2. August 2012

Cooked. Stirred. Pureed. Bei der La Leggendaria Charly Gaul 2012

Ich liege nach dem Rennen, der La Leggendaria Charly Gaul 2012, im Bett, bin geduscht, heißes Blut zirkuliert durch pulsierende Adern. Es klingelt das Zimmertelefon, ich gehe ran: "Ey Digger!", es ist Flow, "Mach mal RAI-Sport an!"

Tatsächlich: Auf RAI-Sport 2 haben sie eine 3(!)-stündige Sendung zum Rennen. Eine ziemlich attraktive, blonde Italienerin - Claudia, wenn ich recht verstehe - moderiert ...


"... nahmen wieder über 4.000 rennradbegeisterte Sportler an diesem Event teil. Es war ein herrlicher Tag im herrlichen Trentino - Sonne, Hitze und ein starker Wind. Ein Tag, an dem Helden geboren werden. Auch viele Ausländer zog es wieder zur La Leggendaria, wie unsere österreichischen und schweizer Nachbarn, die über die Alpen kamen, Amerikaner, Briten, Belgier, Franzosen und Deutsche. Ein Deutscher, liebes Publikum, ist mir besonders aufgefallen: Die Startnummer 5120 - Lars Reisberg. Ein wunderschöner Mann, ein Traum von einem Teutonen - drahtig, pfeilschnell, blond und einfach nur eine Augenweide, wie er sich bewegt auf der Bella Macchina, wie er hübsch aussieht - ich glaube, er hat mir am Straßenrand sogar ein mal zugezwinkert ..." Haaach, bella Claudia. Sie rollt so schön das Rrrrrr, die sie "Leggendarrria" sagt ... ich dämmere mich im Traum weg. Und schlafe halluzinierend vor dem Fernseher ein.

Die Anreise nach Bella Italia

Begonnen hat alles gestern, als wir - Die SunClass-Stammbesetzung für die alpinen Rennen - Heiko, Florian und ich, in Venedig landen, uns den Mietwagen schnappen und die knapp 200 Kilometer nach Trnto fahren.


Die Stimmung ist wie immer gut. Obschon bei meinen beiden Kameraden ein bisschen die Angst mitschwingt: Über 4.000 Höhenmeter wird uns dieses Rennen abverlangen und das auf nur 138 Kilometern Länge. Es ist das Rennen mit den meisten Höhenmetern im SunClass-Rennkalender und Heiko ist deshalb auch sonderbar still: Die Lektion vom nahen Kollaps bei der Val d´Aran Cycling Tour vor 2 Wochen steckt ihm wohl noch sehr in den Knochen.

4.000 Höhenmeter - und das alles nur an einem einzigen Berg: Dem Monte Bondone.


Unser Hotel ist das "Sporting Trento". Etwas weitab vom historischen, wunderschönen Stadtkern, aber dafür genau zwischen Zwei Autobahnzubringern und einer Fernverkehrsstraße gelegen. Vor meinem Fenster wälzt sich der Verkehr zum nahen Brenner-Pass. 50 Kilometer weiter nördlich ist denn dann auch schon Bozen. Im Nachbartal - Nord-Westen - lockt der Stelvio, den ich vor einigen Wochen beim Dreiländergiro gemeistert habe, und noch ein Tal weiter ist dann auch schon Sölden - wo mir der Ötztaler Radmarathon winkt.

Und weil dieser mit über 5.500 Höhenmeter dieses morgige Rennen noch einmal kräftig in den Schatten stellen wird, kann mich Heikos vorsichtiger Respekt vor der Leggendaria nicht anstecken: Ich hab da nämlich ganz andere Sorgen ...


Am Hotel, ein Neunzigerjahre-Zweckbau, fällt uns die Wilier-Beflaggung auf. Überall, wo man nur hinschaut, Wilier Triestina-Banderolen, Prospekte, Typen in roten Jacken (Amerikaner) und jede Menge schicker Rennräder: Da lehnt sich ein Zero7 an das andere. Und zu meinem Vergnügen auch viele der neuen - und wunderschönen - Cento1.

Wilier ist Hauptsponsor der Leggendaria, und wie es aussieht, haben sie hier das halbe Hotel gemietet.

Ich spreche mit einem der Typen, ein Texaner: "Oh, yeah. Sie haben uns für 4 Tage hier eingeflogen, wir haben Wilier besichtigt, konnten die Räder testfahren und nun morgen das Rennen ... genial!"
Es ist eine Eventreise für die amerikanischen Wilier-Premiumhändler.

Besser als nach Budapest in jedem Fall ...


Die Anmeldung ist wieder einmal witzig. Im Rathaus der Stadt - mit riesiger Wilier-Fläche - stehen wir zunächst an der falschen Schlange an: Die Leggendaria ist ein Lizenzrennen. Alle Teilnehmer vor und hinter uns in der Schlange holen ihre Rennlizenzen heraus. Flo, Heiko und ich habe keine.

Bei der Anmeldung

Ein älterer Herr holt uns Tagesstarter (von 470 Fahrern der großen Strecke sind 60 Tagesstarter dabei) aus der Schlange - wortreich, wie immer) und schickt uns zu dem Herren, der eigentlich für uns zuständig ist. "Ah, die Tagesstarter ... habt Ihr die ärztlichen Bescheinigungen dabei?"
Klar haben wir die. Ein Graus: Auf der Website stand, dass man als Nicht-Lizenzfahrer unbedingt eine (als Vordruck downzuloadene) Bescheinigung vom Arzt mitbringen müsse, um die Tageslizenz lösen zu können. Ein Hazzle - so müssen wir drei (10 Euro wieder mal fürs Quartal) zu unseren Hausärzten um diesen Schriebs ausfüllen zu lassen. "Si, si", bestätige ich und krame nach den Formularen. "Ah, no, no, isse okay ...", winkt der Mann ab. Sehen will er sie nicht - unser Wort reicht ihm.

Hach, Italien ...



















Als wir dann endlich alles haben: Einen tollen Startbeutel, das offizielle Trikot und die Startunterlagen, wollen wir uns noch die Pressekonferenz anschauen (die RAI-Sport-2 auch aufzeichnet), aber sie übersetzen nur die einleitenden Worte: Alles andere dann "aus Zeitgründen" auf italienisch. Da gehen wir.

Trento genießen wir nur kurz: Der diesjährige Etappenzielort der Transalp und Hauptstadt des Trentino wird umgeben von massiven, steilen Bergen - unter anderem der Monte Bondone in drohender Sichtweite - glänzt selbst mit wunderschöner, mittelalterlicher Architektur im Stadtkern und den obligatorischen Betonbausünden.

Ein Dreigängemenü soll unsere Kohlenhydratspeicher aufladen, ich genehmige mir ein Schlafbier - Flow und Heiko bleiben bei der Schorle. Sie reden nur über den "Monte Bondone" und die 4.000 Höhenmeter ...


Abends im Hotelzimmer, als ich mir die Klamotten bereit lege und das Rennrad mit Startnummer und Transponder versehe, blättere ich in der Rennbroschüre. Wie professionell und liebevoll sie das alles gestalten: Streckenprofile, ausgiebige Informationen über das Rennen, seine Geschichte, die Labestationen und vieles mehr: Man merkt, dass hier eine ganze Region seit Jahren professionell in dieses Rennen investiert.

Man merkt auch, wie stolz sie auf dieses Event hier sind und welchen Stellenwert der Rennradsport in Italien hat. Undenkbar - leider - so etwas in dieser Qualität in Deutschland zu haben.


Ich genieße den Sonnenuntergang von meinem riesigen Balkon aus - nebenan hat Flow schon das Licht ausgemacht. Über 1.000 Sender inklusive dem kompletten Sky-Paket bieten sie uns hier kostenlos auf dem Zimmer an - und doch weiß ich, dass die Jungs schlaflos in ihren Betten liegen und sich ausmaölen, was ihnen da wohl morgen blühen wird. Mir geht es da nicht anders.

Ich dämmere weg, und mein Traum besteht aus Vertikalen. Aus Sonne. Aus Durst, Krämpfen und Schmerz.

Und wie sich 24 Stunden später herausstellen sollte, war das gar nicht mal so weit hergeholt ...

Renntag!

Pünktlich 6:30 Uhr braucht mein Wecker gar nicht zu klingeln. Denn schon 10 Minuten vorher stehe ich unter der Dusche. An Schlaf war eh nicht zu denken, draußen graut der Morgen.
Uns graut es auch.


Das Frühstück. Mein Feind. Wie immer stopfe ich lustlos das Dargebotene in mich hinein. Ich weiß, wie wichtig ein energiereiches Frühstück vor einem Rennen ist - gerade vor einem solchen - aber ich bin einfach kein guter Frühstücker. Zudem: Weißbrot mit Marmelade. Kaltes, hartgekochtes Ei. Labberiges Müsli. Nee, nicht so meins.

Der erste Fehler des Tages. Und ich begehe ihn bewusst.

Im Frühstücksraum ist die Hölle los: Die roten Wilier-Amis okkupieren lauthals alle Tische. Ich entdecke einen Herren und eine Dame in angenehmer nicht-roter Sportkleidung: Steinkeller Racing. "Das kennste doch?!?", frage ich mich und spreche sie an.

Sie betreut ihn. Er ist der Gewinner des Dreiländergiro. Na siehste, da war doch was!

Eine Stunde später sammeln wir uns draußen vor der Tür. Die Equipe SunClass Solarmodule ist schnieke angekleidet zu dritt angetreten. Die Wilier-Riege versperrt die Ausfahrt. Wie als Drohkulisse bauen sie sich vor dem Ausläufer des Monte Bondone genau vor unserem Hotel auf.


Dann geht es irgendwann auch schon los. Langsam rollen wir die 2 Kilometer ins Stadtzentrum. Sonderbar heiße Wogen wabern mir durch die Schenkel, lassen mir Gänsehaut stehen. Immer wieder komisch, diese Anspannung, diese Nervosität. Heiko spricht kaum ein Wort. Auch Flow, der sonst begeistert alles zutextet, ist sonderbar ruhig.

Zwei mal Monte Bondone.
4.014 Höhenmeter.
Nur mal so. Die Eckdaten ins Gehirn geholt.

Im Startblock

Auf dem Rathausmarkt ist die Hölle los. Tausende Starter zwängen sich in ein - unverständliches - "System" aus, mich an den Kreisverkehr bei der Berliner Siegessäule erinnernden, schneckenförmig angelegten Gittergattern. Vorbei am Freuenstartblock zwängen wir uns - Flow signalisiert uns, dass er kein Bock mehr habe und bleibt einfach bei den Damen. Wir grinsen und suchen unseren Block.


