24. Juli 2013

Carbon versus Stahl: Ich teste ein Stahlrahmen-Rennrad von Jaegher.

Ach, herrlich, das passt doch super zu diesem Mega-Sommer, unter dem wir jetzt alle zu Leiden haben: Erinnern wir uns mal wie es war, als im April die Temperaturen noch bei klirrekalten -4 Grad dümpelten, ich, dick eingepackt am Start der Jedermann Flandenrundfahrt auf dem leeren Marktplatz von Brügge ... ah, jetzt kühler?

Dann legen wir mal los. Heute soll es endlich mal mehr zu lesen geben zu dem Rennrad, dass mich immerhin 150 Kilometer durch die Ronde van Vlaanderen gebracht hat: Das Jaegher Interceptor.


Ronde. Koppenberg. Nur Bekloppte. Ein Wahnsinn :)

Diel Vaneenooghe, der Inhaber und mithin die vierte Generation der berühmten flandrischen Rahmenbauer, übergibt mir am Vortag das schneeweiße Rennrad mit den Worten "Es hat 0 Kilometer runter. Frisch vom Lackerier. Du solltest wenig stürzen."

Das Jaegher Interceptor - erster Eindruck

Mein neues Rennrad sieht klasse aus. Der Rahmen - wie es sich für ein Stahlrahmenbike meiner Meinung nach gehört - ist gerade, schnörkellos. Dieses Rennrad strotzt barock vor Understatement. Diel hat 25 mm-Bereifung (Schlauchreifen) montiert, eine Maßnahme, der meine Pobacken einige Stunden später Dank zollen werden.


Klare Linien - bereit zum Höllenritt

Der Interceptor ist die Allzweckwaffe im Portfolio der Jaegher-Rahmen. Die kleine Manufaktur bietet diese Rahmen (sehr ungern, wie man mir sagt) in den normalen Standardgrößen ab 48 bis 61 an - wünschenswert und absolut zu empfehlen ist es aber, sich in das kleine Dörfchen Ruiselede direkt in die Hände des Meisters zu begeben: Immerhin hat es Diel noch von seinem Opa gelernt, einen Menschen perfekt einzumessen. Und Opa muss es wissen: Der hat damals für Eddy Merckx die Rennräder gebaut.

Mein Interceptor ist Standardgroße 58, passt mir also hervorragend.

Im Portfolio mit 5 Rahmen ist dieses Rad so etwas wie das Workhorse - hinzu kommen noch ein Bahnrad-Rahmen "Pistier", ein extrem leichter Kletterrahmen (der auf dem flandrischen Kopfsteinpflaster nix zu suchen hat) "Ascender", das Topmodell, dann noch der klassisch gemuffte "Phantom" und der Crosser "Faloon". Für jeden was dabei.

Der Stahlrahmen des Jaegher Interceptor

Ich habe das Lager bei Jaegher in der Werkstatt gesehen: Edles Geröhr vom italienischen Hersteller Columbus, spezialangefertigte Steuerrohre mit lasergefrästen Logos im Schaft, wunderschön gearbeitete Muffen: Ein Traum!


Schneeweißes Ross - ansonsten sind alle Farben der Welt denkbar

Mein Rahmen ist - bis auf die konisch zulaufenden Ausfallenden am Heck - als klassischer Aufbau sofort schön. Selbst meine Liebste findet das Rennrad "hübsch". Und das liegt eben an der einfachen Geradlinigkeit der Konstruktion: Dort, wo sie die aktuellen Carbon-Rennräder die ausgefallensten Slopings, Krümmungen, Aero-Profile und sonstwas für Design-Elemente einfallen lassen müssen, um sich abzuheben, bietet der Werkstoff Stahl aufgrund seiner Natur eher wenig Gestaltungsmöglichkeiten: Und verlangt nach einfachster Verarbeitung.

Diese Schnörkellosigkeit sorgt für klare Linien. Wunderbar.

Die Schweißnähte sind perfekt, die Schuppung weg geschliffen und unter einer Schicht makellosem Lack verborgen.

Klassisches Design und individuelle Akzente

Das Jaegher hat einen Farbklecks. Eine Banderole aus Lack an der rechten Strebe enthält Informationen über den Coladosen-dicken Columbus-Stahl, der hier verarbeitet wurde. Es sieht aus wie eine Kampfnarbe, rot-glühendes Bäckchen vor dem Angriff. Sehr nett.


Farbklecks am Heck - wie eine stolze Kampf-Narbe

Ansonsten prangt auf dem Oberrohr noch in Silber eine Lack-Banderole, die den Namen und einige Daten zum Schweißer, zum Lackierer und Ausstatter des Rennrades enthält (Ja, hier steht noch ein Mensch mit Name für sein Produkt). Zudem hat man die Wahl, sich noch einen von 10 Eddy-Merckx-Sprüchen als Motto auf das Rohr malen zu lassen.

Die Carbon-Gabel kann als weiterer Farbeffekt dazu gewählt werden, ebenso wie die Sattelstütze aus Carbon.


Jaegher - das ist Handarbeit vom Meister persönlich

Alles in allem ein wunderschönes Rennrad - obschon mich die dicke Bereifung optisch stört. Aber wie gesagt, das ist alles vor meinem Ritt über das Pflaster Flanderns und diese Aussage werde ich später wieder revidieren. Wenn es nach mir ginge, hätte Diel auch ruhig 35, 45 oder gleich Fatbike-Bereifung aufziehen können ...

Stahlrahmen-Bike vs. Carbon-Renner - das Fahrgefühl

Eines vorneweg: Ich "teste" nicht oft Rennräder, kann daher nur etwas über meinen ganz persönlichen Fahreindruck erzählen. Zudem habe ich, was die Carbon-Fraktion angeht, nur Erfahrungen auf dem Cervélo R3 und dem Cervélo S5 ... also, erwartet bitte keine professionelle Auseinandersetzung.


