25. Oktober 2010

Pleite beim Zeitfahren Hamburg-Berlin: Woran hats gelegen?

Wie war das doch gleich - Scheitern als Chance? Oder so. Naja. Sind wir mal positiv, jetzt, 2 Wochen nach unserem verpatzten Saison-Ende. Steven und ich begeben uns auf Fehlersuche, ein Interview soll klären, woran es gelegen hat.

Zittern & frieren schon bei der Anmeldung (Fotos: Nicole/Steve)

Ernährung - Wie habt Ihr Euch vor und während des Brevets ernährt?
Steve: "Ernährung ist sehr wichtig und somit einer der größten Faktoren, die den Ausgang einer solchen Geschichte beeinflussen können. Gels sind super - sie ersetzen die Vitalstoffe und Mineralien, die der Körper verliert. Aber ich vertraue da lieber auf meine selbst gemachten Power-Bars, um die Löcher in meinem Magen zu stopfen."
Lars: "Sich nur von Gels zu ernähren und ansonsten zu hoffen, dass man die Verpflegungspunkte oder Tankstellen erreicht, ist fatal. Das weiß ich eigentlich, aber irgendwie hatte ich das bei HH-B vergessen."

Zum Glück gab es reichhaltig Frühstück: Mein Magen war nämlich leer.
Lars weiter: "Ich hätte mich besser vorbereiten sollen, denn erst jetzt weiß ich, dass entlang der Strecke eher weniger Tankstellen liegen - dafür umso mehr Passagen entlang der wild-romantischen Elbe. Ausblick ja, Essen nein. Also beim Versuch Nummer 2 heißt es: Vollkornbrote in die Rückentasche stopfen!"

Gott segne die RG Endspurt und das Checkpoint-Büffet!

Lars: "Ich war froh, dass die RG Endspurt dieses geniale Büffet und super Verpflegung beim Checkpoint aufgebaut hatte, sonst hätte ich nicht einmal die läppischen 116 km überlebt. Von Nicoles voll gepacktem Catering-Van einmal abgesehen: Das war das Paradies."

Bekleidung - Haben Eure Klamotten versagt? Es gab nass-kaltes Wetter mit extremen Windbedingungen an jenem 16. Oktober.

Steve: "Ich hatte komplett die falschen Klamotten für meinen Oberkörper an. Die Kälte an diesem Tag vollkommen unterschätzt. So musste ich einen dicken Fleece-Pulli über meinen Funktionsklamotten tragen, die dann natürlich nicht mehr richtig funktioniert haben."

Lars: "Ich hatte mich zwar nach dem Ziebelprinzip mit nicht weniger als 4 Schichten oben und einer dicken langen und einer dünnen langen Hose unten angezogen, aber das reichte nicht.
Erst mein Baumwollpullover brachte die ersehnte Wärme. Zusammen mit der Windjacke war ich eigentlich ganz gut geschützt."

Gegen die trainierten Meister-Rendonneure sahen selbst die Liegeradler alt aus.

Lars: "Allerdings sind wir auch nicht in jenen fiesen Regen gekommen, der ab 18 Uhr die Fahrer gequält hatte. Da hätten meine Klamotten versagt. Zudem hatte ich nichts für die Füße, da werde ich im nächsten Jahr sicher mit Rennrad-Überziehern antreten."

Steve: "Für nächstes Jahr muss ich entscheidend an der Winddichtigkeit und dem - geringen - Gewicht meiner Klamotten arbeiten!"

Training - Wie habt Ihr Euch auf diesen Brevet vorbereitet?

Lars: "Zu wenig!"

Steve: "Du kannst so etwas trainieren - zum Beispiel, indem du das Ironman-Radfahrtraining machst. Ich selbst aber bin relativ unvorbereitet in dieses Abenteuer gestartet. Und rein körperlich kam ich eigentlich auch ganz gut zurecht."

Lars: "Ja, klar: So eine Strecke geht man nicht einfach mal so aus der Kalten an. Cyclassics, Münsterlandgiro, da geht das alles noch. Die Strecken sind kürzer, wesentlich kürzer, und der Windschatten des Grupettos saugt einen mit."

Cervélo P2 Zeitfahrrad: Mir zu extrem. Für Steve das Rad der Wahl.

"Wie aber schlechtes Wetter und Gegenwind, fehlender Windschatten und niedriger Adrenalispiegel das Aus bedeuten können, merkte ich schnell an dem Tag. Schlecht trainiert, verletzungsanfällig - und schon ist man draußen!"

Steve: "Stunden, Stunden, Stunden langweiliges GA-1-Training ist die Voraussetzung, für so einen Trip! Du brauchst Stamina und viel Kondition, um 280 km im Rennrad zu ertragen."

Technik - Welchen Einfluss hatte das Material, das Ihr gefahren seid? Immerhin seid Ihr beide mit sehr unterschiedlichen Rädern angetreten.

Lars: "Mein Cervélo R3 ist ein reinrassiges, sehr steifes Rennrad, das für ebensolche Rennen optimiert ist. Es hat nicht umsonst Paris-Rubaix 2 mal gewonnen. Auch bei der Wahl meiner Laufräder bin ich mit den - nicht sehr aerodynamischen, dafür extrem steifen und robusten - Mavic R-Sys bewusst auf das eher tourenorientierte Fahren gegangen. Mein Rad hat sich an jenem Tag perfekt angefühlt: Auch wenn es ein Zeitfahren war, mit den Jungs auf den extremen Zeitfahrmaschinen will ich in keinem Fall tauschen!"

Das edle Cervélo P4 Carbonmonster: Nur was für (betuchte) Könner.

Steve: "Mit meinem Cervélo P2 - einem streamline-Triathlon-Rahmen - habe ich mich sehr gut gefühlt. Ich habe mich bewusst für dieses und gegen mein Trenga-Rennrad entschieden. Gerade, wenn der Wind von vorn kam, hat er mich weniger gebremst, als Lars (hatte ich das Gefühl.) Und da ich viel mit dem P2 fahre, war auch die extreme Zeitfahrhaltung kein Problem. Next year: Again."