Den finden wir nach langer Drängel- und Balancierarbeit dann auch. Irgendwo im ersten Drittel stehen wir, ich kann den Startbogen sehen. Alles Italiener rund um uns herum, sie schnattern und brabbeln, ein Stakkato wie in einem Celentano-Film. Nur die, wie mir bei meinem Giro d´Italia damals aufgefallen war, eigentlich in diesem Land allgegenwärtige, schlimme Popmusik, die fehlt hier heute irgendwie.

"Sie haben noch gar nicht "Titanium" gespielt ...", meint auch Heiko. Aber sichtlich enttäuscht wirkt er dabei nicht.


Nun erfasst sie mich also auch, diese Rennnervösität. Wenn ich mir die Waden meiner Mitstreiter hier anschaue ... das sind hier alles keine Anfänger. Und selbst die, die "nur" die kleine Strecke fahren, die bei lockeren 2.100 Höhenmetern anfängt, sehen aus, als führen sie mich mal eben so zwischen Frühstück und Kacken in Grund und Boden. (Was sie gleich auch tun werden).

Heiko hebt nur weissagend seine Augenbrauen und wir beide realisieren mehr und mehr, dass die Lektion, die uns die 22-jährigen kleinen spanischen Jungs vor 2 Wochen im Val d´Aran erteilt haben, heute wohl zu einer ausgewachsenen Standpauke wird. Immerhin ist die Leggendaria ein UCI WCT-Rennen. Und so wie die hier alle aussehen, fahren die wirklich um die besten 25%.


Na, mehr als unser Bestes zu geben, kann man nicht verlangen. Wir stehen gut im Training, ich habe bis jetzt knapp 30.000 Höhenmeter absolviert und bin von Anfang an bei Rennen mit mehr als 3.000 Höhenmetern gestartet. Besser kann man sich doch gar nicht vorbereiten, oder?

Maximalpuls und Crashes - die Anfangsphase

Irgendwann dröhnt dann doch David Guetta über den Rathausplatz. Dann zählen sie einen Italocountdown und ehe ich es mir versehe, geht es auch schon los.


Zu erst ganz sachte über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen Trentos - aber da schon rauschen die ersten Rennfahrer links, rechts an mir vorbei, schieben sich abenteuerlich in die kleinsten Lücken, schneiden, bolzen, drängeln: Was´n hier los?!?, wundere ich mich, als ich schon den nächsten Ellenbogen in meiner Seite habe: Die Italiener geben Gas!

Na gut, da muss ich wohl mit - nix mit tranquilo anfangen. Ich trete rein und merke, dass Heiko einige Radlängen voraus fährt. Flow ist von ziemlich weit vorn gestartet, der wird schon über alle Berge sein, aber an Heiko sollte ich dran bleiben. Also drängle auch ich mich ein bisschen durch die Massen. Aber so sehr ich auch Gewissensbisse mein meinen "gewagten" Überholmaneuvern habe: Die Italorenner hier fahren immer einen Zacken krasser als ich.

Dann endlich habe ich Heiko ein, fast zeitgleich verlassen wir die Innenstadt Trentos und werden auf eine breite Ausfallstraße geleitet: Vollsperrung. Über uns ein Helicopter. Das Feld zieht an.

Meine Fresse! 52 km/h stehen auf dem Display meines Garmin. 180er Puls. Ich fahre am Anschlag. Ich kann kaum mit dem Atmen hinterher kommen: Heiko fährt knapp vor mir, auch er japst nach Luft. Komme mir fast vor wie beiden Leipziger Neuseen-Classics, ein Hammergebolze hier. Klar: Die Favoriten vorn wollen die Bergflöhe hier in der Ebene kaputt fahren.
Also, bei mir klappt das jedenfalls.



Irgendwann geht Heiko aus dem Wind und ich sehe mich vor die Meute gespannt. Keine 5 Minuten halte ich das Tempo durch, dann signalisiere ich "auswechseln" und lasse mich nach hinten fallen. Alter! Was geht hier denn ab? Ich dachte, das wäre ein Bergrennen?! Gott, bitte, sende Berge!

Wir passieren eine Unfallstelle. Drei Rennradler in einander verkeilt in einem Kreisverkehr. Zwei sitzen auf dem Boden, der dritte steht gekrümmt über seinem Rad. Oha.

Wir bolzen nur 15 Kilometer. Als wir den Fuß des ersten Anstieges erreichen (ich sehe einen zweiten Sturz), bin ich platt gefahren. Diese Körner werden mir noch teuer zu stehen kommen!

Erste Welle. Erste Delle.

Auf dem Profil sieht dieser erste Berg ganz niedlich aus. Eine kleine Welle. Nichts Weltbewegendes. "Da rauschen wir schnell drüber, zurück nach Trento und dann, ja dann gehts erst richtig los!", haben wir uns gedacht. Nee, nee, das geht jetzt schon los. Und wie!

Es sind 400 Höhenmeter, die wir zu überbrücken haben. Und 400 hm sind eine Ansage. Vor allem, so, wie das Peloton hier in den Berg stürmt ...


Zunächst noch im Schatten, erwarte ich jeden Moment im kühlen Morgengrauen, dass durch die Tempoverschleppung in der Vertikalen meine brennenden Lungen etwas zur Ruhe kommen könnten: Pustekuchen! Die meisten schalten erst gar nicht auf das kleine Blatt, sie schnattern und schnacken durcheinander, wie schon bei der rasanten Schussfahrt hierher, aber nehmen kein bisschen Speed raus.

Ich kann nicht mehr! Immer noch weit über 170er Puls und keine 20 Kilometer in den Beinen. Ich muss langsamer machen. Also verzögere ich, lasse ausrollen und schalte auf das kleine Blatt. Und tatsächlich: Mein Puls geht runter, ich kann nach wenigen Minuten wieder ohne Seitenstechen atmen und scheinbar sind nun um mich herum, nachdem mich gefühlte 200 Fahrer überholt haben, nur noch Gleichschnelle unterwegs.

Dafür zieht der Berg nun an.


10, 11% sagt mein Garmin. Dazu haben wir nun auch noch die volle Breitseite der Sonne. "Schön warm" wird schnell zu "Jacke aus! Ich zerfließe!".Merklich geht es nun nach oben, schon kann ich neben mir unten ein tief eingeschnittenes Tal erkennen. Mich fasziniert immer wieder, wie schnell man an Höhe gewinnt.

Mein Tritt ist rund, ich fange sogar wieder an, Leute zu überholen. Heiko kann ich hinter mir nicht mehr erkennen, der lässt diesen Berg wohl auch langsam angehen - weise Entscheidung! Da es so gut läuft, lasse ich mich zu ein paar Umdrehungen im Wiegetritt hinreißen: Schön, wieder mal Leute zu überholen.


Wir unterqueren eine Brücke, über die ich nach einer weiten Schleife wenig später selbst kurbele. Es wird kurzzeitig flach. Neben mir unten kann ich einen schier endlosen Lindwurm von Teilnehmern erkennen: Die Leggendaria ist gut besucht! 4.000 Teilnehmer, das ist eine Ansage.

Und mithin ein toller Anblick: Noch scheine ich meine Platzierung im Mittelfeld gehalten zu haben. Aber noch sind ja auch die Strecken nicht getrennt ...


Hinter der Brücke haben die Organisatoren, scheinbar um uns zu sagen: Schaut her, das ist das, was Euch noch erwarten wird, das erste mal eine 17%-Rampe eingebaut. Sie wird eingeläutet von einer rund einen Kilometer langen, verwundenen Anfahrt bei 12, 13%. So unvermittelt eingestreut, dass alle wie auf Kommando aus dem Sattel müssen. Und es ist das erste mal, dass ich keinen Mucks von den sich ansonsten so angeregt unterhaltenden Italienern höre.

Jetzt geht es gehörig in die Beine.
Ich ziehe den Zip meines Trikots bis ganz nach unten auf. LUFT!


Die Rampe führt durch einen schmalen Grat durch eine Öffnung im Felsen, Menschen stehen da und applaudieren. Als ich durch bin, finde ich mich auf der anderen Seite wieder. Es wird nicht steiler. Aber auch nicht flacher.

"Alter Schwede ... 400 Höhenmeter!", fluche ich in meinen Bart und kurble verbissen weiter. Kaum zu glauben, dass das hier nur die kleine Welle ist. Aber klar: Bei den meisten Rennen im German Cycling Cup machen wir insgesamt gerade einmal 400 Höhenmeter im ganzen Rennen.

Hier ist das nur das "Vorgeplänkel" für die erwachsenen Steigungen.


Still schiebe ich das Rad immer weiter nach oben. In die steilen Weinhänge haben sie hier wieder herrliche Serpentinen gezimmert: Eine tolle Region, dieses Trentino!

Zum ersten mal überhaupt habe ich mir das Streckenprofil auf das Oberrohr geklebt: Ein Blick nach unten und ich kann anhand meiner Tracking-Daten vom Garmin sofort sehen, wo ich bin - und wann das Elend so richtig anfangen wird. Warum habe ich das nicht schon früher so gemacht? Voll praktisch ...


Ach herrlich - von Weitem sehe ich die nächste dunkle Gasse: Und als ob ich es geahnt hätte, als ich den kühlenden Schatten erreiche, muss ich sofort aus dem Sattel gehen, eine knackige 15% steht auf dem Garmin.

Meine Fresse - wenn diese kleine Delle schon so anspruchsvoll ist, wie wird denn dann bitte das Höllenstück des Monte Bondone? 16% im Durchschnitt auf ganze 3 Kilometer ... ich sehe den tiefrot markierten Abschnitt unter mir auf dem Rohr ... war wohl doch keine so gute Idee?


Besonders bedrückend finde ich die Tatsache, dass sie jetzt wieder anfangen, mich in Scharen zu überholen. Zwar kann ich Flow einholen, grüße ihn kurz und trete dann weiter, aber in gleichem Maße zieht eine Karawane Italorenner an mir vorbei, als stünde ich still.

Das ist so gar nicht deprimierend.


Aber hey - irgendwann schaffe ich diese Kuppe. Sie rufen uns zu, die Jungs vor mir fahren freihändig und machen schnell ihre Zipper wieder zu: Es geht gleich in die Abfahrt! Meine Güte - was habt Ihr es hier alle nur so eilig?