In Flandern Pflicht: 25 mm-Bereifung

Das Stahl-Rennrad ist - leider keine Waage dabei - nur geringfügig schwerer als mein Cervélo S5. Sicher mag das an den dicken Schläuchen liegen, sicher auch am Werkstoff. In Diels Werkstatt steht gerade ein 10.000 € teurer Ascender zum Versand bereit - Diel sagt mir, dass dieses Rennrad mit allem Drum und Dran knapp über 6,5 Kilo wiegt. Ich denke, das sagt alles.

Beschleunigung und Agilität von Stahl-Rennrädern

Ich kann das Interceptor ohne Unterschiede zu meinem R3 sofort sehr schnell beschleunigen, harter Antritt, hochschalten, Antritt, hochschalten - es ist wie ein Rausch, der erst dann aufhört, als meine Lungen brennen und der Luftwiderstand den Kopf schüttelt.

Zwar mag ich - noch immer nicht - die Schaltlogik und das hakelige Schaltverhalten der montierten Campagnolo Chorus, aber Jaegher schraubt ja auch Sram, wenns sein muss auch Shimano an seine Räder ...


Fand ich ätzend: Die Campa Chorus

Das Rennrad ist sehr agil: Vielleicht liegt das am kurzen Radstand, denn im Grunde ist die Geometrie dieses Rennrades vergleichbar mit den Abmessungen meines Bergrades R3 von Cervélo. Ich kann mit dem Rad sowohl bei niedrigsten Geschwindigkeiten - zum Beispiel im langsamen Gedränge auf den Hellingen - als auch bei Highspeed im Pulk jederzeit souverän steuern, habe auch in schnellen Abfahrten nie das Gefühl, dass das Rennrad schlackert, sich unsicher oder gar unberechenbar verhält.

Der Komfort eines Stahlrennrades

"Steel is real" sagen die Stahlfetischsten und das hat auch wirklich seine Berechtigung. Das Rennrad liegt fantastisch - selbst auf den mörderischen Pflastersteinen. Kein Klappern, kein Scheppern - nichts. Es gleitet über die Huckel, fast scheint mir, als fühlte ich, wie sich der Rahmen über die Pflastersteine windet, um bei jeder Windung wie eine Feder gleich die Kräfte abzudämpfen.

Ich muss mich anfangs noch zurück halten, es über die Hellingen zu prügeln: Ich bin mir sicher, mein Carbon-Rennrad hätte hier und heute einen Rahmenschaden davon getragen. Das Stahlrennrad will hier so behandelt werden, fast scheint es, als fühle es sich hier wohl.

So viel Komfort (wenn man das mal so nennen darf) habe ich auf meinen Carbon-Rennrädern nicht. Nicht einmal ein Zehntel davon.


Sieht man ihm nicht an? Ist aber trotzdem eine Kampfmaschine.

Die Fahrqualität begeistert mich und ich muss sagen, dass ich diesen viel gepriesenen Vorteil von Stahl hier auf den krassen Pflastern Flanderns wirklich gespürt habe. Der Stahlrahmen scheint Vibrationen bis zu einer gewissen Frequenz komplett zu dämpfen, die großen Brocken zumindest abzumildern. Und das Beste daran: Das alles, ohne Fahrstabilität oder Speed zu beeinträchtigen.

Beeindruckend!

Abschließend - Stahl oder Carbon?

Als ich zurück komme von der Flandernrundfahrt - nach nur 150 Kilometern breche ich ab - haben es Temperaturen, Strecke und Pflastersteine geschafft, mich komplett fertig zu machen. Das Jaegher aber steht da, wie noch bei km 0: Ein paar Schlammspritzer, etwas Staub. Ansonsten scheint es mich aufzufordern: "Los, Alter, aufsitzen! Jage mich über den Asphalt, los, quäl Dich Du Sau!"

Es war eine Offenbahrung, nicht mehr und nicht weniger.

Steel ist wirklich real und wenn ich noch 5, 6, 7.000 € übrig hätte, ich würde mich sofort und ohne zu duschen bei Diel auf den Hocker setzen, mich einmessen und mir von ihm mein eigenes Jaegher bauen lassen.


Ab nach Brügge: Ein Jaegher ordern :)

Die Fahrqualität ist dem eines Carbon-Rennrades meiner Meinung nach in jeder Hinsicht überlegen. Agilität, Beschleunigung und Fahrverhalten sind jederzeit kontrollierbar, und sind kontrolliert bis an ihre Grenzen ausreizbar. Das geringe Plus an Gewicht - haben moderne Aero-Carbonrenner heutzutage auch.

Stahl kann stürzen (ich hab es allerdings nicht ausprobiert), kann sich verbiegen - kann aber fast immer wieder repariert werden. Bei Carbon sieht das (oft) ganz anders aus. Das wäre ein Fall für den Sondermüll. Stahl hält ewig, "wächst" mit der Zeit mit seinem Besitzer und den Beanspruchungen. Kann noch nach 50 Jahren gesandstrahlt und neu lackiert werden: Und ist dann wie neu.

Jaegher gibt lebenslange Garantie.

Tausche ich jetzt meine Cervélos ein? Geht nicht. Naja. Die sind auch Superbikes, aber eben Superbikes von heute. Von einer modernen, globalisierten, technologisierten Zeit. Weltraum-CAD-konstruierte und Windtunnel-optimierte Carbonmatten-Layout-tuned High-Mold Frames für den Einsatz im 21. Jahrhundert.

Jaegher. Baut. Rennräder. Punkt.


Zu diesem Thema:

Hier könnt Ihr den Blog-Post über meinen Besuch bei Jaegher in der Werkstatt lesen.
Und hier gibts den Blog-Post von meiner Teilnahme an der Flandern-Rundfahrt.
Hier ist der Link zur Jaegher-Website.

18. Juli 2013

Ein Alpentraum wird wahr.

Kurz, nachdem ich meinen Blog-Beitrag zur eher enttäuschenden Teilnahme am Race Across the Alps (RATA) veröffentlich hatte, erreicht mich eine E-Mail eines Redakteurs der Radsport-Zeitschrift Roadbike: "Hallo Lars, Deine Enttäuschung kann ich verstehen - aber Kopf hoch und gleich neue Ziele setzen! Vielleicht wäre der Endura Alpentraum etwas für Dich?"

