28. März 2013

HFmax, Schwelle & Co., oder: Die Herzfrequenz aus der Leistungsdiagnostik im Realitäts-Check

Einer meiner geschätzten Leser schreibt mir vor ein paar Tagen als Reaktion auf meinen Blog-Post vom Einsatz beim Gran Fondo La Sagrantino: "Dein Durchschnittspuls von 160 Schlägen pro Minute wundert mich: Frage doch mal deinen Diagnostiker, was er davon hält. Ich kenne einen Sportmediziner der sagt, dass oftmals der gemessene Puls bei solchen Rennen sinnvoller zur Bestimmung der Schwellenwerte ist, als die Untersuchung im Labor."




Leiden im Anstieg: Herz auf Hochtouren!

Interessanter Einwand, denke ich mir, und schaue mir interessenshalber erst einmal die Garmin-Auswertungen meiner bisherigen Rennen an - wie ist denn so mein Durchschnittspuls bisher?

Die durchschnittliche Herzfrequenz im Rennen

Seit dem ich mein Garmin Edge 800 mit Pulsgurt betreibe, fahre ich bei den großen Rennen wie auch bei längeren Trainingseinheiten mit Pulsmessung. Leider befinden sich erst 19 dieser Einsätze mit HF in der Connect-Plattform, für eine erste Auswertung aber sollten diese erstmal reichen.




Erst 19 Datensätze - mir aber fürs Erste ausreichend genug

So übertrage ich diese Werte in eine Tabelle und ermittle für drei Rennkategorien meine durchschnittliche Herzfrequenz bei Belastung: Puls bei einer "schweren Dauerbelastung", also Rennen und Trainings-Einheiten ab 4 Stunden oder 170 km Distanz. Dann Einsätze mit "mittlerer Belastung" bei unter 3 Stunden andauernden Events bis 170 km und schließlich die "kurze Belastung", also alles bis 100 km.

Daraus alles ergibt eine interessante Grafik:



Ich fahre in allen Belastungsbereichen immer über meiner Schwelle

Die Farben täuschen - im "grünen Bereich" ist hier nämlich nix.

Zwar habe ich nur wenige Events bisher mit Herzfrequensmessung im Garmin Connect, aber ich kann einige ineterssante Daten ableiten: So sind meine "schweren Dauerbelastungen" mit rund 166 km bei einem durchschnittlichen Puls von 150 Schlägen pro Minute recht hoch, noch höher sieht es bei den "mittleren Belastungen" aus, die im Schnitt 3 Stunden lang sind - hier komme ich fast an einen Durchschnittspuls von 160 Schlägen pro Minute heran.

Die "kurzen Belastungen" - fast alles Daten der Nordschleife von meinen "Rad am Ring"-Einsätzen 2011 und 2012 - sind etwas ruhiger: 29 km im Schnitt bei 148 HF/Schnitt.

Nun rekapituliere ich die bei meiner Leistungsdiagnostik Anfang 2013 ermittelten Werte durch den Sportmediziner Dr. Frank Brons und Frau Jalaß.

Meine Laborwerte - GA1, GA2, Entwicklungsbreich & Co für das Rennrad-Training

Im Leistungstest, den ich Anfang Januar dieses Jahres gemacht habe - und hier ausführlich berichte - ermitteln die beiden Sportmediziner eine Schwelle, die bei 142 Schlägen pro Minute liegt und die folgenden Trainingsbereiche:


Trainingsbereiche, deren Anteil und meine Herzfrequenzen

Nehme ich nun die E-Mail, die mir mein Leser geschrieben hat, und meine empirischen Durchschnittswerte aus den Garmin-Messungen, dann runzelt mir die Stirn: Ich fahre bei Wettkämpfen und Rennen eigentlich immer im roten Bereich!

Dass bei Wettkampf-Belastungen öfter mal die Schwelle übertreten wird, ist klar - aber dies wirklich immer?

Wie kann das zusammen gehen? Für ein Rennen, wie den Ötztaler Radmarathon, den ich 2012 gefahren bin, würde sich dann zum Beispiel ergeben, dass ich ca. 90% der Renndistanz über der anaeroben Schwelle gefahren bin:



Beispiel Ötztaler Radmarathon: Fast immer über der Schwelle

So lange über der Schwelle? Über 9 Stunden auf dem Rennrad im roten Bereich? Kann das gehen? Bei meinen anderen Rennen sieht das ähnlich aus. Ich stutze und schreibe Frau Jalaß von der Kaifu Leistungsdiagnostik eine E-Mail und stelle ihr genau diese Frage.

Sie antwortet: "Es scheint bislang für Dich kein Problem zu geben, im Wettkampgf auch in höheren Bereichen zu fahren. Deshalb spricht auch nichts dagegen, dass Du das weiterhin so handhabst. Du solltest aber darauf achten, Dich in Deinem Training an die Trainingsbereiche zu halten - und vor allem auch in den unteren Bereichen zu trainieren."

Was nun also? Fahren nach Laborwerten oder nach Gefühl?

Ich kann für mich anhand der Laborwerte und der gemessenen, "echten" Werte nur sagen, dass ich mich auch weiterhin im Rennen und bei Leistungs-Situationen eher auf mein Gefühl verlassen werde. "Wenn Du Dich im Rennen gut fühlst, dann fahre ruhig nach Gefühl. Achte aber bei extrem langen Wettkämpfen darauf, nicht allzu hochpulsig zu fahren.", sagt Frau Jalaß weiter.

Ganz provokant gefragt: Bringt eine - ja nun nicht ganz billige - Leistungsdiagnostik überhaupt etwas? Ich denke schon, den die Laborwerte geben einen sehr guten Snapshot ab, wie die momentane, nivellierte Leistungsfähigkeit des Körpers aussieht - und damit wertvolle Hinweise, wie man sich im Training zu verhalten hat.

Was die Rennen angeht, so werde ich meine "magische 142" auch weiterhin immer im Auge behalten - allerdings wohlwissend, dass ich durchaus dazu in der Lage bin, auch längere Zeit, in Bereiche darüber zu fahren. Und am Berg wird sich das sowieso nie vermeiden lassen.



18 Prozent und 170 Puls - Gran Fondo-Feeling in Italien

Dieses Wissen hätte mich natürlich nicht vor dem Scheitern beim Gran Fondo La Sagrantino bewahren können - denn Training kann das nicht ersetzen - aber in Zukunft werde ich bewusster - wissender - fahren.

P.S. - Und ich bin gespannt, wie die Pulskurve des RATA aussehen wird ...



Habt Ihr ähnliche Erfahrungen gemacht - oder andere interessante Dinge mit Euren HF-Messungen angestellt? Ich freue mich über Eure Comments.

14. März 2013

Volle Pulle halbe Kraft - Enttäuschung beim Gran Fondo La Sagrantino 2013

Es gibt bei mir kaum Momente, bei denen so richtig und fundamental alles in die Hose geht. Fehler können immer mal passieren. Tun sie auch. Kleine Unzulänglichkeiten, Unschärfen - sie machen aber alles spannend. An denen wachsen wir. Im Sport wie im Leben.

Wenn aber etwas so daneben läuft, wie bei Gran Fondo La Sagrantino 2013 am letzten Wochenende, dann ist das eine Ausnahme. Gottseidank. Es folgt der Bericht einer großen Pleite.

Il Prologo - Am Anfang sieht es noch ganz gut aus.

Es ist kühl, aber nicht kalt, an diesem Sonntagmorgen des 10. März, als wir mit unserem Mietwagen vom umbrischen Foligno ins 11 km entfernte Bergdörfchen Montefalco fahren.


Montefalco, 400 Meter hoch. Die Sonne geht auf. Renntag!

Die Sonne geht langsam auf, das Frühstück war - für italienische Verhältnisse - ganz okay und so sind wir sehr guter Dinge, als wir die steile Straße hinauf zum Parkplatz fahren, wo sich die etwa 1.500 Teilnehmer schon eingefunden haben, ihre Räder auspacken, mit letzten Handgriffen ihre Schaltungen justieren, Klamotten und Proviant einpacken und einfach guter Laune sind.

Allenthalben hallt ein freundlich-lautes "Buongiorno" durch die morgendliche Stille, erste Sonnenstrahlen heizen meine schwarzen Beinlinge auf. Ich freue mich: Erstes Rennen der Saison - genial!


