Glatt rasiert pulsieren strenge Sehnen in seinen Waden, er kurbelt, hat schon 20 Meter Vorsprung auf mich, da überholt mich ein weiterer Fahrer, RG Uni. Der schließt zu dem Tarnmann auf, ich zucke in den Windschatten der RG Uni - obschon ich weiß, dass es sinnlos ist zu versuchen, an den beiden dranzubleiben. Die brennen hier mit 45 km/h Streifen in den Asphalt.
Es ist die Pause Nummer 2, die mich plötzlich rettet.
Zu Hunderten liegen Rennräder am Straßenrand, pflastern Baumstämme zu wie wuchernde Pilze. Fast scheine ich mich an meine jugendlichen Festivalbesuche erinnert zu werden, denn hier stehen sie an, wie als wenn es nur ein Dixi-Klo gäbe, schnacken und klönen, die Sonne scheint, als wäre eine harmlose Sozialpädagogenzusammenkunft, denn so sehen die meisten hier tatsählich aus, sobald sie den Helm ab haben. Kilometer 79 - ich habe Hunger!
So türme ich mir eine Schmalzstulle, eine mit Salami und eine mit Käse zu einem übertriebenen Vollkorn-Push auf und halte wohlig schmatzend meine Nase in die laue Sonne.
Da sitzen sie, ruhen sich aus. Mir treibts aber das Gebäck in die Speiseröhre - ich will weiter so schnell wie möglich, immerhin will ich hier heute Rennen fahren, nicht neue Freunde gewinnen.
Ah, wo wir bei Freunden sind - ich beiße gerade in eine halbe Banane, als das Peloton aus Gelb-Türkis einfliegt. Einen sauberen 10 Minuten-Vorsprung haben wir da also herausgefahren, auf die Herren aus Stade!
Weiter geht es. Ich widerstehe dem Harndrang - sind ja nur noch 40 Kilometer!
Zusammen mit etwa 15 Fahrern, die meisten im altbekannten RG Uni-Design, mache ich mich auf den Weg. Merklich ziehen sie an, 35, 38 km/h habe ich digital stetig unter mir auf dem Garmin stehen, sie polken hier wirklich was zusammen!
Der "Boss" der Gruppe ist ein extrem dürrer Typ mit langen, schwarzen Haaren und einem Drosselbart-Bart. Er fährt an zweiter Position (ich bin dritte) und gibt pünktlich, 500 Meter vor jedem Ortseingangsschild immer wieder den Sprint frei. Wie die Idioten ziehen dann die beiden Führenden - oder gern mal ein RG Uni-Mann von hinten - in den Wind und geben alles, um den zweifelhaften Sieg, lachs kommentiert vom Dürren Hecht, zu erringen.
Ich kann da nur grinsen und den Helm schütteln - aber hey, solange sie Spaß haben, ist ja alles in Ordnung. Hinter einem Cervélo RS-Fahrer und einem Bullen auf einem uralten Alu-Orbea ordne ich mich ein.
Bei dem einsetzenden Seitenwind müssen nun alle ordentlich ran - viel ist hier nicht mehr mit Windschatten.
Die RG Uni-Jungs machen Tempo. Richtig Tempo. Es sind keine 20 Kilometer mehr bis zum Ziel und das scheinen sie zu spüren. Mit 35 bis 40 km/h fliegen wir durch Wulmsdorf, erstmals geht es hier in einer abschüssigen, rasanten Linkskurve durch eine Straßen- oder Schienenunterführung - ich habe Glück, bin an zweiter Position und kann so vollkommen befreit und ohne auf Nebenmänner achten zu müssen diesen einmaligen Rausch genießen - der Tunnel ist sonst für Radfahrer gesperrt.
Hinter Wulmsdorf zieht sich das Feld in die Länge, dann geschieht es - fast vollständiger Stopp!
Wir fahren auf einen etwa 100 Radfahrer starken Konvoi auf, sie zuckeln mit 25 km/h über den nun wieder extrem schmalen Asphalt. "Verdammt!", rufen sie hinter mir, und Recht haben sie. Im Plauderton unterhalten sich die, die wir da einholen: Sind das die Spätgestarteten? Die, die nur die 89 km fahren?