Mir schmerzt die Seite. Ich fühle mich leer und ausgebrannt. Langsam lasse ich über die Kuppe rollen, freue mich, als mich die Hangabtriebskraft aufnimmt und mich beschleunigt, ohne dass ich treten muss.



Als dann Flow an mir vorbeisaust und irgend etwas von "... Los! Bolzen! ..." brüllt, verliere ich irgendwie endgültig die Illusion, dass diese Leggendaria ein geruhsamer Gran Fondo wird. Das hier ist ein knallhartes Rennen. Und ich habe noch 3.500 Höhenmeter vor mir.

Feuerritt nach Trento

Unglaubliches wird sich kurz nach meiner Abfahrt abspielen.


Anfangs überholen mich wieder Heerscharen von Mitstreitern, ich nehme mir vor, mich von Heiko einholen zu lassen um dann die Rückfahrt nach Trento mit ihm zu meistern. So werde ich kaum schneller als 60, erhole mich auf der Abfahrt eher, als zu versuchen, hier noch übermäßig Tempo zu machen.

Nur: Heiko kommt nicht.

Statt dessen fahre ich irgendwann allein. Nur weit vor mir erkenne ich drei, vier Rennradfahrer. Ich muss mich entscheiden: Zu denen aufholen, damit ich beim Flachstück zurück nach Trento wenigstens ein bisschen Windschatten habe - oder warten, und riskieren, alleine im Flachen bestehen zu müssen.

Wenige Minute später habe ich die kleine Gruppe ein.
Mein Glück!


Was ich jetzt erlebe, habe ich so auch noch nie mitmachen dürfen. Etwa 1.500 Meter vor uns sehe ich eine größere Gruppe davonbrausen. Wir selbst haben schon 45 km/h auf dem Tacho, ich halte mich vornehm an vorletzter Position: Eigentlich will ich hier nur gemütlich rollen.

Da entscheiden die beiden Jungs vorn, das Loch bridgen zu wollen und ziehen an.

Wir ballern mit konstant 52 bis 54 km/h über die Straße, das mir bald wieder die Zunge aus dem Hals hängt. Was ich anfangs nur als kleine Tempoverschärfung annahm, halten die tatsächlich durch! Ich fahre hier im höchsten Gang - wir haben leichten Gegenwind, wie ich an den Flaggen erkennen kann - und die ballern mit über 50 Sachen durch die Ebene? Alter Schwede! Ist Euch denn nicht klar, dass hier gleich der Monte Bondone mit 1.600 Höhenmetern am Stück kommt?!?

Die beiden lassen sich auswechseln. Das Mädel vor mir muss ziehen. Ah, dann wirds ja gleich bestimmt etwas langsamer ... nee, doch nicht. Wow, was die für eine Power hat! Noch immer halten wir die 50, nur Kurven oder Kreisverkehre können uns abbremsen und siehe da, wenn ich meine Nase kurz in den Wind halte, kann ich sehen, dass wir dem Feld vor uns tatsächlich näher kommen!

Scheiße, gleich geht sie raus ... und ich diese 50 km/h mit Sicherheit nicht mal 2 Minuten durchhalten! Ah, geil - die beiden Turbojungs kommen an die Spitze. Nee, drängelt Euch ruhig vor, kein Ding. Wenige Umdrehungen später haben wir wieder 55 Sachen drauf.

Hammerstark!

Endlich Trento. Endlich allein.

Als wir uns genau am Ortsschild von Trento mit dem großen Feld vereinigen, ich endlich rausnehmen kann, rolle ich an dem einen der Turbojungs vorbei: "Great Effort - wow!", ist alles, was ich rausbringe. Er nickt nur. Kein bisschen außer Atem.

Die Passage durch unseren Startort ist verwinkelt, aber insgesamt ruhig. Ich kann zu Flow aufschließen. Von hinten kommt Heiko heran. Wie eine Zieharmonika hat sich wieder ein großes Peloton gefunden: Wenn das extraharte Anfangstempo mit dem Ziel angeschlagen wurde, das Feld zu zerstören, dann hat das wohl nicht ganz geklappt.


Nach der Feldertrennung verbleiben keine 500 Fahrer mehr auf der langen Strecke. Der Rest biegt ab, um jene Steigung hinauf zum Monte Bondone zu nehmen, die ich mich in 5 Stunden nach der Zielankunft fröstelnd hinabtasten werde.

Trotzdem: Endlich tritt es sich etwas ruhiger.
Endlich kann ich mal wieder mitrollen.

Ich analysiere. Flachstück zum ersten Berg - überdreht. Erster Berg - absolut zu schnell. Flachstück zurück nach Trento - im tiefroten Bereich. Vor mir: Monte Bondone.

Helm ab zum Gebet!

Die Steigung beginnt tatsächlich überraschend harmlos. Wir schieben uns wie ein geduldiger Lindwurm die Vertikale nach oben - 7, 8%, mehr nicht. Aber ich starre ständig auf mein Oberrohr: Da klammt sie, die 16%-Höllenrampe, die schlimmsten 3 Kilometer meines Lebens. Es ist nicht mehr weit ...


Zunächst ist meine größte Sorge, meinen Puls herunter zu bekommen. Nachdem ich mir das zweite Gel des Tages (das erste gab es beim Start) reindrücke und hastig fast eine halbe Flasche Wasser austrinke, schnellt dieser noch etwas nach oben. Aber dann bekomme ich ihn langsam in normalere Gefilde: 153 bpm. Noch immer weit unter meinem Puls, den ich beim Auftsieg auf den Stelvio hatte, aber akzeptabel.

Bei RAI-Sport 2 interviewen sie einige Stunden später Moreno Moser, den Gewinner der diesjährigen Tour de Pologne im Dienste der Mannschaft Liquigas. Auch er ist das Rennen heute gefahren ...



"Ahhh, si si ... der Monte Bondone ist immer eine Herausforderung der ganz speziellen Art. Ich kenne diesen Berg, weil ich hier viel mit meinem Vater Francesco und Gibo trainiere, aber gerade diese Steigung zu meistern - noch dazu in einem Rennen - ist der Wahnsinn! Ganz besonders fällt mir da auf einmal dieser Mann auf, kein Italiener, ein Dürrer, kein Profi, keiner, den man kannte - auch sein Trikot erkannte ich nicht. Aber er hatte diese Technik, diese ganz ausgesprochene Eleganz. Kaum Bewegung im Oberkörper, kein Deut Energie in der Steigung, das verloren geht. Ein Techniker, einer, der weiß, wie man klettert. Es war eine Augenweide, neben ihm zu fahren. Ich glaube, er war Deutscher. Es war so schön, ihm zuzugucken. Einfach zu schauen. Zu lernen ..."

Naja. Übertreiben wir mal nicht ... Was genau Moreno da erzählte, habe ich natürlich nicht verstanden. Und er wird kaum über meine überragende Technik geschwärmt haben, zumal er wahrscheinlich eine Stunde vor mir den Bondone schon längst überquert hatte.

Was Moreno Moser aber ganz sicher dem geneigten Publikum vermittelt haben wird, war die Hitze. Die Senkrechte. Waren die Prozente und die schweißnassen Männer, die sich ihnen stellten.


Ich bin noch immer in der unteren Hälfte des Anstieges und fühle mich eigentlich ganz gut. Heiko liegt weit hinter mir. Flow hatte ich ganz unten stehen gelassen: Mir gehen die Kurbelumdrehungen gut von den Waden und ich kann ein akzeptables Tempo gehen.

Sicher: Wieder überholen mich viele Rennfahrer. Aber wenn ich mir die besehe, fällt mir auf, das niemand von ihnen ohne Kompaktkurbel unterwegs ist. Mache ich eine Umdrehung, haben die Flinkfüße der Italiener schon drei durchhauen. Entsprechend schnell ihr Tempo - entsprechend ansehnlich ihre Geschmeidigkeit.


Eine Kehre kurz vor dem Tunnel, der das Flachstück und damit das erste Drittel des Aufstieges zum Bondone markiert, schwenkt die Straße nach Süden und gibt einen fantastischen Blick frei auf das Dörfchen, in dem wir gerade unseren Aufstieg begonnen hatten: Ganz hinten erkenne ich Trento. Die Stadt, in die es gilt, nach dem zweiten Bondone-Aufstieg wieder hinabzufahren.

Dann wird es dunkel - ich passiere den Tunnel. Kurz kann ich auch aufs große Blatt wechseln. Es wird tatsächlich eben, fast geht es sogar bergab. Nach einer lang gezogenen Rechtskurve zieht es aber sogleich wieder mächtig an: Sofort stehen wieder 10, 11% auf dem Garmin-Display. Der Bondone verlangt nach Rennradkörnern.


Steil in den Hang gebaute Dörfer. Fast senkrechte Felswände, nur spärlich bewachsen an Kuppen, enthüllen die typischen Alpengipfel der Dolomiten. Ich würde gern anhalten, um mir hier mehr anzusehen, mehr Zeit haben, diese unbezahlbaren Aussichten zu genießen, aber ich muss hier ein Rennen fahren.

Ab und zu schnellt mir der Puls gefährlich über die 170. Dann muss ich langsamer werden. Langsam treten. Neben mir die Italiener wirken wie Gallier nach dem Genuss des Zaubertrunks, so schnell kurbeln sie. Aber ich kann noch immer ganz gut mithalten, finde ich.


Wir hangeln uns von Hang zu Hang. Lange Geradeausstücke, die nur mäßig steil sind, werden von fiesen Spitzkehren, wo es für wenige Meter in die 20er-Prozente gehen mag, abgelöst. Immer wieder ächze ich mich in den Wiegetritt. Unter dem Helm sammelt sich Wasser.

Das Höllenstück

Fast erschrecke ich, als ich mal wieder bewusst auf das Höhenprofil schaue: Scheiße! Gleich kommt es, das Höllenstück! 16 verdammte Prozent Steigung - und das auf mehr als 3.000 Metern Länge. Im Schnitt! Mein Waseberg ist "nur" 15% steil und das auf 800 Meter. Eine Wand. Eine verdammte senkrechte Wand. Aber 16% im Schnitt, wie soll das gehen?


Ungläubig luge ich hinter jeder Kurve hervor, recke meinen Kopf, spähe nach vorn, halte Ausschau: Wo ist sie nun? Wo sind jene 3 Kilometer, vor denen unser ganzes Team erzittert? Wo sind die 3.000 Meter, die Flow zu einem geheimen Bergtraining bewegt haben? Wo ist mein Meister?

Nichts.