Flow ist auch wieder mit am Start

Auch Flow, der mit mir wieder für das Team SunClass Solarmodule mit am Start ist, freut sich auf das anstehende Rennen: Wir haben 138 Kilometer mit knapp 2.700 Höhenmetern vor uns. Das Profil sagt kleinere Wellen, einen mittleren und einen heftigen Anstieg voraus.

Bevor wir zum Start - ganz oben - kommen, müssen wir eine Runde Frühsport machen. Erwärmung. Noch habe ich gut Lachen ... 15% sind das. Waseberg lässt grüßen.


14% Frühsport-Rampe. Hier gehts nachher auch zum Ziel hoch.

Es geht extrem steil auf rutschigem Kopfsteinpflaster durch eine enge Gasse hinauf. Die Ritzel gehen mir aus. Schnell bin ich außer Puste. Wow, krass. Hinten nölt Flow: "Das wird der Endanstieg ..." und "Helm ab zum Gebet!"

"Nicht, was uns Sorgen machen sollte", bediene ich mich noch guter Dinge als Prophet und begehe damit wahrscheinlich den ersten Frevel des Tages. Flow ist da etwas zurückhaltender - meine Prognose, dass wir "sicher so um 13:30 Uhr wieder da sind", kann er nicht so recht teilen. 

Oben auf dem Berg ist auf der kleinen Piazza schon mächtig was los ...


Gedränge am Start. Die Piazza ist überfüllt.

Es drängen sich die Rennradfahrer dicht an dicht, über die Lautsprecheranlage schnarrt eine Stimme sich in feinstem Italienisch überschlagend. Wir verstehen natürlich kein einziges Wort. Ab und zu mal "pericoloso" oder "partenza" oder auch mal "gran fondo". Aber so richtig bekommen wir nichts mit.

Wahrscheinlich das übliche "passt auf, fahrt vorsichtig, gleich ist Start"-Gerede, wie ich es schon bei so vielen Rennen gehört habe.

Flow drängelt sich mit mir im Schlepptau - auf taub machend - bis in einen der vorderen Startblöcke durch. Wir haben die Startnummern 1086 und 1087, stehen aber im Block mit den Nummern 551 bis 700. Hinter mir versucht einer der Orga-Leute, mich wild gestikulierend abzufangen. Er kommt nicht durch zu mir. Leider verstehe ich ihn ja auch nicht ...


Wie werden die Beine heute sein?

Es ist kurz vor 9 Uhr, Startzeit. In unserem Block werden die GPS angehauen, ich beschaue mir meine Beine - "Na, alles klar bei Euch?" Wird schon. Ich stehe ja gut im Training, immerhin bin ich letzte Woche noch den extrem bergigen Jerusalem Marathon gelaufen. Was können mir da heute läppische 138 Kilometer anhaben?

La Partenza - der Crash beginnt

Wir stehen im dritten Block, was ich gut sehen kann, denn es geht direkt nach dem Start sehr steil und sehr eng bergab. Vorne labert der Sprecher sich einen Wolf, immer wieder wird gepfiffen und ausgebuht - die Jungs wollen wohl los!


Beim Start geht es sehr steil auf Kopfstein bergab.

Dann endlich, einige Minuten nach neun, der Startschuss. Nachdem die Blöcke kurz vorher zusammengelegt worden waren, geht es zunächst gemächlich, sehr vorsichtig, auf dem Kopfsteinpflaster durch die engen mittelalterlichen Gassen. Viel Gebremse, ab und zu müssen wir noch schieben, dann die Zeitnahme und wie von Geisterhand geht es auf einmal los.

Wow, Scheiße, kann ich gerade noch fluchen - die Straße taucht unter mir ab, schon habe ich irre Speed drauf, vor, neben, hinter und seitlich von mir hunderte Rennräder, alle suchen die Ideallinie. Ich bin so damit beschäftigt, keinem rein zu fahren und darauf zu achten, dass in diesem Gewöll mir keiner rein fährt, dass ich Flow aus den Augen verliere.

Der gibt da vorn richtig Gas - er wird in den etwa 9 Kilometern Abfahrt, die nun anstehen, hunderte Plätze gutmachen: Er kennt da eben weniger Schmerz, als ich.

Problemi di peso - Mein Gewichtsmanko

Schon auf diesen ersten Kilometern lege ich den Grundstein für das spätere sehr schlechte Ergebnis. Da ich mit meinen läppischen 63 Kilo Lebendgewicht kaum Masse bringe, muss ich extrem hart reintreten, um auch nur annähernd mit dem Tempo in der Abfahrt mithalten zu können.


Die 9 km Start-Abfahrt sind fast zu Ende.

In der Abfahrt - weiter oben bei 8, 9 Prozent Gefälle extrem schnell, weshalb ich da keine Fotos machen kann - später etwas seichter, dafür sehr viel kurviger - muss ich deshalb viel Kraft aufwänden, um eine Speed von 50, 60 km/h überhaupt mitgehen zu können.

Kraftprotze wie Florian, die 90 Kilogramm wiegen, lassen da einfach die Hangabtriebskraft wirken und schießen nur so bergab. Und kurbeln vielleicht mal aus Spaß locker mit.

Die erste Abfahrt mache ich mit 180 bis 170 Schlägen pro Minute Puls. Schon bald brennt mir die Lunge. Ich werde massenweise überholt, geradezu peinlich nach hinten durchgereicht. Keine 10 Kilometer gefahren - noch nicht einmal bergauf! - und schon weit, weit im roten Bereich! Am Ende dieses Rennens werde ich mit einem 160er Puls-Schnitt gefahren sein. Bei 142 liegt meine Schwelle ...


Das Feld beginnt sich, auseinanderzuziehen. Flow ist außer Sicht.

Es endlich die ersten Anstiege kommen, kann ich auch etwas runterfahren. Dennoch: Das Tempo bleibt sehr hoch, dabei weht ein steter seitlicher Gegenwind, sodass ein richtiges Windschattenfahren nicht möglich ist.

Wie ein Fiat Panda auf der Autostrada ordne ich mich rechts ein und lasse mich weiter überholen. Mir brennen die Beine, die Lunge sprüht Feuer - und vorn sehe ich nur noch ganz klein das Solar-Trikot von Flow ab und zu mal aufblitzen. Noch mache ich mir Hoffnungen, ihn am Berg wieder einholen zu können.

Colleghi die Gran Fondo - meine Mitstreiter

Ein Rennen in Italien zu Fahren ist immer ein Genuss. Zunächst einmal, weil hier der Radsport Teil der Kultur ist. Sie leben den Radsport, sie geben sich ihm mit Leidenschaft hin.


Ich mag Italiener auf Rennrädern!

Kaum einer, der hier nicht mit einem mindestens auf Hochglanz polierten Renner an den Start gehen würde, kaum einer, der nicht stolz die Radkombi seines lokalen Radklubs (typisch italienisch knallebunt) anziehen würde. Keine Mountainbike-Visire an den Helmen. Keine schwarzen Socken. Es ist ein Traum.

Sie sind freundlich, sie grüßen. Sie schnattern die ganze Zeit - fahren dabei sicher und bringen niemals weder sich noch ihre Mitstreiter mit bescheuerten Fahrmanövern in Bedrängnis. Ein Genuss, hier Rad zu fahren! Welch´ ein Unterschied zu den Freizeit-Idioten, mit denen ich mich bei wirklich jedem einzelnen Rennen des German Cycling Cups auseinander zu setzen hatte!

Die meisten von diesen Leuten, mit denen ich hier gerade am Anfang des Rennens fahre, werde ich in knapp 4 Stunden wieder treffen. Aber zu diesem Horror-Kapitel kommen wir ja noch ...


Sonne, Anstiege, Rennrad - was braucht der Mensch mehr?

Es lichtet sich immer mehr das Feld um mich herum. Langsam geht es ab Kilometer 15 wieder bergauf, dann wieder rasant bergab, dann wieder bergauf und wieder bergab. Ich bin so allein mit mir und realisiere immer mehr: Meine Form ist absolut im Keller!

Non - la prima parte. Des Scheiterns erster Teil.

Wo mich die Abfahrt bereits schon an die HFmax getrieben hat, wird nun der Wind das Seine tun. Immer wieder wird das schöne, sonnenklare Wetter von plötzlich heraufziehenden Wolken verschlechtert, ein Zeichen für starken Wind.