Die Cervélo-Boys im disziplinierten Belgischen Kreisel.

Motivation - Welche Rolle spiel die Psyche bei dieser Art von Rennen?

Steve: "Fast die wichtigste Rolle!"

Lars: "Ich war sehr motiviert - aber anders als bei den vorhergehenden Rennen auch sehr vorsichtig, was meine "innerlichen" Prognosen anging. Diesmal gab es so viele Unbekannte: Strecke, Wetter, meinen Hintern ... Motivationsmäßig habe ich für nächstes Jahr aber definitiv vor, dass am Zielort meine Freundin auf mich warten wird. Und das in einem Hotelzimmer mit Jacuzi! Wie viel Antrieb das Wissen, dass seine Freundin auf ihn wartet, Steve gebracht hat, war Wahnsinn!"

Rückenschmerzen? Nach 100 km normal.

Steve: "Meine Motivation war hoch. Aber an sich auch ein Fahrt ins Ungewisse. Wenn man so etwas zum ersten Mal macht, überwiegt immer das Abwartende - nun aber weiß ich, was Phase ist und kann 2011 richtig durchstarten!"

Team - Ihr seid als Team gestartet. Welche Dinge sollte man beachten?

Lars: "Es war meiner Meinung nach ein Fehler, dass Steven und ich überhaupt keine Teamstrategie hatten. Wie auch? Wir hatten uns nach dem Münsterlandgiro und vor dem Brevet nicht ein einziges mal mehr sehen können. Für das nächste mal, müssen wir mehr besprechen, mehr "what if?"-Fälle durchspielen."

Thumbs up & weiter gehts: Im Team herrscht gute Stimmung. Swanjee-Power!

Steve: "Gute Frage. Ich denke, es kann jedem passieren, dass der Körper plötzlich versagt, so wie es Lars passiert ist. Natürlich sollte man sich aber auch vorher ganz genau überlegen, ob man eine solche Distanz überhaupt schafft - beziehungsweise, wenn man weiß, dass man dann und wann körperliche Zipperlein hat, vielleicht die Strecke anders angehen, mehr Stops planen oder so. Vielleicht auch als Einzelstarter das ganze angehen. Am Ende ist es TEAM WORK, Baby ..."

Lars wieder: "Ich frage mich heute, mit ein paar Tagen Abstand, was wohl passiert wäre, wenn wir ausgemacht hätten, eben nicht gleich auszusteigen. Was wäre, wenn wir vereinbart hätten zu sagen: "Lars, pass auf - zieh dir ein Gel rein, wir fahren erst mal bis Wittenberge und gucken dann!" Was wäre, wenn wir ausgemacht hätten, uns erst zu motivieren - und dann, wenn wirklich nichts geht, auszusteigen? Keine Ahnung - ein kaputtes Knie ist ein kaputtes Knie. Aber andererseits: Wer weiß? Vielleicht wär es nach 20 Kilometern vorbei gewesen? Oder auch nicht?!?"

Enttäuscht aber umso motivierter für 2011!
Win-Factor - Was ist Eurer Meinung nach der wichtigste Faktor bei einer solchen Fernfahrt?

Lars: "Vor allem erst einmal die Psyche. Alles, was mehr als 160, 180 km auf dem Rennrad gefahren wird fährt man, weil der Kopf es so will. Die Muskeln, das Sitzfleisch will dann nämlich schon längst nicht mehr. Ein gutes Team mit gesundem Teamgeist ist das zweitwichtigste. Wenn man dann noch gutes Material (vor allem am Körper) hat, dann kann einen auch das bescheidenste Wetter nicht am Erfolg hindern."

Steve: "Gesundheit/Training ist der wichtigste Punkt für mich. Erst dann kommt die Motivation und - das sehe ich auch so wie Lars - die Kleidung an Platz drei. Alles andere kann man noch hinbiegen."


Wir danken uns für dieses Interview. Aber keine Bange: Nächstes Jahr kommen wir wieder. Und nächstes Jahr schaffen wir das. Sicher & Versprochen!


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22. Oktober 2010

Aero-Rahmen - was bringen sie wirklich?

Als ich das Zeitfahren Hamburg-Berlin bestreite, tritt mein Teamkollege Steven mit seinem Zeitfahr-Bike Cervélo P2 an. An sich eine kluge Wahl: Denn die 280 km lange Strecke ähnelt mit ihrem sehr flachen Profil eher einer Ironman-Raddistanz als einem klassischen Rennrad-Rennen.

Ich beobachte an Stevens Rad - im Vergleich zu meinem Cervélo R3 - eine logische, aber trotzdem faszinierende Sache: Er ist bei (anscheinend) gleicher Tretleistung schneller als ich, selbst wenn ich in Untenlenkerhaltung bin.

Wir testen das bei einer der wenigen Abfahrten - nahe der Elbe geht es einige Male halbwegs schnell 7-8%ige Rampen bergab. Steve geht in Zeitfahrtposition, ich in Sprinthaltung. Bis etwa 50 km/h sind wir gleich schnell. Dann muss ich reintreten - während er noch viel länger rollen kann. Und sogar weiter beschleunigt.

Klar - je höher der Speed desto größer der bremsende Anteil des Luftwiderstands. Als gestandener Liegeradfahrer weiß ich das nur zu gut. Aber das Steve so viel schneller wird, das hätte ich nicht gedacht.

Also, was hat das nun auf sich mit diesem Mega-Trend, der für 2011 (und mehr noch für 2012) viele neue Modelle und der Rennradbranche einen Verkaufsboom beschaffen wird? Canyon bietet schon länger widerstandsoptimierte Bikes an, das nagelneue Flasggschiff vob Bianchi - das superschicke Oltre - weist aero-Features auf, die Liste der Aero-Räder ist lang.
Und die Käufer: Lieben es!

Mein Hersteller Cervélo rühmt sich, Erfinder der Aero-Bikes zu sein. Und das S3 gilt auch als eines der leichtesten und schnellsten seiner Art. Generell sind Aero-Rahmen schwerer als die klassischen. Das liegt daran, dass abgeflachte Rohrquerschnitte, die aerodynamisch optimiert sind und Flügelprofile nachbilden, schmaler und daher verwindungsanfälliger sind, als rundere Querschnitte. Das muss durch mehr Material - und damit mehr Gewicht - wieder herausgeholt werden.