Es bleibt steil. Ja. 12, 13 Prozent. Manchmal weniger, dann werden es sogar nur 8, 9. Manchmal mehr - 14% oder in den nervigen Serpentinen auch mal 20%. Aber keine 16. Da kommt einfach nichts. Hinter dieser Kurve? Nö.
Hinter dieser? Wieder nichts.
Und die da? Ja....nein, doch nicht.


Ich trotte durch die Hitze. Werde überholt. Überhole auch mal jemanden. Freunde mich mit einer Frau an. Naja, anfreunden wäre zu viel gesagt: Sie kurbelt eine ganze Weile neben mir. Dann überholt sie mich. Dann ich sie. Dann sie wieder mich. Wir variieren unsere Tempi nur wenig - ein Überholvorgang kann einige Minuten, zwei, drei Kehren lang dauern: Ich brauche diese Zeit.
Nicht, weil ich es nicht schneller könnte.

Es gibt nur einfach nichts schöneres, als einer blankrasierten, braungebrannten athletischen Frauenfigur dabei zuzusehen, wie sie schweißnass in der Sonne glänzend auf ihrem Sattel arbeitet, um das Rennrad nach vorne zu treiben. Ich genieße es.

Meine Sonnenbrille ist doch verspiegelt, oder? Nicht, dass ich hier noch Ärger bekomme ...


Und doch: Die gefürchtete Steigung kommt nicht.
Nicht, dass ich sie vermissen würde: Es ist auch so verdammt schwer. Schwer genug. Das Edge wird nun gar nicht mehr einstellig. Mindestens 10% habe ich nun ständig auf dem Display und langsam machen sich die versprühten Körner, die ich auf der Anfahrt, der ersten Welle und dem Bridgen nach Trento verballert habe, bemerkbar.

Ich kann in dieser Steile nur über Kraft nach vorne kommen.
Im Zusammenhang mit meinem Körper klingt das fast wie ein blöder Witz.


"Mmmh.", denke ich mir so: "Das mit der Höllenrampe war dann wohl ein Witz? Ein Werbegag?" Und schon verbiete ich mir selbst mein Mundwerk. Blasphemie! Nachher kommt hier gleich hinter der Kurve jene Steigung, die ich hier noch verspotte. Das wäre man lustig, wenn die da jetzt käme ... nee, kommt aber nicht. Oder?

Nee, kommt nicht.


Die Abhänge werden nur immer steiler. Manches mal fahren wir durch einen dichten, harzig duftenden Nadelwald. Perfekt, ich genieße den Schatten und atme durch. Trinke, inhaliere das Zeug aus meinen Flaschen und fluche jedes mal, wenn mich wieder eine Kompaktkurbel überholt.


Aber was nützt es? Ich kann hier heute nun nichts mehr ändern. Nur reintreten und mir fest vornehmen, mir für den Ötztaler - der mir angesichts seiner über 5.500 hm Gesamtaufstieg hier heute anfängt wirklich Sorgen zu machen - endlich dann auch mal was Kompaktes ans Rad zu schrauben.

Gran Fondo Italia - das fällt auf

Nur Mademoiselle Perfect Wade 2012 lasse ich nicht vorbei: Sie ist die Karotte, die ich mir wie bei einem Packesel, selbst vor die Nase halte. Dieses Geschoss. Sie fährt übrigens ein schniekes Pinarello.


Überhaupt fällt mir bei den Rennrädern, die hier am Start sind, so einiges auf - im Vergleich zu Spanien oder Frankreich zum Beispiel.

Der Italiener fährt nur teuerstes Material. Kein Scherz: Ich sehe im ganzen Rennen nur zwei mal Canyon - eines ist das von meinem Teamkollegen Heiko, das andere gehört wahrscheinlich einem Nicht-Italiener. Ansonsten sehe ich hier nur Wilier, Pinarello, ein paar Bianchi und vereinzelt ein Fondriest.

Specialized ein paar. Wenige andere Rennrad-Marken.
Nur ein einziges Cervélo. Ein R5. Schickes Ding.


Die Italiener fahren Top-Rahmen. Die Rennräder glänzen wie neu gekauft, ihre Klamotten, Helme und Radschuhe sind vom Feinsten.

Carbon-Laufradsätze sind Pflicht: Cosmic Carbones sind hier noch "Billigware", ich glaube, so viele Leightweights wie hier, wird man selbst auf der ganzen Eurobike nicht zu sehen bekommen. Kaum Stahlrahmen. Kaum ältere Räder. Keine Mountainbike-Visiere. Hier sind nur Cracks am Start.

Und nichts von "Carbon statt Kondition". Die fahren mich hier in Grund und Boden.


Schaue ich nach unten, wirkt die Welt am Grunde des Tales so sonderbar entrückt. So fern. Weit weg. Unerreichbar. So weit oben schon? Den Wolken so nahe. Die Sonne brennt. Deadalus. Ob Carbon hier oben weich wird? Mein Hirn scheints schon.

Schaue ich aber nach oben, triffts mich. Nimmts mir Mut: So weit noch nach oben? Da ist erst der Gipfel? So klein noch. Ameisen, die vor einem Berg stehen.

Wir kleinen Krümel krauchen klitzeklein mit unseren Cleats klackend hier herum, kratzen nicht mal ansatzweise am Himmel. "Hier, an mir müsst Ihr erst vorbei!", tönt es höhnend vom Gipfel herab.


Demut lässt meine Schultern kollabieren: Konzentriere dich aufs Treten! Eins, zwei, drei ...

Zeitschleife im Anstieg

Jetzt, zwei Drittel mögen geschafft sein, komme ich endlich in jenen Flow, den ich am Bergfahren so liebe. Eine Art Trance. Ein Wachkoma vielmehr: Ich trete aus mir heraus. Sehe mich, mich abmühen. Schmerz? Wird registriert. Abgehakt. Seine Wirkung vielmehr zum Theorem verkommen. Meine Gedanken gehen auf Reisen ...


Die Gespräche der Mitstreiter verschwimmen zu einem Hintergrundrauschen. Mein Herzschlag, eine abstrakte Zahl auf dem Digitaldisplay. Die Kilometeranzeige. Noch 6 km. Ich denke. Denke mich weg. Noch 5. Schweife ab. Komme ab vom Kurs. Bin aus meinem Körper raus. Fangt mich doch! Noch 4.

Zeitreise am Berg. Wenn du den Rhythmus hast, kann er lang sein, wie er will.
Wenn du die Körner hast, trägt dich der Rhythmus per Express zum Gipfel. Zeit friert ein. Spult immer mal wieder vorwärts.

Noch 3.


Unter mir Eisenbahnplatten-Natur. Menschen sind längst nicht mehr auszumachen. Straßen, wie mit dem Lineal gezogen. Autos, Trucks höchsten noch, schieben sich wie Blutkörperchen durch eine offene Autobahn-Arterie unterm Mikroskop durchs Tal-V. Der Berg neben mir, wie ein Stück Butter, über dass sich die hungrige Meute am Abendbrottisch hermacht. Ein kompakter Klotz. Sonne blendet. Schweiß tropft.

Unter mir surrt und klackt das Schaltwerk.
Jedes Ritzelklacken bedeutet wertvolle Zentimeter für mein Konto.

1.600 Höhenmeter Gesamtaufstieg steht da. Ich fasse es nicht!


Wir kommen wieder durch ein Dorf. Hier haben sie eine Labestation aufgebaut. Freundliche Jungs reichen mir beim Vorbeifahren geöffnete Wasserflaschen - eiskalt. Ein Traum! Ich trinke hastig. Soll ich noch ein Gel einwerfen? Ach komm, das sind nur noch 3, 4 Kilometer. Oder 5?
Wo bin ich hier?
Wie weit noch?

Da zwingt mich die nächste 15%-Rampe in den Wiegetritt.
Trancemodus aus.
Harte Arbeit ist gefragt. Das hier ist nichts für Tagträumer.


Hinter dem Dorf, kurz unter dem Gipfel folgt das letzte Waldstück. Ich weiß das, weil ich mir den Bondone und seine Anstiege mit Heiko zusammen bei Google Earth genau angesehen habe: Hier der Wald (sehr steil!) und dann ein, zwei lange Schlaufen und dann haben wir den Gipfel erreicht.

Der Wald entpuppt sich als Steigungsmonster. Ich muss mich ranhalten, um die Pinarello-Traumfrau einzuholen. Irgendwann lasse ich sie ziehen. Kompakte Lady, Du bist zu hart für mich!


Den Wald lasse ich hinter mir. Komme auf freies Feld. Eine weite Wiese neben mir. Steiler Abhang. Nur das schmale Asphaltband, das unsere Straße ist, stört da beinahe. Es ist eine Skipiste: Der Monte Bondone bei Trento ist einer der großen Skigebiete des Trentino. Und hier, wo sie sich im Winter zu Tausenden auf den Brettern vergnügen, schmelze ich mich die letzten eintausend Meter empor.

Oben!

Dann endlich - oben! Kein Pass, keine Scheide. Eher ein flaches Plateau. Hinten schimmern grau schneebedeckte Dolomitengipfel. Vor mir kann ich die Pausenstation ausmachen. Ich jubiliere: Monte Bondone, Du alter italienischer Haudegen, ich hab Dich! Pah, keine 16%-Mörderrampe! Ich hab Dich, Ragazzo!



Glücklich über diese erste gewonnene, harte Etappe, schwinge mich vom Rad, stelle es an einen Baum und humple zum Büffet. Helferhände nehmen mir sofort meine Flaschen ab und füllen diese auf - andere Hände bieten mir von süßem Kuchen über Käsestullen bis hin zu den obligatorischen Bananen, den berühmten Melinda-Trentino-Äpfeln und Nüssen eine reichhaltige Auswahl an.

Beherzt lange ich zu.


Nachdem ich - mit vollem Mund kauend - als Meisterleistung des Multitaskings dazu noch hinter einen ruhigen Busch gepinkelt habe, taucht einige Minuten nach mir Florian auf. Er schnauft, grinst aber, als er mich sieht. Wenig später stößt auch Heiko hinzu und ich denke mir nur: "So wenig Vorsprung, obwohl ich die Jungs schon am Fuße des Aufstieges überholt habe? Und dann nur 5, 6, 7 Minuten schneller?"

Aber hey - 7 Minuten im Radsport: Das sind Welten!


Etwas genervt blicken wir drein, als wir uns zum Bondone-Foto aufstellen. Das liegt vielleicht daran, weil wir wissen, dass wir den richtigen Spaß ja eigentlich noch vor uns haben. Gerade einmal 62 Kilometer und noch keine 2.000 Höhenmeter können wir ins Roadbook für heute einschreiben.