Allerdings weht ein fieser, kühler Wind.

In den langsamen Anstiegen merke ich ihn kaum, aber wenn ich über eine der unzähligen Kuppen komme, dann schlägt es mir doch recht stark entgegen. Zudem weht es auf vielen der kleinen Abfahrten dermaßen stark von vorn, dass ich selbst bei einem Gefälle von 7 oder 9 Prozent kaum über 35 km/h komme! 

Und das auch nur, wenn ich hart reintrete. Ich wundere mich, wie sie mich hier scharenweise fast spielend überholen. Kaum zu glauben, dass hier ganze Gruppen von 20, 30 oder mehr Fahrern einfach so an mir vorbeiziehen - und ich nicht einmal den Hauch einer Chance habe, mich im Windschatten versteckend mitziehen zu lassen. Selbst dafür fehlt mir die Kraft!


Das Sagrantino ist berühmt für Wein und Olivenöl.

Der Wind macht mir zu Schaffen.
Meine Beine brennen.
Meine Psyche leidet. Flow ist lange schon außer Sicht ...

Und man muss kein Sportwissenschaftler sein, um den Grund hierfür zu ermitteln: Mangelndes Training und natürlich die noch nicht abgeschlossene Regeneration vom Marathon letzte Woche. Heute sitze ich das erste mal in diesem Jahr au dem Rennrad. Wo vielleicht eine ein-, zweistündige, lockere Trainingsausfahrt in GA1 angestanden hätte, mute ich mir hier einen hammerharten Gran Fondo zu.

Das kann ja nicht gut gehen.


Allein im Gegenwind. Ätzend!

"Naja", denke ich mir, "dann fährste halt deinen Stiefel und schaust, dass du ankommst, wenn schon keine Bestzeit drin ist heute." Beschließe ich so und konzentriere mich darauf, meinen Puls nach unten zu bekommen und halbwegs einen gangbaren Rhythmus zu finden.

Wenn nur dieser ver.......te Wind nicht wäre!

Il mio Umbria - mein Umbrien!

Begeistern hingegen kann mich mal wieder Umbrien. Durch dieses - vor allem durch den Weinanbau und das leckere Olivenöl bekannte - Gebiet bin ich 2010 schon auf meiner aller ersten Rennrad-Tour gekommen, auf dem "Mio Giro" habe ich sogar in Foligno übernachtet und später werde ich auch einige der Straßenabschnitte wieder erkennen.


Umbrien ist nicht hoch. Dafür steil.

Umbrien ist nicht extrem hoch. Es sind hier nicht die Alpen oder die beeindruckenden Dolomiten. Es sind eher seicht anmutende Hügel - deren Rampen es allerdings durchaus in sich haben! - und die weiten Blicke, die man in die fruchtbaren Täler hat.

Links und rechts von mir zieren Weinberge, noch etwas kahl wirkend, die seichten Abhänge, wenn ich in einer Stunde kurz die Getränke wegpullern werde, werde ich dies in einem Olivenhain tun. Überall duftet es nach Frühling, das schrille Zirpen der Singvögel erscheint nach dem langen, stillen Winter in Hamburg wie aus einer anderen Welt.

Ach, Umbrien - wunderschön!



Knorrige Weinreben. Passt zu meiner Form.

Begeistern können mich vor allem die vielen kleinen Dörfer, die oben auf manchen Hügeln stehen. Mittelalterlich befestigte Trutzburgen, mal größer, mal kleiner. Gestern bei der Anreise etwa bestaunen wir noch das wunderbare Kloster von Assisi, heute werden wir an dem pittoreskem Spello vorbeikommen, dass eine ähnliche Wirkung auf den Betrachter hat.

Doch jäh reißt mich meine unterirdische Form aus den landschaftlichen Tagträumen ...

L´aumento - Im Anstieg

Beim Örtchen mit dem prophetischen Namen Bastardo zweigen wir auf eine kleine Straße ab - der erste größere Anstieg wartet. Ich habe heute - klar, denn ich dachte, die 138 läppischen Kilometer schüttle ich nur so aus dem Ärmel - nur ein Gel mit dabei, das will ich mir aufsparen - zu Essen habe ich allerdings auch nichts.

So knurre ich mich die ersten Rampen hoch.


Gern mal 10 bis 14 % steil, die Rampen bei der La Sagrantino.

Ich halte mich für einen guten Bergfahrer, keine Frage, und obwohl ich es terminlich noch nicht geschafft habe, mir die Kompaktkurbel an mein Cervélo R3 anbauen zu lassen, können mich die 7, 8 Prozent, manchmal auch die 11 Prozent, in diesem Anstieg kaum einschüchtern.

Und doch - etwas ist anders heute.

Ich werde am Berg überholt.


Selbst im Anstieg überholt zu werden ist mir neu.

Zwar kann ich mit 11, 12 auch mal 14 km/h die Anstiege hochfahren, aber die Jungs und Mädels neben mir sind allesamt einfach immer schneller! So kenne ich das gar nicht. Klar, Italiener (oder Spanier) sind aufgrund der Trainingsmöglichkeiten immer bevorteilt, gegenüber einem Flachland-Hamburger wie mich, aber so krass musste ich das noch nie erleben.

Ich röchle und versuche, wenigstens halbwegs mitzumachen. Aber wenn die mich nun auch schon im Anstieg überholen, nicht nur in der Ebene, dann läuft hier etwas grundfalsch!


Ich brauche unbedingt die Kompakt!

Bis zum Ende des ersten größeren Anstieges und der darauf folgenden Abfahrt - in der ich fluchend bei Gegenwind nicht einmal mehr in der Lage bin, die 50 km/h-Grenze zu durchbrechen - fahre ich mich komplett leer.

Mein Magen knurrt so laut, dass ich ihn sogar lauter als das Rasseln meines Freilaufes wahrnehme, meine Beine fühlen sich schlapp an und ich möchte anfangen zu heulen, als ein Schild - natürlich auf Italienisch - irgendwas von "Verpflegung in 5 km" erzählt.

Allerdings, um zur Verpflegung zu kommen bauen die Organisatoren eine zünftige Rampe mit 16% auf 100 Meter mit Zeitmessung ein. Ich drücke mich hoch und muss fast hysterisch lachen, als ich mich dabei ertappe, hier tatsächlich Flow zu erwarten: Der ist, als ich hier ankomme, allerdings schon lange, lange wieder auf der Strecke.


Eine Wohltat!

Ahhh, ich kann nur stöhnen, als ich mir die saftig-süßen Apfelsinen in den Mund drücke, gleich dutzendweise, als ich den süßen Apfelkuchen zu Doppelstücken förmlich weg atme, als ich Bananen und Apfelstücke ohne zu kauen einfach schlangenartig herunterwürge - oh man, ich bin so platt!

La sofferenza continua - Und weiter geht das Leiden

Die Labestation war nur eine kleine Oase des Glücks. Als ich wieder auf dem Rennrad sitze, folgt wieder die altbekannte Marter des Underperformers: Ich walze mich ächzend über schlechte Straßen, ducke mich unter dem harten Gegenwind weg und muss schon wenige Minuten nachdem ich vielleicht einmal den Sprung hinten an eine mich überholende Gruppe geschafft habe, wieder abreißen lassen. Es ist zum Mäusemelken!


Es ist nicht mal 80 km - und ich fühle mich wie 10 Stunden im Rennen.

Das Wetter wird schlechter. Immer mehr Wolken lassen nur noch kurz die Sonne einmal durch. Der harte Gegenwind zieht mir die Wärme aus dem Körper - ein Glück, dass ich neben dem Langarm- und Kurzarm-Trikot auch noch ein langes und ein kurzes Thermohemd untergezogen habe. Wie gut, dass ich eine Mütze unter dem Helm trage und wie gut, dass mich die Gore-Tex-Beinlinge halbwegs wärmen.

Wie es Flow wohl ergeht? Der ist heute in lang-kurz angetreten. Keine Thermo-Unterhemden. Keine Beinlinge ...


So richtig Windschatten ist das auch nicht.

Zwischendurch regnet es auch einmal kurz, aber nur so kurz, dass es nur demotiviert, nicht gleich komplett durchnässt. Über welche Dinge ich mich hier schon freue ...