Ich sehe meinen Schnitt leiden - ungeduldig drängle und quetsche ich mich- die Rennradetikette vergessend - links und rechts an den Muttis (ich sehe sogar Trekking-Räder!) und Papis vorbei, einige Male kommen uns sogar Spaziergänger, Leute mit Hunden an viel zu langen Gassileinen und manch Auto entgegen. Hochleistung, auf diesem engen Weg sturzfrei zu manövrieren!
Mit mir schaffen es nur 8 andere, sich vor die schneckenlahmen Massen zu setzen. Eine letzte Ampel, und sie sind weg.
Was nun folgt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Feuerwerk des Rennradsports, meiner bisherigen bescheidenen Rennfahrerkarriere. Etwas, auf das ich jetzt, nachdem ich angekommen bin, umso stolzer bin - was nun folgt kann mit Fug und Recht als ein Paris-Roubaix á la Fabian Cancellara bezeichnet werden. Und - richtig! - Cancellara, das bin in diesem Falle ich!
Die Strecke, noch immer keine 3 Meter breit, wird zusehends schlechter: Löcher, Falten, Split, Steine und Pfützen. Ich fahre hinter einem RG Uni-Mann, wir haben 38 km/h drauf, zeitweise verrückte 40! Wir poltern über den groben Weg, dass ich Kieselsteine von meinem Hinterradmantel umhersprühen hören kann.
Er geht aus dem Wind, ich übernehme - na, ein mal muss ich ja!
Ich gebe alles, ziehe und ziehe und kann tatsächlich die ganze keuchende Meute auf 38 km/h halten! Enge Kurven links herum, rechts herum, wow, wir klatschen nur so über die Straße, ich pruste Sauerstoff vernichtend vorneweg und male Feuerspuren auf dem großen Blatt in die Holperpiste. Noch 15 Kilometer.
Irgendwann gehe ich nach rechts, Freilauf, winke den Nächsten in den Wind. Nichts passiert. Ich lasse rollen. Da kommt der RG Uni-Mann vorbei und nölt: "Na, dann müssen wir zwei das halt machen!"
Er tritt rein, ich folge ihm, hinter mir haben sie ein Loch gelassen, die Lutscher fahren es erst zu, als ich wieder an Position 2 bin, lassen sich schön ziehen. Ah, so fühlt sich das also an. Gut, dass ich vorhin noch ein weiteres Gel eingeworfen habe. Zwei, drei Kilometer gibt der RG Uni-Mann Vollgas, der enge Weg wird immer schlechter, die Schläge, die mein steifer Carbonrahmen abbekommt, tun langsam in den Handgelenken weh - ich schaue auf den Edge. Eine 40 km/h steht da. In Stein gemeißelt. Wow!
RG Uni geht aus dem Wind, ich bin wieder dran.
Scheiße. Ich kann doch nicht mehr!
Okay. Die Pflicht ruft, wir sind ja gleich da! Ich trete, schreien möchte ich, nun, da ist es, dieses Ätzen in den Beinen, die Kniffe, das Zwicken in den Waden. Lungen, trocken und heiß - trinken? Bei dieser Holperpiste unmöglich! Alle paar Meter Kurven, dazu Wellen.
Wir fangen wieder an, Einzelfahrer zu überholen. Haltung bewahren! Selbst rufe ich mir Kraft zu, schöpfe aus dem Nichts, trete und trete - "Shut up, Legs!", sagt Jens Voigt immer, und das tue ich nun auch. Ich, die Lokomotive, ziehe hier 8 Jungs über rauhes Gestein! Wie geil! Wie sehr das weh tut!
Eine Kurve. Es geht mit 40 rechts herum. Eine kleine Welle hinauf. Plötzlich mir gegenüber ein tiefschwarzes Ross, ein Einspänner, der Kutscher zähmt das Pferd, es bockt, mein Herz schießt auf 250 Puls, wie bescheuert trete ich, hinter mir brüllen sie "Reeeechts!", ich fliege am Pferd vorbei, die Kutsche mit der einen Hälfte gefährlich geneigt im Feld, das Pferd streckt zur Balance den linken Vorderlauf in meine Richtung, Alter!, vorbei ich! Alle kommen durch. Schrecksekunde, Panik!
Ich lasse etwas Tempo raus, 37, 36 - gut so!
Wieder Wechsel, wieder RG Uni vorn.
Ein, zwei Kilometer - länger hält man das vorn nicht durch.
Und auch im Windschatten: Der nützt hier nicht viel. Man muss sich dermaßen konzentrieren, allenthalben tiefe Löcher, einige ohrenbetäubende Schläge reizen mein Carbon aufs Äußerste - wie im Rausch trete ich die Dura Ace-Kurbeln.