Vor uns liegen noch mehr als 70 Kilometer (was keinen erschrecken kann) und mehr als 2.000 Höhenmeter (was eher die Ängste schürt).


"Ah geil, und nun Abfahrt!", freut sich Heiko, für den das immer die Belohnung für 20 Kilometer Schwerstarbeit im Anstieg ist. Recht hat er! Die Jungs gehen noch einmal ans Büffet, während ich mich schon einmal auf den Weg mache. Ich weiß schon, warum: Mit meinen 63 Kilo und dem keine 8 Kilo schweren Cervélo bin ich einfach zu leicht. Dazu die nicht gerade aerodynamischen R-Sys-Laufräder (perfekte, steife, robuste Bergräder - scheiße, wenns schnell werden soll).

Verdammt! Das kann doch nicht ...!

Also trete ich mich die ersten 2 Kilometer übers noch flache Plateau. Es geht mit kaum 4% abwärts. Aber dann - die Straße taucht mit einem mal unter mir weg, das Rad springt förmlich wie in einem der alten San Francisco-Autojagden-Schmonzetten über die Klippe, es geht mit 10,12% bergab, ich mache einen Satz, schlagartig knallt mir die Luft wie in einem Überschallstaurohr durch die Gehörgänge: 70 km/h. Bremsen! Kurve! Reintreten - beschleunigen. 75 km/h. Wahnsinn!

Neben mir endet die Welt. Eintausend Meter Abgrund. Es geht fast senkrecht nach unten. Nur ein 10 cm breiter Schotterstreifen dort, wo der Asphalt aufhört. Dann 3 mm dickes und keine 40 cm hohes Leitblech. Daneben - nur Sauerstoff und ein Kilometer Abgrund.

Wie die größten Kulissen, die ich jemals gesehen habe, tischen sie auf dem gegenüberliegenden Ende des Tals, in das ich Blicken kann, eine Dolomitenbergkette auf, als hätte Dürer sie gemalt. Schroffer, grantiger Felsgrat, erdgeschichtliche Schichten und Wellen in den Fels gemalt. Spitze Hüte, diese Berge, wie beim Riesen-Kegeln. Atemberau....Flow zischt an mir vorbei!

90 Kilo. Hangabtriebskraft. Wie war das? Geschwindigkeit = Masse x Beschleunigung? Flow ist nach 2 Minuten außer Sichtweite. Naja. Er nimmt die Kurven auch, als sei hier heute die Strecke für uns gesperrt (was sie nicht ist). Dann Heiko. 80 Kilo. Locker. Überholt mich. Was hat der drauf? 80 Sachen?Mindestens.

An ihm will ich dran bleiben.


Es wird etwas flacher. Ich hole auf. Zwei andere Rennradler neben uns. Dann taucht es wieder ab. Das Serpentinenspiel beginnt von Neuem. Und Heiko entfernt sich. Ich muss richtig hart reintreten - größter Gang schon längst aufgelegt, ich trete, trete mir die Seele aus dem Leib und kann nur hoffen, dass die nächste Haarnadelkurve ihn zum Bremsen zwingt. Scheiße sind die schnell! Und ich? Kann mich im Wind klein machen, wie ich will: Schneller werde ich nicht!

Dabei habe ich mir sogar beide Flaschen randvoll füllen lassen: 1,5 Kilo zusätzlich. Ein Booster sieht anders aus.

Ich bekomme Seitenstechen. Kurbele wie ein wilder, wo die anderen vor mir nur rollen lassen.
Ich muss hart arbeiten, um den Abstand zu Heiko und den anderen nicht größer werden zu lassen: Was folgen wird, sind etliche Kilometer im Flachen. Und wenn wir Pech haben, haben wir Gegenwind. Das dann alleine kurbeln? Nee!

Außer Puste. Ich gebe mein bestes. Auf Abfahrten kann man sich sonst prima erholen. Ich bekomme meinen Puls nicht herunter. Meine Beine schmerzen. Ewig dauert es. 20 Kilometer. 20 Kilometer, die die sich die anderen erholen können. Die Abfahrt genießen. 20 Kilometer, in denen ich Körner verschieße wie als wenn Sydney Neujahr feiert. Scheiße!, denke ich mir, als wir endlich die Ebene erreichen, ich keinen Meter genießen konnte und 800 Meter zu Heiko bridgen muss. Scheiße!, das wird mich teuer zu stehen bekommen!


Als ich ihn endlich ein habe - er wartet auf mich - möchte ich ihn um ein etwas langsameres Tempo bitten: Sein Gesicht sagt das selbe. Mir brennen die Beine, die Kehle ist trocken und die Seitenstechen nerven mich. Das war die schlimmste Abfahrt bisher - so hart musste ich noch nie reingehen, um Tempo zu halten. Gegenwind am Berg! Wahnsinn.

Expedition zum Mars

Wir rollen aus und biegen von der großen Straße nach rechts ab - landen auf einem anderen Planeten. Neben uns breitet sich ein kleines Tal aus, über und über mit großen Geröllbrocken bedeckt. Kaum Grün. Aufgeheizte Steine, die Luft steht - beeindruckend!


Allein sind wir beide. Allein in der Marocche die Dro, einem Bergsturzgebiet, das tatsächlich aussieht, als schmeiße Gott hier jeden Tag zu seiner Körperertüchtigung mit einigen Tonnen Gestein um sich. Endlich kann nun auch ich einmal meinen Kopf drehen - aua, Nacken! - und mir diese wunderbare Natur beschauen. Beeindruckend, diese Dolomiten!

Einer überholt uns. RG Endspurt. Wie aus der Kanone geschossen brüllen wir ihm hinterher: "Heeey! Hamburg!!!" Er hört uns nicht. Entweder genauso beeindruckt, wie wir oder MP3 auf den Ohren. Oder Italiener, der ein Endspurt-Trikot bekommen hat. Naja.


Wir fahren beide nebeneinander her und philosophieren über dieses Rennen: Heiko meint, dass er supergut drauf sei und dass er sich auf den nächsten Anstieg freue. Ich stimme ihm zu, schränke aber ein: "Erster Berg zu schnell. Scheiß Startphase - zu schnell! Dann dieses Gepolke nach Trento - viel viel viel zu schnell! Und nun noch diese doofe Abfahrt - Alter, ich glaube, ich habe nachher nix mehr an Energie! Und wir müssen noch mehr als 2.000 Höhe machen ...?!?"
Er nickt.

Wo Flow bloß steckt?


Die Marocche die Dro hört nach wenigen Kilometern auf. Diee zerklüftete Steinlandschaft weicht zurück und ein See taucht neben uns auf. Verführerisch lockt türkisfarbiges Wasser. Badenixen in Badenixenanzügen liegen am Strand herum, braungebrannte Schönheiten. Kühles Wasser. Halbschatten unter einem Apfelbaum, ein kühles Bierchen ... ich könnte heulen. Statt dessen quälen wir uns hier irgendwelche Berge hinauf!


Neben uns tauchen zwei Teilnehmer auf. Zwei ältere Herren. Sie wirken frisch und geladen, grüßen freundlich und lächeln uns zu. Mit ihnen bilden wir eine Vierergruppe. Schlagartig erhöht auch Heiko das Tempo.

Es geht nun auf Wirtschaftswegen und kleinen Dorfstraßen recht verwinkelt neben dem See - Lago die Cavédine - her, und stetig bergauf. Bei den vielen 14, 15%-Rampen sehen und merken wir es nichtmal: Aber das Garmin verrät es. "6,7% gerade!", brülle ich fast nach vorn zu Heiko. Der dreht sich um und wundert sich: "Echt?" Ich nicke.

Na endlich nimmt er etwas raus. "... gar nicht bemerkt."



Die beiden Herren gehen auch etwas vom Gas. Aber 10 Minuten später hetze ich wieder am Ende der Gruppe her. Wahnsinn, woher diese Herren ihre Energie nehmen. Dabei - klar, Italiener - noch locker miteinander schnacken.

Irgendwann muss ich abreißen lassen.

25, 26 km/h bergan? Nee, Jungs, macht mal. Ich habe auf meinem Oberrohr hier noch nen riesigen Zacken. Und bis dahin will ich am Leben bleiben.

Schon habe ich fast 200 Meter Abstand. Kurble meine 20 km/h, als einer der Italiener sich umdreht, bemerkt, dass ich durchhänge, und die anderen darauf aufmerksam macht. Sie bremsen und warten auf mich. Wow! Ich bedanke mich bei dem Herren. Das ist Kameradschaft!


Nach einer kleinen Abfahrt geht es nun in das "Miststück", wie wir es bald taufen: 15 Kilometer topfeben am Boden des Tales entlang bis zum nächsten Anstieg. Und wie ich es geahnt habe, haben wir Pech: Gegenwind!

Schöner kotzen

Wir haben Gegenwind, dass es mir wieder fast die Tränen in die Augen treibt. Wir kommen kaum voran. Mal verstecke ich mich hinter Heiko, mal er sich hinter mir. Unsere beiden Herren sind vorneweg gefahren - bei aller Kameradschaft, das war ihnen dann wohl doch zu langsam, wie wir hier herumgeeiert waren.


Vor uns entdecken wir aber nach und nach Einzelkämpfer. "Das sind die Jungs von der Abfahrt!", rufe ich Heiko zu. Und tatsächlich: Einige der Trikots erkenne ich sofort wieder. Auch sie mühen sich allein im Wind ab und sind froh, als wir sie einsacken.

Weniger froh bin ich über den Fakt, dass sie sich alle hinter uns verstecken. Und wir den Windschatten machen müssen. Naja. Irgendwann lassen wir uns aber auch zurück fallen!

Eine etwas größere Gruppe, 4, 5 Fahrer, sind unser nächstes Ziel. Bald haben wir sie ein.


Am Ende der Gruppe fährt eine Dame. Schicke Figur, toller Hintern, super braun gebrannt. Sie bewegt sich auf dem Rennrad - ein Traum. Heiko setzt sich hinter sie, ich muss kurz grinsen, ich selbst fahre etwas versetzt, um diesen schönen Ausblick genießen zu können: Rund um uns herum ein tolles, tiefes Tal - direkt vor uns ein supersexy Hintern, dazu Waden, mmhh, ich kann mich gar nicht sattseh... sie kotzt!

Äh, ich sehe wohl nicht richtig?!?

Sie steckt sich ihren rechten Zeigefinger in den Mund und kotzt (bei 35 km/h, tretend) vom Rennrad. Ein bisschen vom dem Zeug landet auf Hand und Unterarm. Sie wischt es kurzerhand an ihrer Radhose (und dem tollen Schenkel) ab.