Der aktuelle Cervélo R5-Rahmen wiegt unter 780 Gramm.
Der des S3 ganze 975 Gramm.

Okay, okay, nun wollen wir mal keine Korinthen kacken - 200 Gramm Ersparnis?
Hier kommt auch der erste Kritikpunkt: Wer braucht ein Aero-Rennrad?

"Ausreißer, die vor dem Peloton herfahren - sogar Abstand gewinnen müssen - und jene 10 bis 20 Watt Ersparnis, die ein Aero-Rahmen bringt, bitter brauchen" - steht in den Fachmagazinen.

Okay. Ausreißer vom Peloton also. Und wir? Wir Normalos? Wie Cyclassics- und RTF-Fahrer?

Sicher. Wir brauchen kein Aero. In den Bereichen, in die wir vorstoßen, kommen wir kaum an die Grenzen, ab denen ein Widerstand-optimiertes Rennrad wirklich etwas bringt. Und vor einem Peloton fahren wir auch höchst selten her. Ich zumindest.

Aber hey: Wir sind Männer. Und Männer haben gern das Neueste. Das Beste. Das Teuerste. Spielzeuge eben. Rennradfahren ist Leidenschaft - und wo, wenn nicht beim Material beginnt diese Leidenschaft? So ein Neilpryde Rahmen zum Beispiel - ist das eine Stealth-Waffe? Ist das nicht einfach nur saugeil anzusehen?

So ein High-Tech-Monocoque-Super-Nanotech-Powerrahmen erfreut seinen stolzen Besitzer doch schon, wenn er einfach nur im Wohnzimmer steht. Wenn er schick und schnell aussieht und an verregneten Sonntagen blitzeblank geputzt wie ein Kunstwerk daher kommt.

Wenn man dann der (natürlich überaus interessierten) Freundin mit Stolz geschwellter Brust verkünden kann, dass dieser, genau dieser Rahmen den cw-Wert eines Formel-1-Autos hat, dann, tja, dann hat man DAS Argument, warum der gemeinsame Salsa-Tanzkurs leider doch wohl erst im nächsten Winter stattfinden kann ... wird sie verständnisvoll nicken, sich mit ihrem Manne freuen und sogleich eine neue passende Trägerhose shoppen gehen. Schön wärs.

Aber mal ehrlich: Brauchen tut das doch nur Hushhovd, Cavendish & Co.
Unsereiner ... brauchts eher für die Psyche. Und wenn ich dann das - meiner Meinung nach zurzeit spannendste Aero-Bike - Scott F01 sehe, dann geht mir einfach nur das Herz auf:

Quelle: Scott-Bikes
Kamm-Profile anstelle der 0/8/15-Flügelrofile, mal wirklich spannende Formen, trotzdem ein tolles Design: Einfach herrlich. Der Habenwollen-Druck bei diesem, wohl ab Frühling ´11 erhältlichen Superrenner ist fast schon als unwiderstehlich zu bezeichnen.

Tja. Und dann holt einen die Realität ein.

Aber Gottseidank ist die, was mich betrifft, alles andere als trist: Immerhin steht da mit dem Cervélo R3 zwar kein aero-optimiertes Rennrad, wohl aber eine richtig geile Fahrmaschine im Wohnzimmer.

Und darüber freut sich meine Freundin - tüüüürlich! - auch schon ganz schön ...

Ein schickes Wochenende Euch allen.



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20. Oktober 2010

Liegerad vs. Rennrad - ein herbstliches Krätemessen auf THF

"Was war das denn?" - ungläubiges Raunen.
"Eine Rakete?" - offene Münder, verdrehte Hälse.
"Ein Carbon-Blitz?" "Ein Mensch-Maschine-Klon?" - das, und noch viel mehr, mögen sich die Spaziergänger und Drachenflieger letzten Sonntag gefragt haben, als ich mit meinem Berliner Freund Olli den Asphalt des ehemaligen Flughafens Tempelhof - der nun ein öffentlicher Park ist - getestet habe.

Olli im Lowracer M5 und stilechter Carbon-Heckverkleidung, ich, noch schwer gezeichnet vom vortäglichen Zeitfahrfiasko, auf meinem Cervélo R3 Rennrad.

Ready for Take-Off, hieß es, ich gehe in Untenlenkerhaltung trete rein. Die Startbahn vor mir, eine grandiose Kulisse, unbezahlbar, einzigartig: Wer nicht selbst Pilot ist, wird einen solchen Anblick höchst selten genießen dürfen.

Noch dazu, weil herrlichstes Herbstwetter in Berlin herrscht: Ein grandioser Himmel, die Skyline glänzt silbrig. Perfekt!

Gang rein und los!

Ich will es keineswegs auf meine zu diesem Zeitpunkt bescheidene Kondition schieben - denn meine Beine waren noch immer müde vom eisigen Gegenwind und penetranten Nieselregen des Zeitfahrens Hamburg-Berlin - aber ich habe nicht den Hauch einer Chance.

Logisch. Liegeräder, noch dazu ein so tiefes, speed-optimiertes wie das von Olli, noch dazu eines, das den Luftstrom durch die Heckverkleidung perfekt optimiert ohne bremsende Verwirbelungen am Gefährt vorbei lenkt, sind nunmal schneller.

Aber so schnell?!?

Atemlos sprinte ich mir die Zunge aus der Lunge. Olli ruft zu mir herüber: "48 km/h!".
Okay, leichter Gegenwind, die Start- und Landebahn von THF steigt leicht an.
Müde Beine.
48. Nicht übel.

Aber dann. Erst langsam. Dann schneller. Und schon kurze Zeit später nur noch als kleiner Punkt zu sehen, beschleunigt das Liegerad. Zieht stetig davon. Uneinholbar, no chance!