Und dennoch, so sehr ich hier heute auch offensichtlich körperlich überfordert bin, ich kann es dennoch genießen: Die Farben, diese Luft, alles ist einfach schon viel weiter, als daheim in Deutschland. Der Frühling lässt grüßen, viele Bäume treiben schon zartgrüne Knospen aus - ein herrlicher Anblick und mithin krasser Gegensatz zum Grau-in-Grau, das mich daheim in Hamburg erwartet.


Es fängt hier schon zart an, Frühling zu werden.

Auf meinem Garmin stehen gerade einmal 80 Kilometer. Es fühlt sich an, als habe ich schon das Dreifache in meinen Beinen. Und immer wieder besehe ich mir die Höhenmeter-Angaben: 800 hm stehen da. 

Und 1.900 hm sind noch offen!

Confusione - Gran oder Medio, oder was?

In der Ferne (aber so fern nun auch nicht) drohen durchaus einige größere Brocken. Und wenn ich mich umblicke, so haben manche von ihnen sogar noch verschneite Kuppen. Oha, das wird aber ein Spaß, wenn es gleich den großen Zacken des Profils hochgeht, denke ich mir.


Schöne Ausblicke auf Foligno.

Ich rassele die letzte Abfahrt hinunter und werde - genau im richtigen Moment - von einer etwa 5 Mann starken Gruppe überholt. Ein kleiner Zwischensprint - na also, geht doch noch! - und ich hänge mich ran. Ich kündige mich durch ein "Grazie" an und rolle hinten mit.

Nicht, dass das so einfach wäre - die fahren hier mit 25 bis 35 km/h einen sehr flotten Stiefel, je nachdem, von wo der Wind weht.


Mittelalterliche Wehrdörfer prägen die Landschaft.

Vorn zieht ein bulliger Typ unsere kleine Gruppe, wir nähern uns einer Bergkette. Rechts fliegen wir am wunderschön auf einem eben solchen gelegenen Castel Ritaldi vorbei - der Wind geht nun hart von rechts in die Bikes, wir müssen alle sehr hart arbeiten.

Da auch dieser Gran Fondo mitten im normalen Verkehr stattfindet, sind Windstaffeln nicht möglich. Und bei mir tropft das Laktat nur so aus den Ohren ...


Ich muss wieder eine Gruppe ziehen lassen.

Besonders schlimm sind die vielen Überführungen über die Autostrada und die Superstradas - dann pfeift es eiskalt von der Seite rein und ich muss das Bike schon recht schräg steuern, um überhaupt Kurs zu halten. Vorne wechseln sie, aber ich gehe nie an die Spitze: Es würde meinen Mitstreitern auch nichts bringen, wenn ich sie hier mit 20 km/h "ziehen" würde.

Nun taucht vor uns eine imposante Bergkette auf. "Einer von denen ist der 1.500 hm-Anstieg", sage ich mir immer wieder und versuche die Serpentinen zu erkennen, die ich mich gleich werde hochschleppen müssen.


Die hier sind super. Werden aber nur den Medio Fondo fahren.

Angst habe ich vor dem Anstieg nicht: Lieber einen Abhang hochkraxeln, als sich im Gegenwind die Beine kaputt zu treten, das ist zumindest immer meine Devise gewesen.

Doch es wird anders kommen. Irgendwann - ich achte ja auf die an jeder Kreuzung und Einbiegung aufgestellten Hinweispfeile - wird auf den Schildern nicht mehr der rote Pfeil für "Gran Fondo" erscheinen, sondern nur noch der Grüne für die Minirunde und der Schwarze für den "Medio Fondo".

Wo ist der Rote hin? Ich warte zwei, drei Schilder ab. Nichts. "Wir haben die Abzweigung verpasst!", schießt es mir in den Kopf. "Verdammt nochmal, wie konnte das passieren?!?"

Ich schaue meine Mitstreiter an: Keinen scheint das zu stören. Bin ich der Einzige in dieser Gruppe, der den Gran Fondo fahren wollte? 

"Verdammte Sauzucht, warum habe ich mir nicht den GPS-Track aufs Garmin gezogen?", argumentiere ich mit mir selbst: "Na, weil die Rennen eh immer so super ausgeschildert sind, das braucht doch keiner!" Ja, sehe ich jetzt auch.

"Soll ich umkehren und die Abbiegung suchen?", frage ich mich mehrmals. Aber die laktatgeschwängerte Stimme hat Recht: "Hier führen alle 100 Meter irgendwelche Sträßchen auf den Berg, das könnte jede Abzweigung sein - und was, wenn du dich dann vollends verfährst?"

Na, ihr habt Recht - dann halt Medio Fondo. Ich bin geknickt. Auch die letzte Motivation, der letzte Spaß ist nun vorbei. Was wird Flow nur sagen, wenn er - mit Sicherheit super ausgelaugt - ins Ziel schnauft und ich ihm sagen muss, dass ich nicht mal die ganze Strecke gefahren bin?

Agonia - Das Ende vor dem Ende

Ich lasse von der Gruppe abreißen, als ich rechts schon das Ziel, Montefalco erkennen kann. Von hier ab sind es nur noch 16 Kilometer. Die fahre ich nun allein. Wir schlängeln uns durch die windige Ebene, drehen wieder in den Wind und dann auf eine schnurgerade, etwa 10 Kilometer lange Straße. Die Vorhölle.


Eine harte Probe für Material und Psyche.

Von "Straße" möchte ich kaum sprechen. Der Belag ist dermaßen erodiert, dass sie besser daran tun würden, diesen zu entfernen und die groben Pflastersteine der alten Römer darunter zu nutzen -  die fahren sich sicher bequemer!

Ich werde durchgerüttelt, gerade so, wie ich mir Paris-Roubaix vorstelle. Der Gegenwind bremst, aber selbst ohne ihn wäre eine Geschwindigkeit von jenseits der 25 hier nicht möglich. Es ist die Hölle. Und das ganze nun 10.000 Meter! Ich werde verrückt!

"Grazie!", ruft einer von hinten über meine Schulter. Ein älterer Herr, schickes Pinarello, macht es sich in meinem Windschatten gemütlich, er grinst und bedankt sich nochmal bei mir, als ich mich umdrehe. Ah, siehste: Der Einarmige unter den Blinden und so ...

Da klingelt mein Handy. Da ich eh langsam unterwegs bin, gehe ich ran. Es ist Flow.
"Digger, wo bist Du?", fragt er. Wie? Ist der im Ziel, oder was?
"Ich bin auf so´ner Scheißstraße kurz unter Montefalco ... äh ... und habe die Abzweigung zur großen Runde verpasst ... wo bist Du denn?" Oder wartet der bei der Verpflegung auf dem großen Berg auf mich?
"Ich habe die auch verpasst ... bin jetzt im Ziel." Wie bitte? Flow auch? Das darf doch nicht ... "Ja, dann bis gleich und viel Spaß beim Endanstieg. Der ist einfach nur übel ..." Aufgelegt.

Wie?
Was?

Bevor ich richtig nachdenken kann, sind die 10 km rum. Wir biegen Richtung Montefalco ein.

Ballando Morto - Totentanz

Den Endanstieg nach Montefalco kann ich mir von den Autofahrten gestern zur Akkreditierung und heute morgen zum Start noch gut ausmalen - die Realität aber ist noch viel krasser.


Endanstieg. Ich glaube, Ihr spinnt wohl?!

Sie schicken uns nämlich nicht die Hauptstraße entlang nach oben, sondern kleine Landwirtschaftswege. Und die haben es in sich. Zunächst eröffnet wird der Reigen bunter Hammerrampen mit einer gemächlichen 13%-Steigung, bei der die Ersten schon mal absteigen dürfen.

Diejenigen, die sitzen bleiben, müssen dann aber schon bald nach der ersten Kurve - bei seichten 11% - wieder aus dem Sattel gehen.



Der Waseberg lässt grüßen.

"Fuck ...!", bleibt mir fast die Spucke weg, als ich auf dem Garmin eine runde 18 sehe. 18% Steigung und das nach 1.000 Höhenmetern mit Beinen wie Pudding. Na hossa! (Und irgendwie bin ich jetzt glücklich, dann doch nur den Medio gefahren zu sein, denn sonst hätte ich jetzt an dieser Stelle noch 1.500 hm mehr in den Knochen).