Mmh, denke ich mir und denke nach: Ich habe in weniger als 4 Wochen meinen Einsatz bei der Haute Route Alps, ein Etappenrennen von Genf nach Nizza über 800 Kilometer und 21.000 Höhenmeter, dann noch Rad am Ring. Und doch ... mich wurmt, dass es beim RATA, in das ich so viel Arbeit und Vorbereitung gesteckt hatte, so gar nicht geklappt hat.

Einmal noch durch die Alpen? Ja, das wäre es doch!


Beim RATA - fast auf dem Gavia-Pass. Das war es dann aber auch schon ...

Der Endura Alpentraum findet 2013 zum ersten Mal statt: Das Premieren-Event bietet alles, was das Herz begehrt. Die Anmeldung ist mit 125 € Startgebühr für die lange Strecke schon recht teuer, aber vergleichbar mit den 100 € + Losgebühr eines Ötztaler Radmarathon. 

Das Gute aber ist, dass man Alpentraum eben nicht erst in eine Lostrommel muss, sich Termine freihält, um dann eventuell doch nicht starten zu können. Es sind noch genug Startplätze (vor allem für die lange Strecke) vorhanden, sodass für dieses Event der Startplatz fast garantiert ist.

Die Strecke - Alpentraum oder Alpenalptraum?

Die Strecke des Alpentraum ist rekordverdächtig - mit 252 Kilometern Gesamtlänge immerhin 20 Kilometer mehr, als es der Ötzi von den Startern fordert, zudem mit 6.100 Höhenmetern noch einmal 600 Klettermeter oben drauf.


Die Strecke des Endura Alpentraum: Mitten rein ins Vergnügen!

Attraktiv vor allem für Starter aus (Süd-)Deutschland: Der Startort in Sonthofen ist für den gesamten bayerischen Raum und Süd-BW bequem zu erreichen, daher vermute ich eine Menge Münchner am Start sehen zu können. Zudem mit Promi-Bonus: Fast die gesamte Roadbike-Redaktion wird beim Alpentraum am Start sein.

Da ich den Ötztaler mit 10:40 Stunden 2012 ganz gut überstanden hatte, sehe ich für den Alpentraum, zudem so gut trainiert wie dieses Jahr, eigentlich keine größeren Probleme.

6.100 Höhenmeter - kein Problem?

Naja, nun mal langsam. Ein Zuckerschlecken wird dieses Rennen auf keinen Fall werden. Das Höhenprofil ist zwar nicht ganz so bedrohlich, wie der Zacken-Overkill eines RATA, aber die 6 Pässe werden es in sich haben.


Das Höhenprofil des Endura Alpentraum: Beeindruckend.

Zwar sind Pässe wie das Oberjoch, der Gaichtpass oder auch die Pillerhöhe nicht gerade die Angsmacher der Alpen - und sicher im Vergleich zu den Ötzibergen Bühtai, Brenner, Jaufen oder das Timmelsjoch auch nicht die großen Namen, aber das finde ich gerade spannend: Auch mal abseits der Glänzeberge neue Routen entdecken.

Und immerhin: Das Oberjoch führt auf 1.178 Meter Höhe und hält dabei auf den 11 Kilometern Anfahrt Steigungen um 5 bis 7 % parat, kurzzeitig auch 11 Prozent. Quäldich.de beschreibt den Anstieg als nicht sehr schwierig, landschaftlich aber beeindruckend. Ich bin gespannt.

Der Gaichtpass geht runter wie Öl, richtig spaßig wird es dann das Hahnentennjoch hinauf (bisher nur aus dem Auto bekannt) - 14 Kilometer geht es mit bis zu 15 % bergan, im Schnitt werden die 8 % richtig in die Glieder fahren. Landschaftlich auch beeindruckend, wird sich aber zeigen, ob man dann noch im Stande ist, die Ausblicke zu genießen ... 


Damals beim Ötzaler: Wie wird sich der letzte Berg des Alpentraum anfühlen?

Das Hahnentennjoch bringt uns nach Österreich: Nun steht erst einmal die Pillerhöhe an. Was nach einem Dummejungenstreich klingt, hält auf immerhin 9 Kilometer Prozente bis 12, 15 % bereit, kurz auch mal jenseits der 20er-Marke.

Nicht genug Zacken im Profil: Weiter geht es mit dem Reschenpass - den kenne ich auch nur aus dem Auto. Endlich kann ich den mal per Bike fahren, durch Nauders (ich winke meinem lieb gewonnenen RATA-Startort!) und wieder hinab, um den Alpentraum mit dem famosen Stilfser Joch - fast - abzuschließen.

Frage: Wetter & Licht?

Wie spät auch immer das Feld dort ankommen wird, Mitte September geht die Sonne um 19:30 Uhr unter. In den schattigen Alpen wird dann die Frage eines eventuell parat zu habenden Lichts aufgeworfen: "Kein Problem," sagen sie bei Plan-B, der Orga des Alpentraum, der Co-Sponsor Sigma wird an der letzten Labestation Stirnlampen verteilen.

Ob die dann auch den Schnee wegschmelzen, der dann auf über 2.700 Metern Höhe liegen kann?

Na, jedenfalls bin ich froh, mit dem Alpentraum noch ein RATA-würdiges Abschluss-Event für 2013 gefunden zu haben und freue mich auf dieses neue Rennen. Seid Ihr auch am Start? Würde mich sehr über ein paar bekannte Gesichter vor Ort freuen ...



Ihr habt Lust, auch beim Alpentraum zu starten? Sowohl für die lange als auch die kurze Strecke sind noch Startplätze vorhanden: Jetzt anmelden!




11. Juli 2013

Eine Runde über die Nordschleife. 24 Stunden "Rad am Ring" revisited.

Den Bericht vom Abschneiden des Teams SunClass habt Ihr sicher schon auf der Website unserer Equipe gelesen. Der Bericht von unserer ersten Teilnahme am 24-Stunden Rennen auf dem Nürburgring gibt Aufschluss über das, was an den Tagen auf der Nordschleife so alles passiert ist.