48 km/h? Normaler Cruise-Speed, würde ich sagen.
Mir brennt wieder der gesamte Körper. Gelassen kurbel ich den Rest der Landebahn bis zum Terminal. Olli dreht schon die zweite kleine Platzrunde.

Nach der großen Außenrunde auf dem nagelneuen Babyasphalt bin ich einfach nur fertig.

Olli schlägt vor, vielleicht noch "ein paar Runden innen zu drehen".

Ich schlage vor, dass ich ihm einen heißen Tee spendiere.

So sitzen wir noch etwas unter prachtvoll gefärbten Kastanien, fachsimpeln über Liegeräder, Rennräder, dieses und jenes und irgendwie vertreibt dieser überraschend sommerliche Herbstag erstaunlich effektiv die bittere Enttäuschung, die ich seit meiner Renn-Aufgabe am Vortag mit mir herum schleppe.

Gut gemacht!


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17. Oktober 2010

42 Prozent - Mein Zeitfahren Hamburg-Berlin 2010

Ich blicke auf die Karte. Schaue mir den Ort genau an. Zoome hinein, kann es genau sehen. Die Karte sieht so freundlich aus. Blauer Fluss. Viel Grün. Alles so freundlich. Einladend. Schöner als es war. Am Samstag. Dort, ja, genau da, da habe ich das Rennen aufgegeben.

Bei 42 Prozent.

Genau 116 Kilometer weit können mich meine Beine tragen, an jenem 16. Oktober 2010. Und keinen Meter weiter. Ich steige ab. Ächzend klinke ich aus. Enttäuscht, desillusioniert. Am Boden zerstört: Vorbei die Idee, das Zeitfahren Hamburg-Berlin bestreiten zu können. Schluss, aus.

Das Schlimmste ist: Für Steve, meinen Teampartner, ist es damit auch gelaufen. Gewertet wird nur, wer als Team - wer zusammen - eintrifft. Sich absetzen, jemanden zurück lassen, jemanden aussteigen lassen, das zählt nicht. Brevet fahren, das heißt eben vor allem, als Team zu fahren.

Alle oder keiner. Und in unserem Falle nun also keiner.

Dabei war ich am Renntag eigentlich richtig gut drauf. Das Aufstehen um 3:30 Uhr nach einer - traditionsgemäß vor einem Rennen - sehr kurzen, zumeist schlaflosen Nacht, meistere ich erstaunlich gut. Ich quäle mir mein Müsli rein, das ich normal-morgens schon kaum runterbekomme. Heute ist es umso wichtiger: Energie für meinen Bein-Motor.

Steven, mein SunClass-Teamkollege, holt mich 5:15 Uhr in der Langen Reihe ab. Es nieselt. Es ist kalt. Richtig kalt!

Wir sitzen bei Nicole im Van, seine Freundin fährt uns, die Mittelsitze sind ausgebaut, sein Cervélo P2 Zeitfahrrad und mein R3 passen bequem hinein. Ich kann ausspannen, etwa 45 Minuten dauert die Fahrt in die Dunkelheit. Hamburg liegt schon hinter uns. Nichts als pechschwarze Nacht, tanzende Regentropfen im Scheinwerferlicht.

Es regnet. Aber meine mit 10 Lagen Toppits Frischhaltefolie eingepackten Füße sollten dicht- und Getier durch umwerfenden Geruch abhalten ...

Irgendwann, es geht schlängelnd am düsteren Deich entlang, pellen sich am Straßenrand silhouettenhaft dürre Gestalten aus dem Dunkel: Die Randonneure.

Autos, Vans, Caravans parken zu Dutzenden den Deich zu. In einem kleinen Partyzelt der RG Endspurt glimmt verhalten Licht - Etwa einhundert frierende Schatten stehen Schlange, Startnummern werden verteilt. Massenweise Rennräder stehen an die Rabatten gelehnt. Teuerstes Carbon, Alurenner und Stahlboliden - eine Handvoll Liegeräder und ein paar Velomobile.

Ich treffe Olli, meinen Berliner Liegerad-Kollegen. Ich treffe Morten, den schnellsten Ligeradler, den ich kenne (und den längsten noch dazu) und einige andere bekannte Gesichter. Doch irgendwie sind sie alle weit weg: Weit weg, wahrscheinlich schon längst auf der mir immer immenser vorkommenden, 280 km langen Strecke in die Hauptstadt.

Aber ich bin gerüstet: 4 Lagen Funktionsklamotten sollten mich doch warm halten! (Taten sie aber nicht.)

Und ich heute auch hier. Will meine erste Rennradsaison mit einem Knall beenden. Meinem Palmerés noch einen Namen hinzufügen, Brevet Hamburg-Berlin. Klingt gut.

Drinnen, im Fährhaus, haben sie ein Frühstück vom Feinsten aufgestellt. In bunte Klamotten ihrer Lieblingsmarken oder Radsportvereine gehüllt hocken sie über dampfendem Kaffee, schaufeln sich Rührei hinein, essen Joghurts, als sei gestern die erst Mauer aufgegangen, stopfen sich Bananen in die Taschen und stapeln scheibenweise Schinken auf die dunklen Vollkornbrote. Kohlenhydrate bunkern!

Mir gegenüber sitzt Phaelim, der irische Randonneur, den ich bei einer meiner liebsten Liegeradtouren kennenlernen konnte. Er und sein sympathisch schrulliger, englischer Kollege nehmen die Strecke heute auf einem Tandem in Angriff.

Olli entscheidet sich dazu, nicht anzutreten. Ich finde es schade, aber respektiere seinen Entschluss: Immerhin ist für heute Ganztagsregen und Gegenwind angesagt. Temperaturen um die 7 Grad und der Umstand, dass sein M5 Lowracer-Liegerad bei diesem Wetter die Garantie für 10 Stunden durchnässtes Vollfrieren ist, lassen ihn diese Entscheidung objektiv treffen. Und doch: Ich sehe Enttäuschung in seinen Augen.

Enttäuschung, die ich bald schon noch sehr viel besser werde nachempfinden können.