Ich beiße mich den 18er hoch, kann "entspannen" als es kurzzeitig mal wieder nur 9% steil wird.


Nicht absteigen! Wenigstens diesen Sieg will ich heute haben!

Hier stehen dann auch die ersten Zuschauer. Meist ältere Herren und Damen, wahrscheinlich die Anwohner der Gehöfte hier. In den Einfahrten stehen dicke SUVs - anders kommt man hier wohl auch nicht hoch.

Außer wir, wir Verrückten, wir polken hier auf Rennrädern hoch. 

Immer mehr Abgestiegene und Schiebende überhole ich. Sie grüßen, fahle Gesichter, grüne Hautfarbe. Ich schnaufe mich hoch. Absteigen? Nee! Wenigstens einen Erfolg möchte ich heute feiern - und wenn ich oben umkippe! - aber absteigen werde ich hier sicher nicht!


18 % 

Immer wieder geht es in der Kurve fast senkrecht nach oben - leider sind die Distanzen zu kurz, als dass mein Garmin den Gradienten ausrechnen könnte, aber die kratzen bestimmt an der 21, 22%-Marke.

Richtig spaßig aber sind die etwa 50 bis 100 Meter langen 18%-Rampen, die hier immer wieder kommen. Einen Vorteil hat es ja, denke ich mir: So machste schnell die etwa 400 Meter bis nach Montefalco hoch. Aber es tut weh, so weh!

"Sobald ich in Deutschland bin, gibts die Kompaktkurbel!", schwöre ich mir wiedermal und denke an Flow, der heute seinen ersten Einsatz mit der Bergübersetzung gehabt hatte. Allerdings richtig erholt hat der sich auch nicht gerade eben am Telefon angehört ...


Ich sehe langsam nur Sterne vor dem Grau der Straße.

Als ich schon vor lauter Wändeklettern nicht mehr klar denken kann, sich Sterne rund um meinen Kopf formieren, da steht endlich das Schild "Ultimo chilometro", der letzte Kilometer, 1.000 Meter und dann war es das!

Ich ächze nach oben, wie viel Power jetzt hier wohl auf der dünnen Kette lastet? Ah, wieder 18%, na, Ihr habt hier doch alle den Arsch offen! Das kann doch nicht sein ... ich biege ein, die Stadtmauer, es wird etwas flacher, 8, 9%, dann ein Polizist, der mich anfeuert, ich fahre durchs Stadttor, vor mir die "Frühsport-Rampe", Musik schwallt mir entgegen, Leute klatschen, feuern mich an. Ich hole alles raus. Treten, treten, ein letzter Blick aufs Garmin - 14% - na Mensch, bis zum Schluss krass, diese La Sagrantino. 

Und dann. Dann endlich: Der Zielbogen. 
Finish.
Aus.
Absteigen, Krampf.


Phuhh! Geschafft ... im wahrsten Sinne des Wortes.

Flow kommt auf mich zu. Zitternd vor Kälte. Blaue Lippen. Ich drücke ihm den Autoschlüssel in die Hand, er mir seinen Transponder. Rückgabe. Weg hier!

Risultato

Ich bin hier heute das schlechteste Rennen meiner gesamten Karriere gefahren. Abgesehen davon, dass wir nicht einmal die lange Strecke fahren konnten - woran auch immer das gelegen hat (Falscher Startblock? Falsche Startzeit - Internet sagt 9:30 Uhr Start Gran Fondo, Starterbeutel-Beilage sagt 8:30 Uhr ... Hat jemand den Pfeil geklaut? Keine Ahnung.) - habe ich heute eine erbärmliche Performance gezeigt!


Enttäuscht.

Ich beende das Rennen nach offiziellen 4:02 Stunden. Für 96 Kilometer und läppische 1.270 Höhenmeter! Das ist nicht einmal die Höhe des Stelvio! Und nicht einmal ein 25er-Schnitt! Man, ist das schlimm! Ich stehe einfach nur in der Schlange und bin enttäuscht, maßlos enttäuscht.

Selbst, als der ältere Herr wieder zu mir kommt und sich noch einmal für meinen Windschatten bedankt - nee, das hier war alles andere als eine gute Vorstellung. Ein Glück nur, kann ich sagen, dass meine Kackform heute auf einmal mit dieser verpatzten Streckenteilung zusammenfiel. So sind wenigstens zwei doofe Sachen auf einmal, glücklicherweise beim kleinsten und unwichtigsten Rennen, aufgetreten.

Sicher liegt das schlechte Ergebnis an meinem geringen Trainingsstand auf dem Rennrad - auch 2012 bin ich das Eröffnungsrennen beim Gran Fondo Colnago in Saint Tropez mit 25,3 km/h Durchschnitt auch nicht schneller gefahren. Nur in Saint Tropez bin ich halt wenigstens 180 km und 2.600 hm gefahren. Nicht sone läppische Runde wie hier heute!

Sicher liegt das Scheitern natürlich auch darin, dass ich noch nicht ganz auf dem Damm nach dem Marathon Jerusalem bin.

Whatever. Ich schäme mich fast, meinem Sponsor SunClass von diesem Rennen zu berichten. Aber hey, einen Lichtblick gab es wenigstens: Ich musste bei x mal 18% nicht absteigen. Wenigstens das.

Ciao, Foligno ...

Ich gehe gesenkten Hauptes. 
Das muss besser werden. 
Wird es. 
Versprochen!


Hier gibt es die Garmin-Daten des Medio Fondo La Sagrantino 2013.

6. März 2013

Shalom Running: Beim Jerusalem Marathon 2013

Kaum zu glauben: Noch vor weniger als 30 Stunden liege ich kichernd mit hundert anderen Touristen im Toten Meer, meine geschundenen Knochen in konzentrierter Salzlake einweichend, hoffend, sie möge Knie-, Gelenks-, Muskel- und Sehnenschmerzen in Beinen, Armen, Rücken und der Bauchregion heilen - und nun hocke ich am Rechner und versuche, einen Bericht zu schreiben, der annähernd das wiedergeben könnte, was ich beim Jerusalem Marathon 2013 erlebt habe.

Jerusalem - Klischee und Wirklichkeit

Keine andere Stadt wie Jerusalem, kein anderes Land wie Israel bietet mir, bevor ich es besuchte, so viele Klischees, so viele vorgefertigte Bilder und Meinungen. Viele von denen erlebe ich als wahr. Viele als vollkommen unwahr.


Ja, ich habe eine Menge Militär, ja wahrscheinlich die meisten Maschinenpistolen meines Lebens seit der letzten Truppenparade der NVA in Berlin 1989 gesehen. Ja, ich habe den riesigen Betonwall gesehen, der die West Bank von den israelischen Gebieten abzutrennen versucht. Und ja, ich habe die Blicke von Arabern und Ultra-Orthodoxen Juden bemerkt.

Aber: Ich habe keine brennenden Busse, keine Steine werfenden Jugendbanden, keine Kassam-Angriffe oder offene Ausschreitungen gesehen. Im Gegenteil - überschwängliche Gastfreundschaft - aller Ethnien - viel Lächeln und Lachen, viel Nebeneinander und viel Miteinander anschauen können.

Fassungslos, ob dieses Anblickes, dass nur wenige Kilometer entfernt im Gazastreifen viel Leid produziert wird. Es ständig Tote gibt.

Viel haben wir diskutiert, ob man "dorthin überhaupt reisen kann". Ja man kann. Man soll sogar.

Dies ist ein Sport-Blog, kein Reise-Blog. Deshalb nur so viel: Israel ist eines der überraschend modernsten, spannendsten, angenehmsten, abwechslungsreichsten Länder, das ich je bereist habe. Und ich habe weiß Gott nicht einmal ein Tausendstel von dem gesehen, was es dort zu entdecken gibt!

Wenn Ihr also demnächst einmal eine sportliche Herausforderung mit einem tollen Urlaub verbinden wollt: Kommt nach Israel!

Zum Start: Wie im Souk

Womit wir auch beim eigentlichen Thema sind: Der Marathon. Meine Freundin und ich holen uns am Vortag des Laufes den Startbeutel ab. Die Anmeldung ist sehr dünn besucht, keine Schlangen, kein Gedränge, sehr angenehm. Die Messe mit der in Barcelona an Größe und Umfang durchaus zu vergleichen: Keine Riesenveranstaltung, aber definitiv auch kein Provinz-Event.