Heiko lässt sofort mal etwas Abstand.
Auch ich höre auf mit Treten.


Ein kurzer Blick von ihm. "Äh nee, lass die mal ziehen ...", meine ich so und die Jungs und Mädels entfernen sich. Einige Andere überholen uns von hinten, sodass ich bald mit Heiko und zwei älteren Herren wieder allein bin.

Das Kotz-Erlebnis bringt mich zum Nachdenken: Sport und Anstrengung, das ist ja alles gut und schön. Aber kotzen ... und dann Vollgas weiterfahren. Noch 2.000 hm vor sich haben. Ich weiß nicht. 35 Grad im Schatten ... muss das sein?

Meine eigene Schwäche holt mich wieder ein.


So sehr der (verdammte!) Gegenwind auch kühlt, die Sonne ballert so unerträglich auf uns nieder, dass es kaum auszuhalten ist. Meine Beine glänzen vor Schweiß, unter meinem Helm mögen sich gerade Zustände wir kurz vor dem Urknall zusammenbrauen und meine Kehle ist sofort, wenn ich etwas getrunken habe, wieder trocken.

Feuchtes, fruchtbares Trentino: Heute ist hier nur Hitzeflirren und trockener Wüstenwind angesagt. Wir kämpfen uns durch einen Scirocco ...


Zwei weitere Fahrer rollen uns von hinten auf. Heiko raunt was von "... Verpflegung 2 km ..." und hängt sich an die Jungs ran. Die grüßen freundlich und nehmen uns auf. Heiko führt auch tatsächlich mal - wo nimmt der nur die Kraft her? - und irgendwann erreichen wir dann auch kurz vor einer Passauffahrt (die gottseidank nicht unsere ist) die Verpflegungsstation.


Ich falle fast vom Rad, als mich beim Absteigen ein Krampf erwischt. Die Bella-Mama schaut mich voller Erbarmen an und spricht tröstende Worte. Ich verstehe nichts, aber es klingt wie: "Komm, Junge, iss und trink, das wird Dich aufpäppeln!"

Meine Rettung: Trentinagrana

Ich stehe zitternd am Büffet und drücke mir zwei Bananen rein. Dann schütte ich zwei Becher Cola hinterher. Wasser gibts auch noch. Ein Stück süßen Apfelkuchen schiebe ich hintendrein. Mama reicht mir ein Tablett. Darauf Käsewürfel mit 7 cm Kantenlänge: "Trentinagrana", sagt sie stolz: "Molto Energia!"

Ich greife zu. Bekomme das Stück gar nicht in meinen Mund. Berühmter Hartkäse nach Parmesan-Art aus dem Trentino. Die Sonne hat ihn weich gebrutzelt. Schweizer Käsefondue - ist ja nicht weit. Der Käse schmeckt hervorragend. Ah, Fett! Endlich mal Fett! Ich schlinge hastig ein zweites Stück hinterher. Dann noch einen Becher Cola. Scheiß drauf, auch wenn Cola "böse Energie" ist - ich bin hier jetzt für jedes Körnchen extra dankbar!

In meinem Magen möchte ich jetzt nicht nachgucken, wie es da lecker im Käsebananencolabrei rumort ...


Weiter geht es, noch 5 Kilometer oder so bis zum Bondone. Schwarz zeichnet sich schoff mein Schatten auf dem Asphalt ab. Schweiß läuft mir schon wenige Meter nach dem erneuten Losfahren von der Stirn.

Ach, komm, ich drücke mir noch ein Gel rein! Mein Magen kann das ab ...

Der Verkehr ist so dicht, dass wir fast auf dem Seitenstreifen fahren müssen. Wieder geht es um einen See herum, wenn der von vorhin ein Geheimtipp war, dann ist diesmal der See eher mit Mallorca zu vergleichen: Hunderte Badegäste tummeln sich hier. Und wir ersticken im Smog der Autos.

Wie schön, als wir im nächsten Dorf endlich auf eine ruhige, fast unbefahrene Straße abbiegen!


Rund um uns herum türmen sich hier wieder die Gipfel auf und ich muss lange an meinem GPS herumdrehen, um zu erkennen, welches nun der Monte Bondone ist, den wir hier gleich zum zweiten Mal erklimmen müssen. Aber zu meinem Leidwesen erkenne ich, dass wir noch sehr - sehr! - weit vom Fuße der mythischen Steigung des Carly Gaul entfernt sind.

Denn zunächst hat auch das Profil unter mir auf dem Oberrohr noch eine "Welle" für uns parat.

Stairway to Hell

So schön es zu der einen Seite - hinter uns - auch aussehen mag: Weites Tal, Wein- und Obstplantagen, geschützt von mächtigen Bergflanken - so beschissen sieht es vor uns aus ...


Es geht merklich bergan. Schon bald habe ich wieder eine 12 vor dem Prozentzeichen. Die "Welle" vor dem Endanstieg. Naja, wenigstens bremst uns bei 6 km/h der Gegenwind nicht mehr so heftig.

Heiko und ich sind allein. Kein Mitstreiter mehr. Niemand.

Die Sonne knallt unerbittlich auf uns herunter und je nachdem, wie wir fahren, haben wir mal etwas kühlenden Gegenwind von vorn (dafür blendet die Sonne ungemein) oder, wenn sich die Serpentine zur anderen Seite windet, keinerlei Wind mehr. Dann steht die Hitze nur so unter dem Funktionstrikot, Wasser beginnt zu strömen.


Ich kann hier im Anstieg kaum noch Heikos Tempo halten. Er fährt eine Kompaktkurbel, muss aber auch angestrengt treten, um vorwärts zu kommen. Was für ein Unterschied zur Trittfrequenz, die die Italiener hier vorlegen!

Immer mehr entfernt er sich. 10 Meter, dann 20. Ich versuche schon lange nicht mehr, sein Tempo zu halten: Für mich, das weiß ich, geht es hier nur noch ums Ankommen. Alle paar Minuten trinke ich. Ich glaube, die Feuchtigkeit verdampft hier wie nichts.

Und immer wieder streuen sie hier kleine 16%-Stücke ein. Dann gehe ich aus dem Sattel und merke, wie stechender Schmerz mein rechtes Knie durchfährt. Na super, auch noch Knieschmerzen!


Schatten gibt es kaum noch. Ich muss die wenigen Flachstücke - bei Gegenwind - nutzen, um wieder etwas an Heiko heran zu kommen. In den Steigungen tritt er sich dann regelmäßig von mir weg.

"Verdammt!", fluche ich in mich hinein. Was ist hier heute nur los? Sonst bin ich doch immer der Bergfloh? Meine einzige Disziplin, bei der ich den beiden Bolzern Heiko und Flow mal überlegen bin. War. Noch vor 2 Wochen im Val d´Aran - ich war auch fertig, ja, aber ich habe die gezogen. Habe sie motiviert. Und heute? Flow weit vor uns außer Sichtweite (ob der schon im Bondone steht?) und Heiko, nach eigener Aussage auch "breit", fährt mir hier davon.

"What´s up, legs?", möchte ich in alter Jens Voigt-Manier meine Extremitäten anbrüllen. Aber was können die schon dafür? Los, Trentinagrana, entfalte Deine Energien!


"Ah herrlich! Endlich mal 15 Prozent!", stöhne ich, als vor uns hinter einer Kurve plötzlich eine Wand auftaucht. Nicht so lang, wie mein geliebter Waseberg, dafür um einiges steiler. Heiko ächzt sich hoch.

Zwei Italiener kommen von hinten aus dem Nichts und haben uns noch vor Ende dieser Rampe im Sack. Als wir oben sind, können wir die beiden schon nicht mehr sehen.


Es ist einfach eine Tortur. Anders kann ich es nicht beschreiben. Und ich weiß auch gar nicht mehr, wie ich das alles so gemeistert habe, denn diese kleine Welle zieht sich im Anstieg immerhin über 8 Kilometer hin. 8 Kilometer! Das ist die Länge, die es zum Gipfel des Col du Portilhon abzureiten gilt! Und das hier ist nur das Vorgeplänkel zum zweiten Monte Bondone!

Scheiße!

Eine weitere Kurve, dann haben wir es endlich geschafft! Nun nur noch wieder ein paar hundert Höhenmeter nach unten und dann diesen letzten Berg hoch ... na hossa!


Die "Abfahrt" ist frustrierend: Gegenwind, kaum mal schneller als 40 km/h. Immer wieder haut mir Heiko ab und selbst bei der nächsten Verpflegungsstation bekomme ich keinen Bissen herunter, naht da der Kollaps?

Die Sonne. Diese Sonne! Kein Vergleich zu Spanien. Da war es heißer, aber dafür auch schattiger. Das hier heute ist einfach eine Fahrt durch einen Backofen, vergleichbar vielleicht noch mit meiner Portugal-Tour.

Wir werden wie Pacman auf nur 2 Meter breiten Gässchen durch ein verwinkeltes Dorf gelotst. Harte Bremsmanöver sind notwendig, Kopfsteinpflaster schüttelt uns durch, ich komme mir vor, wie in einem Videospiel. Heiko schüttelt vorne nur den Kopf - mir solls recht sein: Durch dieses Gekurve kann ich wenigstens an ihm dran bleiben.

Im Fernsehen sieht das immer so einfach aus ...



"Ah, die Steigung des Charly Gaul. Sie ist ein Mythos. Ich fahre sie fast jede Woche zum Training und ich muss Ihnen sagen, dass hier, an diesem Berg, das ganze Können und die ganze Fahrmannschaft eines Rennradfahrers gefordert sind. Die Steigung ist monoton. Konstant. Dabei schwer. So steil, dass man sie tunlichst nicht ohne eine ... Kompaktkurbel fahren sollte! Nicht umsonst ist Charly Gaul hier kollabiert! Und ich sage Ihnen, als ich hier heute hoch bin, da sah ich einen Mann ... einen Deutschen ... der für mich ein Held ist, würdig, neben einem Charly Gaul erwähnt zu werden. Er fuhr nicht nur diese, sondern auch alle anderen Berge und Steigungen dieses harten Rennens nämlich gänzlich ohne Kompaktkurbeln. So viel Kraft, so viel Wille - ich ziehe meinen Hut ... dieser ... dieser Lars ist wirklich einer der besten ..."