Nicole und Steven verabschieden sich. Ich esse schnell zu Ende: 7:02 Uhr ist unsere Startzeit. Es geht alles wie in Trance - wie ein Film, der an mir vorbei zieht: Wir rollen auf den Deich. Schalten unsere Lampen an. Ich friere, merke aber nichts, weil ich so aufgeregt bin. Jemand ruft "Startnummern 210 und 211 auf die Strecke!" Das sind wir! Und ehe ich es mich versehe, müssen wir los.

Zeitfahren Berlin-Hamburg: Wir sind unterwegs! Unfassbar. Steven ist der Navigator - alle paar hundert Meter piept sein Garmin, abbiegen. Es ist noch dunkel, obwohl ich am Horizont schon einen Silberstreif erkennen kann: Dort siegt der Tag über die kalte Nacht. Wir fahren den Deich entlang, biegen irgendwann auf einem Kreisverkehr ab und sind auf einer größeren Straße: Allein. Hamburg? Scheint mir hunderte Kilometer entfernt.

Doch bald schon sehe ich hinter uns die tanzenden Lichter einer weiteren Gruppe. Sie kommen näher. Da wir beide nicht wissen, wie schnell wir sind, fahren wir einen bequemen Speed. Jetzt zu powern hat überhaupt keinen Sinn. Wem bringt es was, sie alle abzuhängen, wenn wir dann nach 100 Kilometern keine Körner mehr haben?

Steve fährt ruhig und rund, ich finde auch meinen Tritt und als uns die erste Gruppe mit etwa 10 km/h Überschuss überholt, muss ich nur grinsen: Ich habe jetzt andere Sorgen. Die Kälte ist unerwartet ... kalt. Und mein Körper kann (noch?) nicht genug Hitze produzieren, um mich warm zu halten.

Gottseidank habe ich mir vorhin schnell noch einen langen Pullover untergezogen, bevor mein Gepäck im Bus nach Berlin gegangen ist. Nur mit meinen 4 Schichten Bikeklamotten hätte ich das heute nicht überlebt. Aber klar, mit einem Baumwollpulli zu fahren, ist irgendwie alles andere als sportlich. Wie der Pulli heute Abend riechen wird, kann ich mir jetzt schon ausmalen.

Kilometer um Kilometer wird es heller. Der zarte Silberstreich arbeitet sich immer mehr zu einem lichten Schleier, fluoreszierendes Grau. Ein schöner Anblick. Und ein erschreckender dazu: Immerhin kann ich jetzt erkennen, was uns den ganzen Tag über erwarten wird - dicke, dichte Regenwolken!

Wir überqueren eine Autobahn, haben den Deich und die Elbe linkerhand von uns und fahren um die 29 bis 31 km/h. Es nieselt, Kälte krabbelt mir am Gesicht entlang und auch Steven ist ununterbrochen am Naseschnauben. Ich möchte nicht wissen, wie viele Liter Rotz ich mir in der ersten Stunde schon auf meinen Schultern verteilt habe.

Als wir durch einen kleinen, abgelegenen Ort kommen, jätet am Straßenrand eine uralte Großmutter im Blümchenkittel ihren Vorgarten. Als sie uns sieht ruft sie: "Ihr seid aber spät dran!"
Mir fehlen die Worte.
Darf man böse Omas hauen?

Wir kommen gut voran - auch trotz des Gegenwindes, der uns, je nachdem wie wir wieder gerade zum Deich entlang gezackt sind, mal von scharf seitlich aber doch meistens von vorn böig abbremst. Dann segne mir Gott die Ortsdurchfahrten: Hinter den Häuserreihen kann man ruhiger treten, ist windgeschützt.

Marschacht und Tespe fliegen vorbei, es regnet wieder stärker. Nach 30 Minuten öffne ich mein erstes Nutrixxion Powergel - für heute habe ich 10 Geld mit dabei und plane, mich jede Stunde mit einem Tütchen zu versorgen. Lemon Fresh drücke ich mir das pappsüße Zeugs in den Rachen - ekelhaft. Aber wirksam. Kurz nachgespült, dann geht es wieder in Fahrthaltung.

Zwei, drei weitere Gruppen ziehen an uns vorbei. Als wir die erste Pinkelpause machen, noch einmal zwei Gruppen. Dann ein weißes Velomobil - und wenig später das gelbe Velomobil. Und das hat eine besondere Bedeutung. Immerhin ist dies der letzte Starter gewesen. Nun weiß ich also, dass alle auf der Strecke sind. Und es sitzt kein Geringerer als Christian von Ascheberg am Steuer, der Mann, der den 6 und 12-Stunden-Weltrekord inne hat.

Wie ein Raumschiff fauchen die futuristischen Liegegefährte an uns vorbei. 60 km/h wird er drauf haben. Und das ist nicht einmal die Spitze - wenn es erst einmal taghell ist, werden sie in ihren tollkühnen Kisten wohl richtig aufdrehen.

In Richtung Bleckede geht es, wir kurven am Deich herum. Starke Winde reißen immer wieder an unseren Rädern. Wir fluchen in die Dämmerung, manchmal schreien wir - aber meistens unterhalten sich Steve und ich über dieses und jenes.

Und richtig so, wir gehen es locker an. "Heute wird der Spaß ganz groß geschrieben", hatte ich noch am Start zitternd gescherzt. Und das war durchaus ernst gemeint: Keiner von uns ist jemals 280 Kilometer am Stück gefahren. Da gehen wir lieber auf Nummer sicher und fahren auf Ankommen.

Wir verlassen Bleckede ins 10 Kilometer entfernt gelegene Neu Darchau, und was jetzt kommt, kenne ich schon von ein, zwei Liegeradtouren: Berge. Naja, sagen wir, Anstiege. In Neu Darchau halten wir aber zunächst an einem Edeka an, ich stelle mich unter einen Carport neben einen Sack Rindenmulch, Steven kauft drinnen Batterien. "Es macht nicht mehr piep!" hatte er vorhin gerufen. Und das Garmin sollte heute lieber nicht ausfallen. "Ich hab mal die guten Duracell genommen", sagt er.