Am Tage des Starts bin ich spät: Zwar ist mein Hotel nur knapp 3 Kilometer vom Start entfernt, ich kann aber kein Taxi mehr bekommen, da alles schon komplett abgesperrt ist. So hetze ich mit 2 Israelis aus Eilat und später einem dritten Amerikaner und noch später einem Deutschen - Hamburger - in 15 Minuten in den Sacher Park südlich der Knesset (dem israelischen Parlament).


"Beste Erwärmung", sagt der Hamburger Kollege, klopft mir auf die Schulter und wünscht mir einen tollen Lauf. Keine 2 Minuten nach meiner Ankunft im Startblock B (für Läufer zwischen 4 und 4,5 Stunden) wird mit "Ehat, Staijm, Shalosh!" auch schon der Startschuss gegeben.

Na, wenigstens ist mein Puls schon oben!


Wir sind schon zwei Tage in Jerusalem und sind gleich am ersten Tag zu Fuß zur Holocaust-Gedänkstätte Yad Vasheem gelaufen: Etwa 10 Kilometer marschieren wir am ersten Tag durch die Metropole, am zweiten Tag noch mal so viel. Ich kenne die Geographie der Stadt schon recht genau: Bergig!

Schleppe einen stattlichen Muskelkater mit zum Rennen.

Und ich meine jetzt keine Hügel im Sinne von Barcelona. Oder die - schon steileren - Berge wie in Lissabon. Jerusalem ist steil. Es gibt eigentlich keine Ebenen in dieser Stadt. Man ist entweder nach oben hin unterwegs, oder nach unten.

Und schmerzlich sticht es in meine Seiten, als ich die ersten Kilometer bereits einen mindestens 7 Prozent steilen Abhang hinter der Knesset hinabpoltern muss, um in dann - vollkommen außer Puste! - wieder zu erklimmen. Alter!


Noch ist das Feld dich beieinander. Kaum Bewegung. Wenige überholen mich. Ich überhole wenige. Im Feld ist keine Dynamik zu verspüren, nur Einzelne versuchen, Plätze gut zu machen. Noch weniger lassen sich durchsacken.

Die ersten Kilometer - Vorboten der Hölle

Hinter der Knesset - wir laufen zunächst durch ein mit Stacheldraht und hohen Zäunen gesicherten, wohl normalerweise nicht öffentlichen Bereich - geht es mehrmals sehr krass bergab und noch krasser bergauf. "Gut, dass ich in meinen Trainings immer mal noch den Waseberg eingebaut hatte!", denke ich mir so, als ich wie ein Schwein schwitzend die Schrägen hinauf keuche.


Relativ schnell - eigentlich schon gestern beim Spazieren - ist mir klar, dass ich in dieser Stadt auf keinen Fall meine Barcelona-Zeit werde schlagen können. Und wenn ja, dann wäre ich ein Supersportler!

Als die Berg-und-Tal-fahrt hinter dem Parlament endlich vorbei ist und wir wieder auf die große Magistrale, der schönen Seite der Knesset, einbiegen, zieht sich das Feld spontan auseinander. Sie ziehen wohl an, denke ich mir.

Ich genieße aber erstmal den Anblick des Regierungsviertels hier, und freue mich, dass die nächsten 1, 2 Kilometer seicht bergab gehen.


Hinter der Knesset können wir schon mal einen Blick auf einen der kleineren Hügel der "Neustadt" Jerusalems werfen, den wir gleich in diversen Schleifen zu erklimmen haben. Ich justiere meine Ohrhörer, schalte das Depeche Mode Konzert von - na klaro! - Barcelona auf volle Pulle und versuche, meinen Takt zu finden.


Von der Jitzak Rabin-Straße biegen wir nun rechts auf die Start/Ziel-Gerade für die Halbmarathon-Läufer ein. Ich muss an meine Süße finden, die hier in wenigen Minuten starten wird - sie läuft hier heute ihren ersten Halbmarathon. Ausmachen kann ich sie leider nicht.


Viel Zeit zum Ausschauhalten habe ich aber nicht - wenn ich hier heute eine halbwegs anständige Zeit hinlegen möchte, muss ich mich ranhalten. Ich entdecke einen drahtigen Mid-50er, der schon am Start in meiner Nähe stand. Er scheint meine Pace zu laufen. Ich beschließe, mich an ihm zu orientieren.

Steigungen? Kletterwände!

Als wir den Stadtteil Rehavia passiert haben, biegen wir - auf eine Wand zuhaltend - in den Gohen Katamon genannten Stadtteil ein. Kaum mehr Zuschauer. Nur ab und zu steht eine Familie (auffällig viele Kleinkinder gibt es hier) und applaudiert. Hier im Häusermeer sind wir allein mit unseren Leiden.

Ich kämpfe mich die ersten Rampen hinauf. Wie viel Prozent mögen das sein? 7, 8? 


Es ist hier wirklich teilweise so steil, dass sich am Fuße der Rampen kurzzeitig kleine Staus bilden. Schon hier, noch nicht mal 9 Kilometer gelaufen, sehe ich die Ersten im Gehen die Serpentinen angehen. Noch laufe ich - aber bald schon werde ich entdecken, dass bei diesen Startrampen das Gehen die klügere Alternative ist.


Es geht nur bergauf, nur bergab. Oftmals wechseln An- und Aussichten auf die Stadt mit jedem Straßenzug: Ich muss nur meinen Kopf drehen, schon sehe mal hier in den Abgrund, mal dort über einen weiten Park oder dann wieder erhasche ich einen Blick auf die mächtige Stadtmauer der Old City - oder den grauen Betonzaun der Palästinenser-Viertel.

Aber niemals. Niemals laufe ich in der Ebene.


Bei der Ze´ev Jabotinsky Straße bin ich meinem Hotel kurz ganz nah. Noch weiß ich nicht, ob meine Süße überhaupt zum Start gegangen ist. Wie einfach wäre das, jetzt hier kurz abzubiegen und wieder ins warme Bett zu kuscheln ... aber ich verdränge die Gedanken schnell. Drehe "Personal Jesus" ganz laut und reiße mich zusammen.

Schon wenige Straßenzüge und Steigungen später bin ich wieder auf der King George Street, einer der Fußgängerzonen Jerusalems. Und erkenne das Restaurant, in dem wir gestern Abend noch so lecker gegessen haben. Jetzt schwitze ich mich hier auf den unbefahrenen Straßenbahnschienen und wundere mich: Gerade einmal knapp 15 Kilometer gelaufen - und das kompakte Feld ist zerstäubt.


Nur ab und zu - und jetzt geht es los - werde ich von kleineren Trauben von 5 bis 8 Läufern überholt. Ansonsten liegen oftmals viele Dutzend Meter zwischen mir und dem nächsten gleich schnellen Runner.

Halbmarathon: Ohne Puste auf den Mount Scopus

Ekelig wird es auf dem Schlenker zum Mount Scopus. Auf diesem Gipfel, auf dem sich die Hebrew University befindet, werden wir einen Schlenker um den Berg machen - direkt durch Ost-Jerusalem, das von den Arabern beansprucht wird - laufen und viele böse Höhenmeter erleiden müssen.

Schon die Anreise auf dem nicht enden wollenden Sderot Harlim Barlev - einer lang gezogenen, vierspurigen Magistrale, geht an die Substanz.


An der Stadtmauer zur Old City entlang laufend, geht es zunächst einige Kilometer sehr steil bergab (und nachher genau auf diesem Wege auch wieder bergan!) Hier kommen mir einige der Elite-Runner entgegen - sie sind bei Kilometer 27. Ich noch bei 17.


Die Magistrale macht eine Rechtskurve und steigt wieder an. Wir sind am Fuße des Mount Scopus. Immer höher geht es, nun durch dichte Viertel, Straßenschluchten, viele 90-Grad-Kurven.

Immer mehr Full-Marathon-Runner kommen mir entgegen, sie sehen ausgelaugt aus. Wie werde ich hier nachher wohl aussehen? Eine kleine Wasserstation nehme ich mit, dann kommt der Endspurt auf den Scopus-Berg, die Universität, wie eine Enklave hinter hohen Stacheldraht-Zäunen verbunkert, hat uns ihre Tore geöffnet (schwer bewaffnete Soldaten sichern das Gelände).