Doch was ist die Nordschleife eigentlich? Auf was lässt man sich als Rennrad-Fahrer ein, wenn man die legendäre "Grüne Hölle" in Angriff nimmt?

Kommt mit auf eine Runde, willkommen an Bord meines Cervélo R3.



Am Anfang, als wir nach 600 Kilometern Autobahnfahrt und jeder Menge Testosteron geschwängerter Männerwitze am Nürburgring angekommen waren, wussten wir natürlich noch nicht, was uns blühen würde.

Vorsorglich haben wir schonmal das Oberste Treppchen ausprobiert: Jedem war allerdings klar, dass wir es nicht auf dieses und auch nicht auf das dritte schaffen würden.

20 Runden hatte ich fest eingeplant, guter Dinge.
Auf 21 Runden hatte ich gehofft.
Ganze 24 Runden - meinte Heiko noch nach seiner 2ten Runde - wären schaffbar.


Dass Rennrad steht bereit, der Hintern ist gecremt, was kann mich da jetzt noch aufhalten?

Gepeitscht von Musik allenthalben, dem bunten geschäftigen Treiben in den Boxen, Partyzelten und Caravans, die sich auf fast 5 Kilometern entlang der Strecke ausgebreitet haben, durchfahre ich die ersten Meter: Es geht vorbei an Einer-Teams (die Wahnsinnigen!), an 2er-Teams, wie dem unsrigen und den Riesenteams, die mit 20, 30 Mann zu 8er-Teams angereist sind.


Zunächst geht es durch enge Kurven mitten durchs Fahrerlager. Obacht! Hier queren Ausgelaugte die Straße, während die Hartgesottenen, die mehrere Runden hintereinander fahren, hier im Renntempo durchballern.

Zwar haben sie an den neuralgischen Orten Ordner aufgestellt und ab und zu dröhnt auch mal die Trillerpfeife, aber grundsätzlichgilt hier: Augen auf, denn sonst krachts!


Das Fahrerlager zieht sich hin: SunClass steht - glücklicherweise - genau gegenüber den Toiletten und Waschräumen, aber die Boxen der Rennrad und MTB-Teams ziehen sich über die gesamte Formel-1-Strecke hin.

Vorher aber biegen wir auf die Boxengase ab - und zwar entgegengesetzt der normalen Fahrtrichtung.


Rechts, auf der regulären Strecke, zischen die Glücklichen, die gerade ihre Runde beendet haben, auf Start/Ziel uns entgegen, wir aber nehmen auf der langen Gegengeraden Fahrt auf. Aber auch nicht zu viel - links neben uns in den echten Formel-1-Boxen sind die VIP-Teams, die großen Sponsoren-Teams und die Glücklichen. Nutrixxion ist hier, das Bulls-Team des Veranstalters und einige andere große Teams.

Dann biegen wir in einer links-rechts Kombination auch schon auf die Nordschleife ab. Es gilt eine kleine Rampe, keine 50 Meter, zu erklimmen. Clever: Hier müssen alle vom Gas, so gestaltet sich das Splitting von Rennrad und MTB einfach. Die MTBler biegen rechts auf den Offroad-Kurs ab, für die Rennräder geht es nach einer scharfen Linkskurve in die erste Abfahrt.


Die Hatzenbach hinunter, 800, 900 Meter, links neben uns taucht der Formel-1-Kurs ab, rasant geht es bergab, eine scharfe Rechtskurve - Angsthasen bremsen hier, denn der Ausgang ist nicht einzusehen - spätestens nach der dritten Runde weiß ich: Hier kann ich, wenn ich die Ideallinie nahe an den Curbs erwische, mit fast 70 km/h innen ohne zu bremsen durchhuschen.

Es wird bei Hocheichen etwas flacher, hier muss man die Speed mitnehmen - 60 km/h - größter Gang und reingetreten! Denn wer es hier schafft, nur wenig Geschwindigkeit zu verlieren, der geht in die folgende, zweite Abfahrt umso schneller hinein: Quiddelbacher Höhe bis Flugplatz mit einem rasanten Rechtsknick hinunter zum Schwedenkreuz.


Wer hier unten ankommt, dem hat es schon mächtig den Fahrtwind durch den Helm getrieben: Geschwindigkeiten von 70, 75 sind normal, wer hier einen guten Windschatten in den Höhen erwischt, kann hier schon einmal die 80 km/h-Grenze knacken.

Ein berauschendes Gefühl!

Unten angekommen flacht es erneut leicht ab, es geht sogar etwas bergauf in eine Rechtskurve: Eine der wichtigsten Kurven des ganzen Kurses!


Nun gilt es, wirklich Power in Speed zu investieren - denn hinter der Kurve wartet die berühmt-berüchtigte Fuchsröhre.

Ich schaffe es in meiner dritten Runde (und leider nicht mehr danach wieder), nehme vom Schwedenkreuz richtig viel Geschwindigkeit mit, schaue mich kurz um - habe immerhin 70 km/h drauf, hinter mir keiner, zucke kurz nach links, ducke mich unter dem Wind weg, erwische zentimetergenau die Kurve und lande genau am Hinterrad eines Vorausfahrenden, der schon mächtig am Reintreten ist - er macht mir super Windschatten!

Nun zimmere ich alles raus, was geht!

Denn hinter der sehr scharfen Rechtskurve - unter einer Brücke hindurch - beginnt die Achterbahnfahrt, die sie hier "Füchsröhre" nennen: Vor mir taucht die Straße förmlich senkrecht nach unten hin ab.

Es ist einem flau im Magen.

Hier darf man keine Angst haben: Freie Bahn hinten - vor mir, links, rechts versetzt in einiger Entfernung drei, vier andere Rennfahrer.

Ich trete richtig rein, gehe im letzten Moment aus dem Windschatten und genau in dem Moment, wo die Strecke unter mir abkippt, mache ich mich ganz flach über dem Rennrad: Es geht los!