Ich selbst fülle meine Flaschen auf, mixe mir noch einen Iso-Drink und bin mächtig stolz auf uns, als wir uns hinter einer weiteren Gruppe Rennradler wieder finden - und aufholen. Welle um Welle arbeiten wir uns ran: Nicht verbissen beißend, sondern ganz ruhig.

An der ersten Rampe haben wir sie dann.

"Moin!", rufe ich von hinten. Die beiden letzten der Fünf drehen sich um, sagen nichts, schauen nur kommentarlos auf die Steigung. Hier mag es mit 10, 11 Prozent nach oben gehen. Okay, dann nicht, Ihr unhöflichen ... Rennradler! Es waren wahrscheinlich Berliner. Oder sie hatten mit der Rampe genug zu tun, da kostet Höflichkeit nur unnötig kostbare Watt.

Am Berg, wie immer, habe ich irgendwie einen Überschuss. Mühelos lasse ich die Gruppe - aber auch Steve - im Anstieg stehen und presche nach oben.

Mein Cervélo R3 scheint eine Bergziege zu sein. Dann lasse ich mich abfallen, sammle Steven wieder ein und nach dem zweiten Anstieg hält die Mosergruppe zum Pinkeln an. Steven und ich sind wieder allein.

Wir lassen die Berge hinter uns - die einzigen nennenswerten Steigungen dieses Trips - und fahren in mittlerweile ordentlicher Taghelligkeit durch eine wunderschöne Deichlandschaft. Krüppelweieden, saftige Wiesen, ab und zu Schafe oder Rinder und eine prachtvolle Elbe entlohnen uns für Niesel im Gesicht, eiskalte Füße und brennende Schenkel.

Kontrastprogramm pur: Wie herrlich, diese Landschaft; wie grausam, dieser Tag!

Der Wind ist das Schlimmste. Er bläst nicht konstant, sondern kommt in Böen, die an meinem Rad zerren. Steven, mit seinem aerodynamischen Triathlonrad hat es da noch schwerer, denn kommt der Wind von der Seite, bietet sein flunderflaches Geröhr Extraangriffsfläche. Teilweise bremst der Wind uns auf 20 km/h herunter. Oft kann ich nur in einem mittleren Gang des kleinen Blattes fahren.

Wie machen das bloß die anderen?
Auch nicht anders, denken wir uns. Nur, dass die wohl trainiert sind.

Wir reden nicht viel, aber wenn, dann scherzen wir und machen uns Mut.
Ansonsten beißen wir uns in den Lenkern fest, krümmen uns auf unseren harten Sätteln und versuchen abwechselnd, den anderen im Windschatten mitzuziehen. Bei Seitenwind klappt das nur minimal.

Mittlerweile ist es taghell - oder was man so nennen könnte. Am Himmel steht eine dicke, wüst zerzauste Wolkensuppe - Beleg für die ganze Arbeit des Windes. Weiden und Pappeln krümmen sich regelrecht, wenn die kalten Luftmassen an ihren zerren. Das hohe Gras auf den Wiesen produziert Dünung. Wir zwei Cervélo-Piloten kämpfen uns einsam auf löchrigem Asphalt Kilometer um Kilometer vor.

Erst, als irgendwann der Deich neben uns richtig hoch wird - doppelt, dreimal so hoch, wie am Anfang - kreiert er genug Windschutz, um uns für ein paar Kilometer im Windschatten fahren zu lassen. Und hey, wir kommen sogar über die 30 km/h!

Es sind nur noch 20 Kilometer bis zum ersten Checkpoint und Steven kann es kaum noch erwarten: Immerhin ist seine Freundin mit dem Van unterwegs und wird ihn dort erwarten. Motivation pur, klar. Für mich wartet in Dömitz ein heißer Kaffee (so hoffe ich) und etwas zu essen, denn meine Strategie, mich nur von Gel zu ernähren, schlägt heute irgenwie fehl.

Wir fahren auf einer kleinen Landstraße, Wind faucht uns um die Ohren und ich kann fast schon das Laktat in meinen Schenkeln fühlen. Irgendwann biegen wir nach rechts auf eine viel befahrene, fast wie eine Autobahn ausgebaute Bundesstraße ab: "Dömitz 6 km" steht da dran und auf einmal fühle ich Sieg in mir hochquellen.

Der erste Checkpoint! Der erste verdammte Checkpoint zum Greifen nahe! Nun aber Gas geben - aber nicht überdrehen. Nun noch mal reinklotzen - aber sich nicht fertig machen. Leichter gesagt, denn diese letzten 6 Kilometer haben es in sich, da wir in den Wind müssen. Die Fahrtrichtung geht nun direkt nach Nord-Osten: Die 191 macht es uns schwer!

Ah, wie sehr ich das genieße, wie sehr ich das hasse! Diese Dualität des Sports: Freude am eigenen Leid. Je mehr es weh tut, desto mehr Endorfine. Wahnsinn, oder? Speichel läuft mir aus den Mundwinkeln. Ich beiße. Zwinge mich. Scheißbrücke!

Da pellt sie sich Brücke pellt sich schon aus dem Dunst. Wir haben es geschafft, ah, süßer Sieg. Wir harten Säue, wir Helden. Wir Kämpfer, Streiter der Ritzel. Der erste Checkpoint, gerade mal 100 Kilometer - und ich fühle mich, als hätte ich gerade olympisches Gold gewonnen.

Und doch: Bei diesem Scheißwetter, bei dieser brutalen Saukälte und dem Fu***wind! Wir haben es geschafft. Nicole steht bereit, macht Fotos, einer winkt uns auf einen Parkplatz.

Da stehen sie, 20, 30 Brevet-Fahrer, um einen Rasttisch herum, Essen und Trinken ist reichlich aufgebaut. Ich bremse, habe gar keine Augen oder Ohren für Nicole. Steven ist irgendwo hinter mir in ihren Armen. Ich friere, zittere, pelle mich aus dem Rad, lehne es an das Betondenkmal anlässlich des Brückenbaus nach der Wende und stürze mich auf die Kisten, in denen Vollkornbrote mit Käse und Wurst gestapelt sind: Paradies!
Zwei Stullen auf einmal atme ich förmlich weg: Magenkrämpfe zucken mir durch den Bauch. Wahrscheinlich war mein Verdauungssystem nicht auf so viel harte Nahrung eingestellt. Phaelim und sein Tandem-Beipilot stehen da, wir grüßen uns, wind- und wassergezeichnet, frieren. Leise werden Scherze gemacht.