"All out!", heißt nun die Devise, alles raus. Scheiß was, nun musst Du vorne bleiben! Du musst! Musst!
Wir schießen in Hamburg ein. Ich ganz vorne weg. RG Uni ist hinten. Ich drehe mich kurz um: Zehn, zwanzig Fahrer etwa 200 Meter hinter mir. Keuchend, mit leuchtenden, irre blickenden Pupillen, haben sie mich fixiert?
Und dann vor mir, zwei alte Bekannte: Die blauen Jungs mit den Monsterwaden, die nur im höchsten Gang fahren. Wie besessen, wie ein Irrer kurbele ich, richte mich im Wind auf, trete höher und höher, um aufzuschließen. Hab Euch! Ein Sieg, so süß, so süß!
Und dann lassen auch sie sich zurück fallen. Was ist los? Was ist los mit Euch?
Ich bin wieder allein. Ganz allein - und vorn. Habe alle meiner Gruppe überholt.
Alle stehen gelassen!
Mein Husarenstück: Ein Jedermann-Cancellara!
Glücklich, abrupt endet der Kampf, eine Rechtskurve und ich bremse ab.
Das Garmin quittiert mit einem "Beep", dass diese RTF nun vorbei ist.
Ich halte an, klinke mich aus. Adrenalin schwappt mir aus den Ohren. Sabber hängt mir im Bart. Glücklich, zitternd, stelle ich mein Rennrad in eine Hecke und laufe wortlos zur Startnummernrückgabe.
Als ich wieder draußen bin kommen sie an: RG Uni, die anderen Roten und wenig später VfL Stade. Na, auch schon da? Ich mache mich dann mal auf den Rückweg.
Ha! Heute hatte ich einen Supertag, das müsst Ihr mir lassen!
Ich habe mitgehalten, wo ich sonst Probleme gehabt hätte.
Ich habe Euch an allen Bergen stehen gelassen.
Ich habe sogar die Blauen Jungs geschnappt.
Und ich habe meinen persönlichen Tiger-Ritt auf dem Roubaix-Stück dieser Runde abgeliefert - habe Euch gezogen, wo keiner mehr konnte, bin immer wieder im Wind gewesen, wo Ihr nur gebremst habt, weil Ihr nicht mehr konntet!
Heute war ich es.
Heute war ich Cancel-Lars-a!
Zufrieden sitze ich in der S3 und schreibe Swantje eine SMS. Ich werde nicht mehr auf Euch warten, Sorry, wo auch immer Ihr seid. Ich muss heim - einen leckeren Kaffee aus meinem Bialetti-Reaktor, den habe ich mir verdient!
Es ist 13:30 Uhr, als ich die Nachricht verschicke.
14:00 kommt Swantjes Antwort: "Wir hatten eine sehr erholsame Tour." Na bitte!
Zuhause angekommen erwartet mich eine lange, heiße Dusche und die Erkenntnis, dass ich heute einen perfekten Tag hatte - meine persönliche Form war überragend und mit dem 31er Schnitt, den ich gefahren bin, bin ich Welten zufriedener, als mit meinem 36er Schnitt von den Cyclassics: Bei diesem Wind, diesen Bergen und Mauern, dem ständigen Anhalten bei roten Anhalten einen Schnitt über 30 zu machen, ist mehr, als ich erwartet hatte.
Und so freue ich mich auf den Bericht auf Eurosport, der heute 20:15 Uhr vom echten Paris-Roubaix laufen wird. Und eines weiß ich: Ich werde grinsend gespannt auf meiner Couch liegen und ab und zu an meinen eigenen Husarenritt denken.
Allez, allez!
Gefahren 107,89 km in 3:35 h mit 31,6 km/h avg - die komplette Statistik hier auf Garmin-Connect.
Danke RG Harburg - sehr geile RTF und nächstes Jahr bin ich wieder dabei!
.
Mann, Mann, Mann, was musst du Adrenalin getankt haben, dass du nicht bemerkt hast, dass die erste Verpflegung bei trenga (einem Radladen, der aber wohl kein Cervelo führt ...) war, nicht nebenan bei Möbel Kraft. ;-)
AntwortenLöschenecht? DAS war trenga??? hab ich nicht bemerkt ... aber trotzdem witzig :-)
AntwortenLöschensry trenga. aber das muss so stehen bleiben ...