Alles Quatsch. Natürlich. Gilberto Simoni ist einer der besten Kletterer seiner Zeit gewesen, wohnt in Trento und sieht den Monte Bondone als seinen Hausberg an. Er wird sicherlich keines dieser Worte gesprochen haben. Aber es sind jene Vorstellungen, die mich einige Stunden vor der RAI-Sport-Übertragung noch auf dem Rennrad halten können ...


Unten am Fuß des Bondone nimmt die Schmach ihren Lauf. Noch teilen wir uns die Straße mit einer Vielzahl von Autos, die werden aber irgendwann abbiegen. Heiko gewinnt schon in der aller ersten Flanke so viel Abstand, dass er nur noch sehr klein vor mir auszumachen ist.

Ich schalte kapitulierend aufs größte Ritzel: Survival ist nun angesagt. Mehr als 1.500 Höhenmeter auf knapp 20 Kilometern liegen vor mir. Den Luxus einer Taktik kann ich mir hier heute schon längst nicht mehr leisten.

Heiko ist weg. Allein allein.

Es ist die dritte oder vierte Kehre - mittlerweile ohne Autoverkehr auf schmalen Sträßchen unterwegs - dass ich Heiko aus den Augen verliere. Er scheint heute einen megastarken Tag zu haben, Hut ab! Ich bin nun allein. Und zum ersten Mal während dieses ganzen Rennens wird mir kein fremder Rhythmus aufgezwungen.


Nicht, dass es dadurch einfacher wird. Im Gegenteil. Ich kurbele so langsam, dass ich - auch zum ersten mal während dieses Rennens - meinen Puls endlich einmal unter die 150 bpm bekomme. Das schafft Luft zum Atmen - aber auch Angriffsfläche.

Scheinbar kommt nun von hinten ein Pulk weiterer Teilnehmer. 10, 15 Mann überholen mich in gewohnt hoher Kadenz. Ich komme mir hier vor, wie ein Zuschauer. Einige, die mich überholen, drehen sich um. Checken die, ob ich eine Startnummer am Lenker habe? Peinlich.


Wenigstens wechselt die Landschaft nun ab und zu. Von breiten Straßen geht es über ausladende Kurven wiederum durch kleine Dörfchen (mit zwei, drei Zuschauern!) auf schmale Gassen, steile Rampen wechseln sich ab mit etwas angenehmer zu fahrenden Passagen.

Die Prozente aber sinken nie unter 8.

Die sängende Hitze kann ich mittlerweile gut verdrängen: Irgendwann wird einem ja alles egal. Die Flaschen sind gut gefüllt - Mist! 1,5 Kilo extra an Gewicht zum Hochschleppen! Dafür werden die wohl bis zum Gipfel reichen.


Wie weit noch? 16 Kilometer! Oh man, denke ich mir, das wird hier heute sehr knappi werden! Noch 16 Kilometer. Rechne ich mal so. Bei 7 bis 8 km/h im Schnitt. Na hossa - da haben Monsieur Bondone und ich also noch gute 2 Stunden Freude aneinander.

Es ist zum heulen.


Ich beiße mich eine weitere, sehr steile Passage hoch. Alter, wasn hier los? 14% und dann 12% und kein Ende? Ich habe noch ein einziges Gel, stelle ich fest, als ich meine Trikottasche befummle. 4 schon gelutscht. Eines noch in petto.

Soll ich es jetzt nehmen?

Zweite Luft.

Während ich so überlege und mich durch die nächste Kurve trete, passiert mir etwas Wunderbares. Aber wie es so ist, mit wunderbaren Dingen auf dieser Welt - ein Anderer muss dafür zahlen.


Hinter der Kurve sehe ich Heiko im Abhang hocken. Das Rennrad hat er in die Schräge fallen lassen, er nimmt sich gerade den Helm ab. Es sind noch zweihundert Meter bis zu ihm, also habe ich Zeit, ihn zu beobachten: Seine ganze Körpersprache, sein Gestus, alles, deuten darauf hin, dass er hier gerade ein richtig fieses Down hat.

Als ich bei ihm bin (verbitte ich mir aus Anstand ein Foto) frage ich: "Alles klar? Defekt? Fertig?" Vielleicht kann ich helfen. Er schaut mich an. Leere Augen tief in den Höhlen. Schweißverschmierte Haare kleben an der Stirn. Er pustet. Schwer hebt und senkt sich sein Brustkorb: "Ich ... bin ... einfach ... breit ... Hunger ... ast."
Ob er genug Trinken und Essen hätte?
Hat er.

Was soll ich hier noch machen? Beim Hungerast hilft nur eine Runde Ruhe und Essen. Mit etwas Glück bekommt man den Motor wieder ans laufen. In Portugal hat es mich mal zwei ganze Stunden ausgeknockt - ich hoffe, das passiert ihm hier heute nicht.

Ich fahre weiter. Helfen kann ich ihm nicht.



Und wie von Zauberhand beflügelt es mich irgendwie. Es klingt schadenfroh, ist es aber nicht. Aber der Fakt, dass Heiko, der starke, starke Heiko, der hier heute eine so geile Leistung abliefert, kurz vor mir abknickt, bestätigt mich irgendwie in meiner eigenen Leistung: Eben noch Letzter unseres Teams. Nun schon Zweiter.

Heiko eingeknickt.
Ich fahre noch.

Es tritt sich gleich leichter. Noch 11 Kilometer.


Ich beschließe, mir mein letztes Geld bei Kilometer 5 reinzuziehen. Dann braucht es 15, 20 Minuten in den Körper. Ich sollte zum Endspurt also wieder genug Kohlenhydrate im Metabolismus haben.

Die Veranstalter beginnen, uns zu motivieren. Jeden Kilometer haben sie nun Schilder mit den Zielangaben aufgehangen. Solange diese zweistellig sind, erzielen sie bei mir zumindest den gegenteiligen Effekt. Als ich aber an der "10" vorbeikomme, ist es wie Weihnachten. Nun weiß ich sicher, dass ich oben ankomme. 10 Kilometer, das ist nicht mehr viel.
Einknicken werde ich heute nicht, das steht fest.

Wo vielleicht ein Keim des Zweifels bisher aufkam, ist dieser nun beseitigt: Auch die La Leggendaria wird sich in mein Palmarés einfügen. Ein dnf wird es heute für mich nicht geben.


Wieder kommen wir in einen herrlich nach Harz duftenden Nadelwald. Ein ums andere mal werde ich von meinen Mitstreitern überholt, sogar eines der Mädels, hinter der ich nach dem Start eine Weile hergefahren bin, überholt mich.
Ich versuche aus Stolz, eine Weile an ihr dran zu bleiben, lasse sie dann aber ziehen. Nee, für Chauvinismus und flirten ist hier nun wirklich keine Luft mehr!


Ich reiße mir den Zipper auf. Noch 8 Kilometer. Unfassbar. Ein Countdown ins Glück! Flow wird auf seinen Zielfotos später diese Freude rauslassen: Seine Hand zum Himmel recken und die Faust ballen. Es wird ein ehrliches, fast kindsfrohes Grinsen auf seinem Gesicht stehen. Freude darüber, dieses ultraharte Rennen gemeistert zu haben.

Ich schaue verbissen drein. Muss hier noch um achttausend Meter und einige hundert Höhenmeter kämpfen. Wieviele Kalorien kostet mich hier gerade eine einzige Umdrehung?


Puls 145 bm. Hoch bekomme ich den nur noch, wenn ich kurz aus dem Sattel gehe (was ich nun sehr oft tue, weil ich einfach nicht mehr die Kraft zum Treten habe) und eine Weile im Wiegetritt fahre. Müde schieben sich die Digits dann zur 152. Höher geht nicht. Ich bin breit. Sagt auch das Herz.

Der Wiegetritt - sonst ab und zu als Lockerung eingestreut - wird nun fast zu 50% gefahren. Sitzen kann ich schon lange nicht mehr ohne Schmerzen, aus Angst vor Krämpfen und um mein rechtes Knie, das sich immer wieder mit fiesem Stechen meldet, stehe ich fast die Hälfte nun auf den Pedalen.

Ach schön, steiler wirds auch gerade wieder ...


Ironie des Schicksals - mir kann hier keine noch so steile Rampe mehr etwas anhaben. Ich kann das Ziel schon förmlich riechen, spüre es in meinen Beinen. Ach kommt, lasst Euch mal was neues einfallen, mich haut das hier nicht vom Sockel.

Die extrasteile Kurve nehme ich ganz innen, wo es am steilsten ist. Weil ich es kann.
Ja, es tut weh. Ja es zwickt.
Na und?

Noch 4 Kilometer, Jungs! Ich bin hier gleich durch!


Wieder zieht einer an mir vorbei. Es wird etwas flacher. 9 Prozent.
Ich fingere mir hinten die letzte Nutrixxion-Packung hervor, reiße mit dem Mund das Gel auf und drücke mir den Coffein-Shock hinein. Ekelhaft warm das Zeug. Supersüß. Schnell Wasser hinterher kippen! Mund spülen. Ah, es kribbelt immer so schön: Das silberne Gel hebe ich mir immer für den letzten Shot auf. Ich bin schon auf diesen Geschmack konditioniert: Nutrixxion silber? Ziel ist nah!



Nach oben zu schauen, nach dem Ziel Ausschau zu halten, das brauche ich nicht: Man kann vor lauter Wald eh nix sehen. Ab und zu aber ergeben sich einige schöne Aus- und Einsichten nach unten. Dann nämlich, wenn ich über die abenteuerlich in den Abhang gebastelten Serpentinen hinweg in das Tal hinab sehen kann. Ameisenhaufen. Und ich kurz vor dem Olymp.

Mich trifft unverhofft ein Krampf und holt mich mit einem Schlag ins hier und jetzt. Na und? Krampfts halt. Noch 2.500 Meter.


Ich reiße mich zusammen. Ein weiteres Dorf kommt. Norge heißt es. Dann ein nächstes. Hotels und Pensionen: Irgendwie erinnert mich das hier alles an meine Auffahrt nach L´Alpe d´Huez während meiner Tour de France 2011.


Dritte Luft.

Hinter einer nächsten Kurve passiert mir dann wieder etwas Wunderbares ...


Vor mir, keine 300 Meter entfernt, sehe ich das Solartrikot. Es ist Flow! Ich habe Flow ein! Ja, er ist einige Dutzend Höhenmeter über mir, aber vor mir. Ich habe tatsächlich den Abstand, den ich mir bei der Abfahrt vom Bondone vor 90 (!) Kilometern eingehandelt habe, verkürzen können auf wenige Meter.

Ich bin hoch erfreut. Motivation durchströmt mich. So glücklich. Auf einmal schießen mir so viele positive Gedanken durch den Kopf: Wie geil! Wie genial ist das denn bitte? Ich habe Flow ein!