Endlich oben! Der Himmel zieht zu, es weht merklich ein scharfer, kalter Wind.


Als ich die Runde um das Uni-Gelände zur Hälfte fertig habe, kann ich rechts von mir auf Jerusalem blicken. Da unten sind ganz viele kleine Häuser. Da unten, da ganz unten. Menschen wie Ameisen klein. Irgendwo da unten werde ich nachher auch wieder laufen. Nachdem ich hier oben aber die Runde erst einmal habe fertig laufen müssen.

Ein Wahnsinn, diese Achterbahn hier!


Irgendwo da ganz hinten rechts schimmert wieder bedrückend der Palästinenser-Zaun, holt mich kurz zurück ins Hier und Jetzt: Klar, die Leute haben hier andere Sorgen, als mir am Straßenrand zuzujubeln.

Und doch, auch mit all den Problemen - diese Stadt ist eine Perle. Eine Schönheit. Was sicher auch daran liegt, dass hier alle Häuser - so erklärt uns der Taxifahrer auf der Hinfahrt - mit einem einzigen, ganz bestimmten Stein verkleidet sein müssen. So schimmert die ganze Stadt in einem Sandstein-Ton, der diese wunderbare Homogenität erzeugt.


Allzuviel Zeit habe ich für meine architektonischen Schwärmereien allerdings nicht. Irgendwo hier laufe ich die Halbmarathon-Distanz, bei all der drückenden Schwüle unterm Laufshirt und dem beißenden, kalten Wind hier oben vergesse ich, die "Lap"-Tast zu drücken. Na, später bekomme ich ja die offiziellen Zeiten.

Mein 20-km-Split wird mit 1:59:32 Stunden angegeben. Für diesen Berg-Run eine passable Zeit, wie ich finde.


Hier ist es dann auch, da ich beschließe, auch einer der Klugen zu sein und zumindest die harten Steigungen, die 7, 8 ja sogar 10 Prozent-Rampen lieber zu gehen, anstatt mir die Sprunggelenke im Dribbelschritt zu versauen. Selbst im Gehen bin ich teilweise schneller als mancher Läufer.

Ein witziges Spielchen entwickelt sich mit einer Mitläuferin und meinem drahtigen Pace-Maker: Bergauf überhole ich beide. Bergab galoppieren beide wiederum an mir vorbei. Vielleicht sind es die mehr als 20 Kilometer Spaziergang, die mir schon in den Knochen stecken, vielleicht der überhastete Erwärmungslauf zum Start: Mein rechtes Hüftgelenk und das linke Knie machen sich sehr unangenehm bemerkbar.

Ein unverhoffter Blick auf den Ölberg links und der Felsendom im Hintergrund macht die Schmerzen kurz vergessen ...


Doch alles Träumen nützt nichts - immer wieder muss ich mich zu einer neuen Rampe aufraffen, immer wieder mich zusammenreißen, immer wieder bewusst die sich ankündigenden Seitenstechen wegatmen zu versuchen. Oh man, Jerusalem ist echt mal ein Kreuzweg!

Wetterkapriolen und Versorgungsengpässe

Das Wetter macht mir zu schaffen, obwohl ich nach dem Lauf sagen werde, dass ich ein unfassbares Glück gehabt habe: Am Tag nach dem Marathon wird ein wolkenfreier, blauer Himmel das Theromometer auf 24 Grad treiben, mir einen feinen Sonnenbrand verbraten und uns den Ausflug nach Massada zur Sommerglut-Hölle werden lassen.

Heute aber kann mich das Wetter nicht erfreuen: Mal beißend kalt, mal höllisch schwitzend.


Als dann noch auf dem Rückweg vom Mount Scopus ein Regenschauer meine Klamotten beginnt zu durchweichen, ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Kilometer 27: Ich bin am Ende!

Wahnsinn - nur eine Woche vor dem Marathon laufe ich die 30 Kilometer mit knapp 400 Höhenmetern in wenig mehr als 3 Stunden. Heute weiß ich nach nur 27 Kilometern, dass das hier ein Lauf ums Überleben werden wird, nicht der Triumph-Durchmarsch zu einer neuen persönlichen Bestmarke.

Trotzdem, der 30-km-Split mit 3:05:44 Stunden ist mehr als genial, wie ich finde.


Nervig und unschön allerdings finde ich die Versorgung der Läufer bei diesem Marathon. Verglichen mit den Wasser- und Iso-Ständen beim Barcelona-Marathon, können mich die wenigen - jeweils nur mit reinem Wasser - ausgestatteten Getränkestände hier nicht überzeugen.

Sie liegen teilweise 8, 9 Kilometer auseinander. Viel zu wenig, wie ich finde. Nur das doch eher kühle Wetter macht diese prekäre Versorgungslage erträglich. Kaum auszudenken welche Wassernot hier bei einem heißen Sonnen-Marathon herrschen würde!


Zu Essen gibt es außer ein mal (!) Bananen und zwei mal (!) Datteln nichts. Auch Energy Gels gibt es auf der ganzen Strecke nur ein einziges Mal. Viel, viel, viel zu wenig und mithin mein einziger, aber dafür umso größerer Kritikpunkt an der Organisation dieses Events.


Meinen Draht-Typen und die Bergauf-Frau habe ich längst schon verloren. So hefte ich mich an ein Pärchen, wo er sie immer wieder motiviert, weiterzumachen, als es vom Mount Scopus die elend lange Magistrale zurück hoch zur Altstadt geht.

Running out of Water.
Running out of Willpower.

Oh my, Jerusalem ...

Kurzes Zwischenspiel am Jaffa Gate

Eine kleine Schleife am nagelneuen Mamila-Einkaufszentrum drehend geht es wieder gen Norden - und auf das beeindruckende Jaffa-Tor in die Altstadt zu. Auch hier waren wir schon mehrere Mal spazieren, ich weiß um die Steilheit der Rampe in die Old City. Und die grobe Beschaffenheit der Pflastersteine im Innenbereich.


Dennoch: Dass die Organisatoren uns - auch wenn es nur wenige hundert Meter sind - durch diese von Geschichte und Geschichten so überbordende Altstadt laufen lassen, ist ein ganz besonderer Moment des Laufes. Immerhin haben sich hier der große Nebukadnezer, König Herodes, Pontius Pilatus, Jesus Christus, Sultan Suleiman oder die Kreuzfahrer und so viele andere - mehr oder weniger historisch belegte - Personen und Persönlichkeiten bewegt, dass jeder einzelne Quadratzentimeter dieser doch überraschend kleinen Altstadt abertausende Geschichten erzählen könnte.

Und nun ich. Hier.


Das Jaffa-Gate ist sehr steil. Auch ich gehe es mehr, als dass ich es laufe. Oben werden wenigstens ein paar Dutzend - wohl eher zufällig hier anwesende - Zuschauer Beifall klatschen. Wenn es dann durch die mit den leckersten Gerüchen all der Shawarma-Küchen und Gewürzstände der Händler geschwängerten Holzkohle-Luft innerhalb der dicken Mauern geht.


Wir zwängen uns durch die eher dunklen Gänge nahe der Stadtmauer, hier kann ich wieder einige Läufer überholen. An ihren andersfarbigen Startnummern erkenne ich die Halb-Marathonis. Ob ich meine Süße hier noch treffen werde?

Von oben, dem Rampage-Walk, winken kaugummikauende Amis, schnatternde Russen schauen irritiert.


Der Weg durch die Altstadt ist schnell vorbei: Über Via Dolorosa oder vorbei an der Grabeskirche Jesu, über den Kreuzweg oder gar vorbei am Felsendom können uns die Veranstalter natürlich nicht führen. Der Abstecher hier ist wenig spektakulär, wohl eher symbolischer Natur.

Angesichts des teilweise sehr krassen Bodenbelages aber doch auch eine weise Entscheidung.


Durch das Tor am Armenischen Patriarchat geht es wieder aus der Altstadt hinaus: Und sofort geht die Achterbahnfahrt wieder los.

Endspurt? Meine Kreuzigung am Mount Zion.