Hinter meinem Rad lehnen 4 Cervélo Zeitfahrmaschinen am Pfeiler - die dazugehörigen Triathleten, alle um die 20, 22 Jahre jung - Milchbubigesichter, greifen schüchtern in die Kartons und essen wiederum Joghurts. Ist das ein Rennrad-Trick?
Steve und ich laben uns, ein Kaffee, ein zweiter Kaffee. Ah, diese wohlige Wärme, diese muckelige Hitze an den Fingern. Kann ich mir einen Becher heißen Kaffee einfach über meine Eiszehen gießen?

Nicole sagt: "Du humpelst ja!"
Ich schüttle meinen Kopf, versuche zu grinsen.

Wir bleiben 15 Minuten. Die meisten sind eh schon durch - zwei, drei kommen noch an. Darunter ein Einzelfahrer, den wir die "Schrankwand" taufen: Er hat Beine, so dick wie die Brückenpfeiler von Dömitz und einen Rücksack auf dem Rücken, in dem locker der Schuhschrank meiner Freundin Platz gefunden hätte. Wahnsinnstyp. Augen wie ein Adler, dazu aber ein wohlwollendes Grinsen, ein sehr sympathischer. Steht da, schnallt nicht einmal seinen Rucksack ab, ganz cool, trinkt einen Kaffee und isst seine Käsestulle.

Die Schrankwand gewinnt heute definitiv den Coolness-Preis.

Die meisten brechen schon wieder auf. Auch die Cervélo-Boys rüsten sich zum Start. Steigen auf. Treten rein. Düsen ab. Für uns wird es nun auch Zeit. Einer der Organisatoren vor Ort spricht mir Mut zu (warum nur?): "Kein Ding, das Wetter ist beschissen, aber Du schaffst das schon, keine Sorge!"
Na jut. Wenn Du es sagst.
Hatte zwar nicht gefragt.
Aber gut.

Ächzend. Schwer. Steige ich wieder auf mein Rennrad: Direkt über dem Steiß habe ich eine schmerzhafte Wirbelblockierung, die mir fast den Atem nimmt, wenn ich mich strecke. Na hossa! In Rennradhaltung spüre ich nichts, wohl aber wenn ich stehe. Erste Ausfallerscheinungen also kurz vor Mitte der Strecke. Das geht, denke ich mir.

Ist das die Kälte? Dass ich viel zu dünn angezogen bin (und dazu noch wasserdurchlässig), weiß ich. Was Zugluft innerhalb von 3 Stunden anrichten kann, merke ich jetzt allemal.
Wiederum ächzend machen wir uns wieder auf die Strecke. 100 Kilometer geschafft - na siehste, läuft doch! So lange wir im Wald fahren, ist wenigstens der Wind weg.

Läuft gar nicht!, denke ich mir, als ich nur 5 Kilometer nach Dömitz anfange, mein Knie zu spüren. Es sticht direkt unter der linken Patella, bei jeder Umdrehung fährt mir ein unangenehmer Schmerz durchs Bein.

Rausnehmen, Drehzahl reduzieren, nicht zu hart treten!
Ich falle etwas zurück, Steven merkt es und bremst sofort.
"Alles okay?", fragt er.
"Nein.", keuche ich, als mich unerwartet wieder eine Bö aus dem Gleichgewicht bringt. "Das Knie!" Wir reduzieren sofort das Tempo, nehmen raus, ich strenge mich an, bewusst nicht zu viel Druck auf das Pedal bringen zu wollen: Vergebens. Um bei diesem Wind auch nur annähernd im hohen 20er-Bereich fahren zu können, muss man halt treten. Alles andere bremst sofort auf 20, 18 km/h herab.

Da zieht die Schrankwand an uns vorbei. Locker hängt er auf seinem Stahlrenner. Der Tritt rund, keine Spur von Anstrengung. Ein sympathisches Lächeln blinzelt uns an. "Na, da haben wir es ja gleich geschafft.", sagt er, grinst und ist auch schon wieder 20 Meter vor uns.
"Ja-ha!", können wir da nur gestelzt hinterher rufen.

Ich merke, dass es so nicht weiter geht.

Aber was soll ich machen? Noch weiter die Drehzahl reduzieren? Dann können wir gleich schieben. Abgesehen davon, dass das Ziel in Berlin nur bis 22 Uhr besetzt ist.
Aussteigen? Echt? Aufgeben? Wie soll das gehen - einfach aufhören? Wie sagt man sowas seinem Teamkollegen? Oder soll ich nicht doch noch einmal pushen? Richtig reinhängen - Zähne zusammen beißen, Augen zu und durch!

Aber da fährt es mir wieder den Schenkel hoch.
Arthrosopie ist nicht so meins. Wenn das Knie einmal ruiniert ist, wird es nie wieder wie vorher. Aber mit dem Knie spaßt man nicht! Und doch: Bei den Cyclassics hatte ich auch kurz Knieschmerzen - hab sie ausgesessen, weg gedrückt. Ging doch! Aber: Das waren nur 155 Kilometer. Bei 25 Grad Sonnenschein. Heute, das ist ne andere Nummer: 280 Kilometer. Und gefühlte 20 Grad weniger.

Ich beiße. Reiße mich zusammen.
Und merke, wie schwach ich bin. Steven fährt mir ständig davon. Er liegt da auf seinem Triathlon-Rad, tritt angestrengt - aber rund. Und ich? Ich kann nicht einmal seinen 27 km/h-Windschatten halten ...

Ich ziehe neben ihn. Und muss es aussprechen: "Bis Wittenberge, Steve. Dort steige ich in den Zug. Es geht nicht mehr!"

Nun ist es raus. Alle. Das wars. Scheitern ausgesprochen. Besiegelt. Beschlossene Sache. Staubtrocken macht sich bittere Enttäuschung in mir breit. Es ist das erste Rennen, das ich aufgeben muss. Ein Schlag in die Magengrube. Für ihn sicher auch.