Nun ist kein halten mehr. An der 2 km-Marke entscheide ich mich, noch ein Schippchen draufzulegen. Ich schalte einen Gang nach oben und gehe in den Wiegetritt. Ja, das Knie schmerzt. Na und? "Halts Maul, Knie!", da ist er wieder, der Jens Voigt in mir.

Ich bin nicht schnell. Beiweitem nicht. Aber ich bin ein bisschen schneller als vorhin - und selbst da habe ich schon Boden auf Flow gut gemacht. Immer wieder verliere ich ihn für kurze Zeit aus den Augen. Aber ich spute mich. Nehme die steilen Kurven jetzt nur noch in Ideallinie. Muss aufpassen: Uns kommen die ersten Finisher auf ihrer Heim-Abfahrt entgegen.

Mit Flow gemeinsam über die Ziellinie, denke ich mir, das wäre was, wenn ich ihn genau auf der Induktionsschleife erwische ...


Die letzten Kilometer fliegen förmlich an mir vorbei. Ich kann schon lange nicht mehr. Aber der Gedanke daran, dass da keine 30 Sekunden vor mir Florian kurbelt, setzt ungeahnte Energien frei. Die dritte Luft. Sowas gibts tatsächlich.

Ich trete hier, als gäbe es etwas zu gewinnen.
Und je näher ich dem Rücken von Flow komme, desto mehr motiviere ich mich.

Woher ich die Kraft nehme, weiß ich nicht. Es wird eine Mischung aus viel Synapsenterror und Nutrixxion sein.



Fotos kann ich längst schon keine mehr machen: Ich stecke jedes Füncken Energie nun in die Aufholjagd. Aber andere Fotografen dokumentieren das ja.

Flow dreht sich um und sieht mich. Kurz habe ich das Gefühl, als drehe er auch nochmal auf, fahre mir davon, was mich noch mehr anstachelt, reinzutreten. Als ich ihn einhabe, klatschen wir ab. Er hält meine Hand. "Los ... gemeinsam ... Ziellinie"... stammelt er. Es wird steiler. Er kommt ins straucheln und manövriert - meine Hand immer noch haltend - herum. Na, jetzt hier noch 200 Meter vor dem Ziel stürzen.

"Nee, lass mal lieber los ... will nicht ... Fresse fliegen ..."

Und auf einmal bleibt er hinter mir zurück. Wie entfesselt trete ich rein. Beiße mich bergan. Schieße durch die letzten Kurven.



Unfassbar, was an Gefühlen da durch den Körper wogt! Unbeschreiblich dieses Gefühl: nicht zu vergleichen. Mit keinem einzigen Rennen bisher. Keine so harte Leistung, kein so starkes Finish. Nicht einmal Val d´Aran, die Berghölle. Kein Gebolze beim Velothon, nicht einmal die 100 km/h bei Rad am Ring oder die grandiose Zielankunft beim Gran Fondo New York.

Nichts kommt an das heran, was hier gerade in mir emotional abgeht. Ich kollabiere hier auch fast, wie meister Gaul in den 60ern vor mir. Und doch: Noch immer kann ich reinknallen!


Und dann endlich, ich hebe meinen Kopf - nehme nichts mehr wahr, keine Musik, nicht die sich überschlagende Stimme des Moderators, auch nicht das Klatschen der Leute, nicht die Kälte, die hier oben herrscht, nicht den kalten Wind und die noch immer brennende Sonne. Keinen Knieschmerz, keine Muskelkrämpfe, meine zitternden Waden stecke ich beiseite, meine brennende Lunge hake ich ab, die trockene Zunge kann mich mal und meine Augen füllen sich mit Salzwasser - ich sehe den Zielbogen!


Als ich eine Minute vor Florian über die Induktionsschleife komme und den "Stopp"-Knopf am Garmin drücke, überwältigt es mich innerlich. Kein Rennen hat mich so viel gekostet. Kein Rennen, bei dem ich von ganz hinten nach ganz vorn gekommen wäre. Noch vor 2 Stunden, da unten am Fuß des Bondone, war ich am Boden zerstört. Heiko und Florian - absolut keine Bergfahrer - hängen mich ab. Und nun? Bin ich vorn. habe ich sie beide doch geknackt.

Für Freude oder Gesten habe ich keine Kraft mehr. So senke ich nur den Kopf. Selbst mein ultraleichter Helm ist mir zu schwer geworden.


Platz 440 von 470 Teilnehmern auf der großen Strecke. Mit 6:58 Stunden noch knapp unter der 7er-Marke. Das Ziel ist erreicht. "Unter 7 bleiben wäre geil", hat Heiko als Devise ausgegeben. Warum ausgerechnet 7, weiß ich nicht.
Aber ich habs erreicht.

A-L-T-E-R!

Als ich vom Pinkeln wiederkomme (das hat weh getan!) raubt Flow bereits das Büffet aus. Hastig ziehe ich mir das Langarmtrikot über: Herrschten im Anstieg noch 35 Grad, zeigt das Thermometer hier oben keine 16 Grad an. Zischend zieht eiskalter Wind mir durch die Nähte.


Vereinzelt kommen immer mehr Fahrer rein. Heute weiß ich, dass da noch 30 Mann auf der Strecke waren, hinter uns. Heiko ist einer von ihnen. Wann er wohl reinkommen wird?

Für mich zählt erst einmal nur eines: Warm werden! Am Büffet lassen wir uns schwarze Müllsäcke geben, in die wir Löcher für Kopf und Arme reißen. Die Plastik hält die Wärme schön innen und heißt sich in der Sonne schnell auf. Nicht optimal, aber besser, als schlotternd hier krank zu werden.


Flow lässt sich ins Gras fallen.

"Ist das Urin für die Doping-Kontrolle?", frage ich ihn.
Nur wenige Tage nach der Leggendaria wird bekannt gegeben, dass der Gewinner der 45-Jahre-Wertung des Gran Fondo New York, den ich auch mitgefahren war, mit EPO gedopt hatte. Eine Dame ebenfalls. So weit hergeholt war der Witz also nicht.


Endlich kommt auch Heiko ins Ziel. Er braucht 5 Minuten, um wieder zu sich zu kommen. Es sieht schlimm aus.

Erst, als er sich aufgerafft hatte und vollbeladen mit dem kostenlosen (ja, so geht das, liebes Dreiländergiro-Team!) Essen wieder kommt, kann auch unser heiko wieder lachen: Es gibt leckeres Carpaccio und Penne Bolognese.


So sitzen wir schlotternd und schmatzend noch eine Weile in der Sonne und stopfen unsere knurrenden Mägen voll. Endlich wieder Salz! Endlich was kauen! Über das Rennen freilich spricht noch niemand. Zu frisch noch die Wunden, zu schnappig die Atmung.

Meine Beine brennen, mein Nacken schmerzt. Meine Schenkel krampfen. Und nun regnet es auch noch.


Lange halten wir es hier nicht aus. Florian ist zu fertig, um sich noch einmal aufs Rad zu setzen und beschließt, das Bus-Shuttle nach Trento zu nehmen. Wann das abfährt, weiß keiner von uns und so sind Heiko und ich später wieder auf dem Rennrad.


20 Kilometer Abfahrt. Ich schlottere dermaßen, dass das Rennrad Schlangenlinien fährt. Mehr als 40 km/h traue ich mir nicht mehr zu. Bin so breit. Die Abfahrt ist der Horror. Zitteranfälle. Zwei mal halte ich zur Sicherheit an und taue mir die gefrorenen Hände in den Achselhöhlen wieder auf. Es dauert ewig, bis ich unten bin.

Dort herrschen wieder 30 Grad.
Die letzten Kilometer ins Hotel. Eine Triumphfahrt.

Neben meiner Dusche steht ein Hocker, auf dem das Hotelpersonal die Handtücher gestapelt hatte. Den stelle ich mir unter die Brause und setze mich hin. Heißes Wasser fließt rauschend eine halbe Stunde auf meinen leblosen Körper.




Wie ich dann ins Bett gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Irgendwann klingelt das Telefon: "Ey Digger!", es ist Flow, "Mach mal RAI-Sport an!" Ich sehe den Gewinner der La Leggedaria Charly Gaul 2012 im Interview: "Ah, bene. Es war sauhart! Ich habe eine fantastische Zeit hingelegt und endlich dieses Rennen gewonnen. Aber wissen Sie was? Jeder, der hier heute diese Strecke gemeistert hat, ist ein Held. Jeder! Vor allem jene Ragazzi, die da ganz hinten fahren, die sich abmühen, die hier heute ihre Grenzen erkennen, sie erreichen und über sie hinausgehen. Leute, wie Florian, Heiko oder Lars. Ohne Kompaktburbeln. Ohne Bergtraining. All jene, die jetzt noch schwitzen - sie sind die wahren Helden."

Matteo Cappe ist 2 Jahre älter als ich. 77er-Jahrgang. Er gibt dieses Interview zweieinhalb Stunden bevor ich an seiner Stelle gesenkten Hauptes durchkomme. Als Matteo schon geduscht bei seiner Süßen im Schoß liegen kann, quäle ich mich gerade hinter Heiko den Kackberg vor dem zweiten Bondone-Aufstieg nach oben. Unfassbar, welches Niveau die hier haben.

Sie zeigen bei RAI-Sport Aufnahmen von Matteo, wie er den Bondone hochfährt.
Ein Zoom auf sein Rennrad.
Er fährt auf dem großen Blatt.

Ich reibe mir Franzbranntwein auf die Waden und schlafe wenig später ein.



Hier gehts zum Garmin-Track mit allen Strecken-, Höhen- und Pulsdaten.

Die 3-stündige RAI SPORT-Sendung (italienisch) gibts hier. Als Player braucht Ihr Microsoft Silverlight.

Und hier gehts zum offiziellen Bericht des Teams SunClass Solarmodule.

4 Kommentare:

  1. Ich beneide dich so sehr. es ist toll, eine solche Reise mit Ihrer besten Freunde haben

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  2. Toller Bericht, hat unglaublich Spaß gemacht ihn zu lesen.
    Ich freue mich auf mehr davon :)

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    1. hi niko, danke für deinen comment. fährst du dieses jahr mit? dann viel spaß, ist ein super rennen!

      grüße, lars

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  3. Ein Ort mit einer wundervollen Landschaft, die eine Menge zu bieten, ohne Zweifel hat. Ausgezeichnete Wahl für eine Radtour! Die Fotoreportage ist genial.

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