Zunächst krass bergab: Genau hinter mir kann ich, wenn ich mich kurz umdrehe, den Grabeshügel neben dem Ölberg sehen. Wie viele tausend Tote mögen hier mittlerweile begraben sein? Vor mir Mount Zion. Wieder so ein Mount. Wieder Schmerzen bergauf!


An Endspurt will ich gar nicht denken. Es scheint, als dass sie die Rampen immer steiler werden lassen. Ich kann zwar immer noch im Gehen mehr Leute einholen, als ich es im Laufen vermag - aber als dann irgendwann die 30 auf meinem Garmin steht, da  weiß ich endlich sicher, dass ich dieses scheinbar endlose Tal der 20er überlebt habe: Nun nur noch 2 Kilometer und dann der Countdown ab 10.

Schaffbar.


Ein Trauerspiel, die letzten Kilometer! Mount Zion zieht mir die letzten Kräfte aus den Fasern: Die Strecke zuckt nun wild durch diesen Teil Jerusalems, in North Talpiot - es geht etwa 2 Kilometer bergan, dann Wenden, dann bergab - kann ich dann sogar meine Freundin auf der Gegengeraden sehen. Aber sie hört mich nicht durch ihren MP3-Player, wird auch gleich auf ihre letzten 6 Kilometer einbiegen.

Ich habe noch 8 vor mir.

Letzte Zuckungen

Richtig ekelig wird es dann auf der Derech Hevron-Straße. Eine 3 Kilometer lange Strecke, die sie hier offensichtlich nur eingebaut haben, weil man hier "gut Kilometer ohne viel Aufwand schrubben kann". Ich bin total am Ende, schleppe mich an der vorletzten Wasserstation vorbei, kann kaum noch grinsen, selbst das Abklatschen der kleinen Kinder macht kaum noch Spaß.


Es ist ein Trauerspiel. Die letzten 4 Kilometer. Es folgen noch einige extreme Rampen. Mich ficht das alles nicht mehr an. Beim 40sten Kilometer gibt mir der offizielle Computer einen Split von 4:15:44 Stunden raus.

Ich wundere mich, dass ich so gut bin - habe ich meine Kondition doch schon irgendwo bei Kilometer 24 auf dem Mount Scopus verloren, habe ich meine Gelenkknorpel an irgend einer Rampe im Talpiot durchgeschrubbt.

Meine Füße brennen, später, im Hotel werde ich mir - trotz sorgfältig abgeklebter Zehen - zwei riesige Blasen aufstechen. Meine Oberschenkelmuskeln sind quasi inexistent. Sobald es bergauf geht, sind Fasern in einem neuen Aggregatzustand: Muskelpudding.

Ich falle mehr, als dass ich laufe. Den Rotz lasse ich schon seit einigen Kilometern einfach aus der Nase laufen - zum anständigen Ausprusten ist längst schon keine Kraft mehr da.


Und doch: Als ich die 2.000 Meter-Marke erreiche, erwacht neue Energie. Ich ziehe an. Mich überholt der Drahtige vom Start (Nanu? Habe ich den etwa überholt zwischendurch?) und zieht davon. Na, ich lasse ihn. Bin ja froh, jetzt meinen Laufstil wieder einigermaßen als "Laufen" bezeichnen zu können.

Die letzten 100 Meter sind blauer Teppich. Ich laufe allein über die Ziellinie. Wenige Zuschauer. Und doch - ich bin überglücklich. Als ich mich mit einer Orangenhälfte nach dem Ziel bewaffnet einfach ins Gras fallen lasse.

Alter Verwalter - Jerusalem Marathon - das war ein Biblisches Ausmaß!

Geschafft: Die Daten meines Jerusalem Marathon 2013

Mein Garmin stoppt nach 42,48 Kilometern und 4 Stunden, 29 Minuten und 30 Sekunden. Ganze 30 Sekunden schneller, als Barcelona 2012. Meine offizielle Zeit wird von der Zeitnahme mit überraschend guten 4:30:37 Stunden angegeben.

Das ist nach offizieller Zeitnahme also nur 24 Sekunden langsamer als noch vor einem Jahr. Langsam realisiere ich, was ich geleistet habe, als ich mich im Eventbereich in die Sonne fallen lasse.


Jerusalem war hart. Sehr hart. Und doch schaffe ich es, meine bisherige Zeit zu halten - immerhin, am Ende stehen 805 positive Höhenmeter auf meinem Garmin, das ist das vierfache der spanischen Kletterleistung und angesichts der extremen Steilheit vieler der Rampen, die wir erklimmen mussten, eine Wahnsinnsleistung, wie ich finde.

Mein rechtes Hüftgelenk singt bei jedem Schritt ein ächzendes Lied dazu ...

Die Höhenkurve der Jerusalemer Strecke zackt wild wie die Messkurve eines Erdbebens hin und her - selbst in den größeren Anstiegen verstecken sich unzählige kleine Rampen. Die Serpentinen dieser Wahnsinnstadt:


Und so fluche ich etwas über mich selbst, ob dieser bescheuerten 24 Sekunden - wenigstens symbolisch hätte ich schneller sein können! Und dann diese 3-minütige Pinkelpause irgendwo bei Kilometer 30 - war die wirklich nötig? Kann man doch laufen lassen ...

Na, alles Rechenspiele, die eh egal sind. Marathons sind nicht miteinander zu vergleichen. Und wenn noch bei einer meiner Laufseiten im Internet Jerusalem als ein "sehr anspruchsvoller" Marathon beschrieben wird, so muss ich sagen: Im Vergleich zu meiner Premiere in Spanien war das hier echt ein paar Nummern härter.

Und aber auch leichter. Irgendwie.


Als meine Süße - hochrot und durchgeschwitzt - mich zwischen den halbtot herumliegenden Laufleichen findet, ist sie mindestens ebenso stolz und glücklich, wie ich: Immerhin hat sie ihren allerersten Halbmarathon gerade mit einer für diese Berg-und-Tal-Achterbahnhölle tollen Zeit von 2:36 Stunden absolviert.

Lieb umarmt und glücklich geküsst. Mehr wird heute aber nicht drin sein ...

Was noch so geht - Israel Crash-Urlaub in 5 Tagen

Wir verdauen den Marathon - ein tolles Erlebnis und immer wieder erhebend - bei einem fürstlichen Mahl in einem versteckten armenischen Restaurant in der Altstadt. Zur Völkerverständigung beitragend genehmigen wir uns (nachdem wir ein kosheres Frühstück hatten) einen riesigen, knackfrischen Arabic Salad und die überbordende Mixed Grill-Platte.

Herrlich!


Am nächsten Tag wuchten wir uns stöhnend in einen Bus und besichtigen Massada, die legendäre Felsenfestung (beeindruckend!) des König Herodes, Ort heroischen Widerstandes der Zeloten gegen eine mächtige Römer-Legion und mithin neben Yad Vasheem der Staats-definierende Ort Israels.

Ein ausgiebiges Bad im Toten Meer (das witzigste und beeindruckendste, was ich jemals im Element Wasser getan habe) lindert den Schmerz in Knochen und Muskeln und das anschließende Baden im En Gedi-Spa tut das seine.

Wir erklimmen am Tag 2 nach dem Marathon den Ölberg, besichtigen die Klagemauer, umrunden die Altstadt, klettern in die Felsengrotte und schauen, wo Jesus gefangen genommen wurde.

Ein epischer Lauf - in einer epischen Stadt.

Als wir am Flughafen Tel Aviv ankommen und etwas Zeit dort zu überbrücken haben, spricht uns ein amerikanisches Ehepaar auf unsere Jerusalem-Marathon-Starterbeutel an, die wir umhaben. Es stellt sich heraus, dass er hier am 15.3. den Tel Aviv-Marathon absolvieren wird. Es wird sein 57er Marathon sein. "You did Jerusalem? You know what? I did this one time - and believe me, I am a frequent Marathon-Runner - this is one of the hardest Marathons in the world. I now prefer the flat one in Tel Aviv."

Na siehste, denken wir uns und klopfen uns auf die Schulter: Alles richtig gemacht. Nun kann endlich die Rennrad-Saison beginnen, ich bin hungrig. Und habe, wie schon 2012, mein Sportjahr 2013 mit einem absoluten Sensationsknaller begonnen. Israel? Kann ich uneingeschränkt empfehlen!


Hier geht es zu meinen Garmin-Daten des Marathons.