Bis Wittenberge noch - 16 Kilometer im Schleichgang. Dann Zug.
Steve ruft sofort Nicole an. Ob sie uns abholen könne. Und wie von Zauberhand ist sie nach nur 3 Minuten da. War wohl direkt hinter uns.

Ich fühle mich wie Scheiße. Lenzen. Mein Ausstiegspunkt. Ort des Scheiterns. Lenzen. Das steht für mich ab heute für "Schande". Lenzen, Kilometer 116. 42 Prozent der Strecke. 42 Prozent. Nicht mal die Hälfte geschafft. Nicht mal die Cyclassics-Distanz. Nicht mal den kürzeren Münsterlandgiro.

Wie bitter Aufgabe doch schmeckt. Ekelhaft. Ich könnte heulen.

Steve will noch weiterfahren. Für die Wertung bedeutungslos, will er wenigstens noch ein bisschen trainieren. Er fährt los, sicher - er wird auch unendlich enttäuscht sein. Wie er da so von dannen zieht, noch winkt, komme ich mir schmutzig vor. Wie ein Verräter. Ein Scheißgefühl.

Nicole kümmert sich rührend: Der Van ist beheizt wie eine Sauna, es gibt dampfend-heiße Zitrone, es gibt Lakritz und allerlei Schmankerl, Hähnchenschenkel. Siebter Himmel. Für Loser.
Wir unterhalten uns, scherzen. Aber jedes Mal, wenn wir Leute überholen, die zum Verband gehören, schneidet es tief in mein Herz: Die Cervélo-Boys, die Schrankwand, selbst das Tandem holen wir ein.

Ich fühle mich wie ein räudiger Hund.

Steven steigt bei Kilometer 160 ein. Der GPS-Track war weg. 500 Webpunkte maximal. Für ihn ist auch Schluss. Wenigstens scheitert er an nur der Technik, nicht an sich selbst. Enttäuschend jedoch allemal.
Ich sitze im Fond, vor mir, vertäut, die Rennräder. Es sind noch 120 Kilometer bis Berlin.
Irre. Ich schüttle nur noch meinen Kopf. Unfassbar für mich. Unfassbar!

Die Fahrt wird leise. Obwohl Nicole und Steven sich vorn unterhalten, versuchen mich einzubeziehen, ist meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Sehr setzt es mir zu. Hier heute abgebrochen zu haben, kann ich noch immer nicht glauben: Was als Projekt "Glänzender Saisonabschluss" gestartet wurde, endet nun als "Schändliche Jahresendpeinlichkeit".

Nun. Ein paar Stunden später treffe ich Olli wieder, der mittlerweile in Zivilklamotten ist und mich mit dem Kombi am Ziel abholen kommt. Neid steht mir im Gesicht geschrieben: Neid auf all die, die es geschafft haben.

Weltmeister Christian von Ascheberg sitzt da und fachsimpelt. Okay, mit einem 70 km/h schnellen Velomobil, vollverkleidet ... wir hatten von ihm nichts anderes erwartet. Viel mehr Respekt habe ich vor den zitternden, dürren, durchnässten Typen und Frauen, die abgekämpft immer wieder eintrudeln.
Und wollte so gern einer von ihnen sein.

Niemand. Wirklich niemand, der nicht an diesem 16. Oktober bei eiseskalten 5 Grad im Nieselregen in der Dunkelheit am Altengammer Deich gestanden und gezittert hat, niemand, der nicht um 3, 4 Uhr dieses freien Samstags aufgestanden und in den Bören des Nord-Ost-Windes auf seine Startnummer gewartet hat, niemand anderes kann auch nur ansatzweise ermessen, was das Hamburg-Berlin-Zeitfahren im Jahre 2010 war.

Niemand. Und keiner darf sich ein Urteil erlauben. Über Fahrer, die nicht zum Start erschienen sind. Über Fahrer, die zwar erschienen, aber nicht gestartet sind und auch nicht über uns - über Fahrer nämlich, die während des Rennens ausgestiegen sind.

Und wer es doch tut, ist nichts weiter als ein Idiot, der keine Ahnung hat.

Anders herum: Chapeau! Hut ab und eine tiefe Verbeugung vor den Frauen und Männern, die sich durch Nebelbänke, über matschig-rutschige Straßen, durch den auskühlenden, zerrenden Nieselregen (und später richtigen Regen bei Berlin) und gegen den ständig blasenden Gegenwind die 280 Kilometer bis ins Ziel gekämpft haben! Hut ab - Ihr habt eine Leistung vollbracht, die man sich nicht vorstellen kann. Wirklich nicht. Und ich bin schon viel herum gekommen.

Ich habe sie gesehen, die schlammverkrusteten Gesichter. Die wie Espenlaub Zitternden. Habe gesehen, wie sie kaum mehr treten, geschweige denn gehen konnten. Wie Kriegsheimkehrer, Argusschiffer, zurück von den Toten. Allein auf weiter Flur - Ihr verdient meinen Respekt. Und meinen Neid: Denn ich musste aufgeben, war nicht stark genug.

Und komisch: Heute, am Montag, fühle ich mich, als könnte ich es doch schaffen. Blicke nach draußen - es ist klirrekalt, aber an einem blauen Himmel steht eine Sonne, die wenigstens ins Herz Wärme bringt. Komisch, denke ich, wenn das Zeitfahren nur heute ausgetragen worden wäre ...

Aber das bringt ja nichts. Brevet-Fahrer fahren bei jedem Wetter. Und bei Sonnenschein, ohne Wind, das kann ja jeder. Gestern, das, ja, das war Zeitfahr-Wetter. Männer-Temperaturen. Regen. Sturmböen. Nichts für Weicheier, nichts für Knirscheknie.

Aber 2011.
Es wird mein Jahr!
2011. Oktober. Werde ich in Berlin ankommen.

Sicher!

Gefahren: 116,8 km in 4:28 Stunden mit 26,7 km/h Netto-Schnitt
42 % der Strecke geschafft.


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