Die Fühsröhre ist das geilste, was ich jemals zum Thema "Geschwindigkeit" auf dem Rennrad erlebt habe! Mein Cervélo liegt ruhigt wie eine Eins auf dem spiegel-ebenen Asphalt, vor mir verwischen die Farben, das Grün des Waldes, das Schwarz des Bitumens und die Graffiti, die sie allenthalben auf die Strecke gemalt haben, zu einer visuellen Kakaphonie, Wind kracht gegen mein Gesicht und ich werde immer schneller.

Treten zwecklos: Wir sind längst schon über 80 km/h.
And counting.


Die Fuchsröhre schlängelt sich leicht, geht über in den Adenauer Forst und Metzgersfeld, man muss nur wenig lenken, dann, ganz unten, ganz knapp vor dem Ende, man glaubt fast schon, die Schallmauer zu durchbrechen, da kippt es noch einmal vor einem ab, leicht links geht es, eine Schlüsselstelle, denn hier bremsen viele, lenken zu heftig ein, verlieren Zeit und Speed - ich aber lasse rollen, tauche noch einmal hinweg, fast fühle ich mich wie im Parabelflug, als das Rennrad unter mir absinkt, der Straße folgt und ich scheinbar geradeaus weiterfliege, abhebe - hier gibt es den letzten Kick, den Arschtritt von Mutti, die Booster werden gezündet: Hier unten erreiche ich meine 95,7 km/h Top-Speed!

Nicht auszudenken, was hier eine kleine Scherbe anrichten kann.
Und nicht auszudenken, wie schnell ich hier hätte sein können, wenn oben nicht satter Gegenwind geherrscht hätte!

Aber aufgepasst - im Hier und Jetzt - wir sind so schnell, dass man gleich zu spüren bekommen wird, was 95 Kilometer pro Stunde auf einem 800 Gramm leichten Carbonrahmen bedeutet: Ein kleiner, etwa 150 Meter langer Gegenanstieg nach einer Linkskurve folgt - Verzögerung wie bei einer Vollbremsung, unten, in der Talsohle wird man förmlich in den Rennradsattel gepresst.

Wow, was für ein Wahnsinn! Dieser Streckenabschnitt ist wie eine Droge: Mehr, mehr mehr!

Dann bleiben wir im Anstieg stecken.


Nach dem Gegenanstieg, Kallenhard, geht es hinunter auf pervers langsam anmutende 40, 35 dann 30 km/h, hier lasse ich ausrollen, investiere nicht zu viel, denn bald schon weiß ich - es geht gleich noch einmal rasant bergab!

Gerade bei meinen beiden Nachtrunden in der Dunkelheit bietet sich hier die Möglichkeit, nach der langen Schussfahrt etwas durchzuatmen - Andere überholen mich hier, aber ich weiß, dass ich hier mehr Kraft vergeude, wenn ich powern würde. Da hole ich in einer superschnellen Abfahrt mehr Sekunden raus, als hier anstelle 30 vielleicht 32 km/h zu fahren.


Die letzten Abschnitte - bergab - folgen nach etwa einem Kilometer Geschlängel, der sich Ex-Mühle nennt. Noch einmal heißt es: Wegducken, klein machen im Wind und konzentriert bleiben. Nicht ganz so rasant, aber doch immerhin um die 70 km/h herum wird man schnell.

Kompliziert zu fahrende Kurvenkombinationen folgen - bis zu meiner letzten Runde treffe ich nur zwei mal (von 7) die Ideallinie hier und kann ohne zu bremsen durch die engen, scharfen und
nicht einzusehenden Kurven kommen. Wer hier sein Bike nicht beherrscht und - vor allem der letzten, harten Linkskurve der Ex-Mühle sich nicht in einer abfallenden, zumachenden Kurve, die noch dazu nicht einsehbar ist, hart in die Kurve legt, verliert einige Sekunden - eine weitere Schlüsselstelle.

Hier überhole ich viele Andere. Und werde von vielen Anderen überholt, wenn ich selbst Fehler mache.

Kilometer 11 der Strecke ist erreicht.

Von jetzt ab geht es bergauf.

Helm ab zum Gebet!


Wir haben den tiefsten Punkt unter der Nürburg erreicht. Nach der Ex-Mühle geht es ebenerdig einige hundert Meter in einer lang gezogenen Rechtskurve durch dichten Tannenwald. Hier trete ich noch einmal rein - dies ist die letzte Chance noch einmal 30 km/h zu erreichen, bevor gleich das große Sterben beginnt.

Im Bergwerk (ich weiß, oben in der Grafik ist ein Tippfehler) zieht es erstmals an. Nicht viel. Aber spürbar - speedverwöhnt, wie wir noch ganz besoffen vor km/h aus dem Fuchsbau mit roten Bäckchen hier ankommen, ein Schlag ins Gesicht.

Hier lassen die ersten ihre Schultern hängen - allenthalben nehmen sie Speed raus, viele schalten schonmal aufs kleine Blatt. Dreifachkurbler auf das kleinste. So schnell aber gebe ich nicht auf.


Bergwerk geschafft. Nun eröffnet sich vor uns die "Grüne Hölle". Hier, hier im "Kesselchen" muss der Name geboren sein. Es gibt keine andere Erklärung: Wir fahren auf dem Boden eines tief eingeschnittenen V-Tals. Neben uns ragen mächtige, mächtige Berghänge steil, fast senkrecht auf. Dicht bewachsen mit dunklen, erhabenen, duftenden Tannen. Ein Meer aus Grün - Mauern aus Grün.

Das Kesselchen ist eine lange Linkskurve, schon zieht die Steigung an. 4 Prozent, bald 6 Prozent. Ein Kilometer lang senkt sich bei allen die Geschwindigkeit. Das Kesselchen bremst selbst die stärksten, diejenigen, die sich noch im Bergwerk geweigert haben, runterzuschalten, aus.
Auch mich.

Im Klostertal zieht es noch weiter an, bevor es richtig kriminell wird.


Eine harte Linkskurve, hier mögen es nun gut und gerne 9, 10 Prozent Steigung sein. Viele keuchen, alle, wirklich alle fahren nun im kleinsten Gang. Auch ich.

Da ich gerade die Tour de France in den Knochen habe, macht mir die Steigung sogar Spaß. Ich komme mir pervers vor.
9, 10 Prozent, das ist der Tourmalet. Die meisten anderen hier haben keine Augen für das, was neben, hinter oder vor ihnen passiert. Sie beißen sich hier hoch.

Die Dreifachkurbler sehen affig aus, wie sie mit 100 Umdrehungen pro Minute auch nur 7 km/h hinbekommen. Die meisten überhole ich - erstaunlich, wenn mich andere überholen: Teilweise sind hier Leute mit einem Speed in der Steigung unterwegs, der mich zweifeln lässt.


So windet sich die Karawane der Verzweifelten - vor allem in der sängenden Nachmittagssonne, die das Kesselchen aufheizt wie selbigen - nach oben.

Als ich hier im Dunklen fahre, ein erhebender Anblick: Vor mir zuckelt sich in fast nicht wahrnehmbarer Geschwindigkeit, wie einem riesigen Lindwurm gleich, eine Schlange aus roten Rücklichtern nach oben. Fast sieht es in der Dunkelheit Furcht erregender aus, als am Tage: So steil ist das?

Ja, es ist!

In der Steilkurve des Caracciola-Karussells wird es kurzzeitig flach. Jetzt heißt es Zähne zusammenbeißen!


Denn wer die Kurve unten nimmt ("Nur die Loser fahren oben!" steht auf der Strecke als Graffito) kann auf über 20 km/h beschleunigen, was nach dem Kriechen mit 7, 8 km/h im Kesselchen wie Warpgeschwindigkeit anmutet, der kann das folgende seichte Bergabstück mit richtig viel Geschwindigkeit nehmen: Die ersten meiner Runden schaffe ich es sogar, die ein, zweihundert Meter auf das große Blatt zu schalten - wichtig, denn was nun kommt, ist einfach nur brutal.

Wir bleiben förmlich drin stecken.
Es geht ein Raunen durchs Feld.
Die meisten schalten sofort freiwillig aufs kleine Blatt, wählen das größte Ritzel.
Gegenwehr unmöglich: Das hier ist die Hohe Acht!

Naja, noch nicht ganz.


Zunächst geht es erst einmal nur hart bergan. Es sind rund 500 Meter bei, ich schätze mal, 12, 13 Prozent Steigung. Für viele schon zu viel: Die ersten klicken sich hier aus, viele sehe ich auf dem Grünstreifen liegen und nach Luft japsen.

Ich probiere im Laufe meiner 7 Runden hier jede Linie aus: Innen, außen, Mitte, mal mit Windschatten, mal ohne: Hier ists immer Scheiße! Egal wie man fährt. Hier gibts nur eins: Hoch da!

Eine leichte Linkskurve - in der Kurve wirds kurzzeitig mal 15 Prozent steil (mein Waseberg lässt grüßen) dann gehts mit besagten 13 Prozent weiter, geradeaus. Die meisten sind so angestrengt, dass sie es nicht schaffen, ihren Kopf nach oben zu heben. Vielleicht auch besser so, denn sie müssten ihn schon sehr weit in den Nacken legen, um zu erkennen, was da nach diesen 900 Metern bei 13 Prozent auf sie wartet - denn jetzt erst kommt die Hohe Acht.

Es sind rund 500, 600 Meter mit wehtuenden 18 Prozent Steigung!

Eine Mauer. Es knarzen die Tretlager. Ich muss mich mit aller Macht auf die Pedale wuchten, mich hier hochzustemmen. Carbonfasern werden an ihre äußerste Grenze getrieben, Lungenflügel hängen heraus, es keuchen die Rennradler, man kommt sich vor wie auf der Inneren, Schweiß spritzt nur so aus den Poren, Augen treten aus ihren Höhlen und Zungen hängen blau aus den Hälsen - die Hohe Acht ist ein Killer!

Das erste Mal sagte ich mir "Oha, geil ...!"
Das zweite Mal: "Oh man ... krass."
Beim dritten Mal: "Scheiße ..."
Und dann sagte ich gar nichts mehr - bin nur noch froh, oben anzukommen.

Bereits bei meiner dritten Runde (also nach ca. 6 Stunden Renndauer) sind hier etwa die Hälfte aller Rennradler schiebend zu Fuß unterwegs.


Nach der Hohen Acht ist das Schlimmste geschafft. Hier oben haben sie direkt eine Verpflegungsstatiuon aufgebaut - bei der ich nicht ein einziges Mal halte - wo sich die Abgekämpften mit Powerdrinks und Bananen wieder wachschießen können.

Hier nun folgt eine rasante Abfahrt - nach den Anstrengungen und der Langsamkeit im Anstieg eine Umstellung, denn man muss sich zusammenreißen und hart auf die Strecke konzentrieren. Dann folgen einige schöne Kurvenkombinationen und die emotionalste Stelle, wie ich finde, der Strecke: Das Brünnchen.

Hier ist die Straße so voll und so bunt wie nirgendwo sonst auf der gesamten Nordschleife: Es geht mit 65, 70 km/h bergab, dann, in der Talsohle fast 90 Grad nach rechts und gleich wieder bergan: In der Nacht steht hier ein riesiger THW-Strahler. Im Speed (und da man eh nur noch Sternchen sieht vom Anstieg) hat man hier das Gefühl, als säße man in der Enterprise ganz vorn und schalte auf Warp - die Farben schießen nur so an einem vorbei - beim Abtauchen meint man, geradeaus in den dunklen Wald zu schießen, dann presst es einen in den Sattel, und man drückt sich durch die Kurve. Einfach genial!


Über den Hügel polken - ein paar mal schaffe ich das auf dem großen Blatt, zum Schluss rolle ich nur noch - und dann folgt die zweite, nicht mehr ganz so steile Steilkurve.

Es geht durch Pflanzgarten und hinauf zum Schwalbenschwanz, wo sie alle noch einmal unter den 6 bis 8 Prozent Steigung zu leiden haben. Die vorletzte Rampe, nochmal runter aufs kleine Blatt, nochmal abmühen.


Die meisten sind gedrückt, fahren halb überm Lenker zusammengebrochen - die Nordschleife hat sie geschafft. Dabei kommt jetzt noch der letzte Hammer: Die lange Gerade!

Es geht zunächst leicht bergan, wer sich umdreht, der kann auf den Schwalbenschwanz und das Geschlängel unter sich zurück blicken, eine tolle Aussicht!


Doch nun wirds anstrengend: Von der Döttinger Höhe geht es nun fast 3 Kilometer schnurgeradewegs zurück zur Grand Prix-Strecke. Erst einmal seicht bergab. Übermütige (wie ich in meinen ersten Runden) treten nun mächtig rein. Immerhin kann man vorne, da ganz weit entfernt, schon die Formel-1-Tribünen erkennen!

Später weiß ich es besser, schalte lieber einen Gang runter und suche mir eine Gruppe. Anfangs beteilige ich mich noch am Arbeiten im Wind. Später dann, nachts und vor allem bei meinen letzten beiden Runden, kommt zu allem Überfluss noch Gegenwind - da verstecke ich mich ganz hinten und lasse mich ziehen.

Ist auch so noch schwer genug: Ab Höhe Meuspath geht es bergan. Nicht viel, 1, 2 Prozent vielleicht, aber selbst auf meiner ersten Runde, als ich noch frisch war, habe ich hier nicht mehr als 32 km/h geschafft. Zum Schluss gurke ich hier mit 26 km/h entlang.


Nachts gibt es hier noch einen Leckerbissen: Links neben uns, kurz, bevor die MTBler wieder von der Offroad- auf die Straßenstrecke mit unserer zusmmengeführt werden, kann man deren Track mit Fackeln beleuchtet im Abhang des Berges, der hoch zur Nürburg führt, erkennen: Ein wildes Zickzack!

Jedes Mal frage ich mich, wie verrückt die nur sein müssen, im Stockdunkeln 24 Stunden durch den Wald zu ballern!

Höhe Tiergarten vereinigen wir uns dann - hier steht der letzte ernst zu nehmende Anstieg der Strecke an: Es geht hinauf zur Anschlussstelle an den Grand Prix-Kurs. Ein letztes Mal kleinster Gang, ein letztes Mal aus dem Sattel gehen.

Dann, endlich: Vor uns liegt der Nürburgring!


Es ist gerade in der Nacht ein wahrlich erhebendes Gefühl, nach fast 50 Minuten in vollkommener Stille und absoluter Dunkelheit in einer grillenzirpenden Waldhölle in der Vertikalen nun wieder auf Bauwerke zu stoßen.
Licht!
Tribünen!
Menschen!

Noch vor Start/Ziel, in Höhe der ersten Tribünen, fummle ich dann das Funkgerät aus meiner Trikottasche. Das erste Mal sprechen seit einer Stunde: "SunClass, SunClass - Start. Und. Ziel!"

Rauschen.

Ich halte mir das Gerät ans Ohr. Am anderen Ende: Sarah.

"Alles klar, komm rein. Essen ist fertig!"

Grinsend schalte ich hoch: Adrenalin!


Keine 7, 8 Minuten später liege ich im Caravan.
Klamotten ausziehen. auslüften. Raus aus den Schuhen. Helm ab. Alles nass. Beine wie Pudding. Sprechen fast nicht möglich.

Während Sarah den Recovery-Drink mixt, sinke ich in die Koje.
25 Kilometer Nordschleife.

Beim ersten Mal eine Zitterpartie. Neugierig.

Beim zweiten Mal ein Angriff. Abenteurlustig.

Beim dritten Mal ein Rauschzustand. Abgehoben.

Beim siebten Mal ein Martyrium. Ausgebombt.


Von Heiko hat die Nordschleife schon nach dessen dritter Runde ihren Tribut gezollt. Er ist vollkommen ausgeknockt. Eine Kombination aus Überanstrengung, der verdammten Hitze und mangelndem Bergtrainig hat ihn nach nur 75 Gesamtkilometern auf den Mond geschossen.

"Er saß da, kreidebleich. War nicht anzusprechen.", berichtet mir Sarah, die Boxenmanagerin, hinterher.

Als ich zwei Runden hintereinander draußen bleibe, nach 1,5 Stunden Pause eine weitere fahre, bin auch ich so weit: Zwei Tote liegen im Caravan. Sarah und unserem Filmemacher Timo ergeht es nicht anders. Schlafen.


Uns ist vollkommen klar, wo die Fehler liegen. Zu wenig geschlafen am Freitag. Um ehrlich zu sein - gar nicht geschlafen am Freitag. Am Samstag auch nicht geruht und dann, nach Rennstart, viel zu hart ins Rennen gegangen. Übernommen.

Ich habe wenigstens noch den Vorteil, gut im Bergtraining zu sein.

Dabei hätte alles so gut funktionieren können: Wir waren bestens ausgestattet.


Ich hatte eine ausgefeilten Speiseplan erarbeitet, der uns abwechslungsreich sowohl mit Kohlenhydraten, als auch mit Vitaminen, Fruchtzuckern und Mineralien versorgt hat. Neben der klassischen Pasta hatten wir Baked Potatoes mit Lachs, eine Auswahl an Müslis mit frischem Obst, Bananen bis zum Umfallen, super Vollkornbrot mit Nutella und jede Menge Power-Gels, Power-Drinks, Recovery-Drinks und Koffein-Shots mit an Bord.

Und so war es am Ende auch: Mein Fazit ist, dass ich körperlich absolut leistungsfähig war. Nur die Müdigkeit, das Schlafdefizit des Freitags, konnte irgendwann auch nicht mehr der stärkste Kaffee ausgleichen.

Aber was hilft das Jammern?
Kalt abduschen - zurück auf die Strecke!


Es wartet ja noch das letzte Stück auf uns: Der Grand Prix-Kurs.

Die treibenden Beats des DJs, der in Start/Ziel Mucke auflegt und moderiert, lassen wir hinter uns und gehen in eine scharfe Rechtskurve. Hier beginnt schon das Fahrerlager. Einige halten an, andere gehen raus: Ab hier wieder aufpassen!


Leicht abschüssig geht es durch ein, zwei Kurvenkombinationen, ehe der zweite Teil des Fahrerlagers durchfahren wird. Hier finden sich viele der größeren Teams - ich erkenne Pirate Bikes aus Hamburg, einige gesponsorte Teams, die nicht in den F1-Boxen untergekommen sind und viele 4er-Teams.

Die Stimmung ist perfekt hier. Angesichts der Tatsache, dass ich auch gleich in der Box bin, gebe ich Gas.


Es geht nun leicht bergab, nicht sehr schnell, 60 km/h vielleicht, aber es ist wichtig, hier Momentum mitzunehmen und vielleicht einen Windschatten zu erwischen, denn der Gegenanstieg ist lang gezogen. Auch hier - nicht steil, aber nervig.

Nun, bergan, das dritte, das Hauptfahrerlager, in das wir einbiegen. Hier geht es nun in einer engen, lang gezogenen Rechtskurve auf die lange Boxengasse, an deren linker Seite auch mein Team SunClass geparkt hat.

Da sie wissen, dass ich komme, steht Heiko schon zur Transponderübergabe bereit.
Oder, anders herum, ich stehe bereit.


Anfangs hat der Ankommende dem Eingewechselten einfach die Flasche übergeben. Schon in Runde zwei aber fahren wir beide eine Zeit lang neben einander her und übergeben so im Fahren die Flasche - das spart Zeit. Und sieht geiler aus.

Welche Flasche?

Nun, der Transponder, mit dem die Offiziellen an drei Punkten unsere Runden abnehmen, ist an einer leeren Flasche befestigt. Viele andere, die diesen "Trick" nicht aus den RaR-Foren kennen, schnallen sich den Transponder tatsächlich noch umständlich um ihre Fersen.

Da man die 25 Kilometer locker mit einer einzigen Wasserflasche fahren kann, befestigen wir den Taktgeber an der zweiten, natürlich leeren Flasche und können so die Übergabe schneller gestalten. Wie bei einem Staffellauf.


Wie gern wäre ich dann am Morgen des Sonntag noch 2 Runden rausgegangen! Wir wussten schon, dass wir auf Platz 91 (am Ende gar 95 von 117) eine Scheißplatzierung haben würden, aber ich wollte es nicht bei den 13 Gesamtrunden belassen - und ich hatte die Beine!

Wie gern wäre ich noch einmal eine schnelle Runde gefahren - wie geil die Bilder beim Durchfahren der Boxengasse, ich habe sie schon stehen sehen, Sarah, Heiko und Timo, wie sie mir zujubeln, mich anfeuern, genauso, wie wir Heiko auf dessen letzter Runde angefeuert haben, und wie ich fertig, aber grinsend, genau 12:45 Uhr über die Ziellinie fahre, genau im Fenster um die letzte Runde zu Ende fahren zu dürfen und wie ich dann - sicher! - etwa eine Stunde später angekommen wäre!

Ich habe es mir genau ausgemalt. In den Minuten, als Heiko draußen war und ich mich angezogen habe. Sarah hätte die Flasche Veuve genommen, hätte sich die beiden Jungs geschnappt und sie wären zu Start/Ziel gekommen, wo ich die Arme in die Luft gerissen und geschrien hätte, 15 Runden für SunClass, nicht doll, aber immerhin, wenigstens nur 5 Runden hinter Plan, und ich, ich Lars hätte die letzten beiden für mein Konto verbuchen können - nachdem Heiko schon die Ehre hatte, starten zu können.

Aber nein.
Es regnet.
Heiko meldet reihenweise Stürze.
Der Notarzt fährt ständig mit Martinshorn.
Der ADAC-Rettungsheli fliegt.

Ich starte nicht mehr.


Selbst die Flasche Veuve schmeckt nicht mal halbsogut wie erhofft: Zu müde, zu fertig. Zu enttäuscht. Während Heiko duscht und schonmal seine Klamotten packt, stromern wir wie Halbtote im Atrium des Nürburgrings herum. Neben uns auch nur Halbtote.

Unten fahren die ersten schon nach Hause.

Ich bin untröstlich. Fühle mich als Verlierer. Gescheitert: Als Team. Und ich als Einzelfahrer.
Wirklich gescheitert?


Immerhin: Ich fahre 7 der 13 Runden für das Team. Immerhin: Ich bin in jeder Runde immer schneller als Heiko, der, der sonst so unschlagbar ist, der Triathlet, das Pokerface, der ohne die Miene zu verziehen einfach ein, zwei, vier Gänge hochschaltet und locker davon fährt.

Heute war es nicht sein Revier.

Was SunClass angeht - die Nordschleife ist Cervelover-Hoheitsgebiet!


Auf der Rückfahrt könnte man unseren Caravan als Leichenwagen bezeichnen: Selbst die Fahrer sind nur mit Mühe wach zu halten. Ich selbst liege komplett flach. Sinke in mir zusammen, die Müdigkeit übermannt mich. Geruckel bei 130 km/h auf schlechten Autobahnen? Kein Problem - ich schlafe wie ein Baby.

Schlafe.

Und träume. Von der tollen, tollen, tollen Stimmung. Von der best organisierten Rennrad-Jedermannveranstaltung, die ich je mitgemacht habe, träume von fast 100 km/h auf meinem Cervélo, von senkrechten Wänden, von grünen Monstern und rosa Lungenflügeln.

Rad am Ring?

Nächstes Jahr wieder! Und dann mit 20 Runden! Mindestens!


"Rad am Ring" 2011 gibt es als einstündige Rennrad-Doku vom Filmemacher Timo Albrecht - "PUNCHLINE - 24 Stunden Grüne Hölle" inkl. umfangreichem Bonusmaterial. Einfach hier bestellen: www.punchline-movie.de


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