22. Oktober 2010

Aero-Rahmen - was bringen sie wirklich?

Als ich das Zeitfahren Hamburg-Berlin bestreite, tritt mein Teamkollege Steven mit seinem Zeitfahr-Bike Cervélo P2 an. An sich eine kluge Wahl: Denn die 280 km lange Strecke ähnelt mit ihrem sehr flachen Profil eher einer Ironman-Raddistanz als einem klassischen Rennrad-Rennen.

Ich beobachte an Stevens Rad - im Vergleich zu meinem Cervélo R3 - eine logische, aber trotzdem faszinierende Sache: Er ist bei (anscheinend) gleicher Tretleistung schneller als ich, selbst wenn ich in Untenlenkerhaltung bin.

Wir testen das bei einer der wenigen Abfahrten - nahe der Elbe geht es einige Male halbwegs schnell 7-8%ige Rampen bergab. Steve geht in Zeitfahrtposition, ich in Sprinthaltung. Bis etwa 50 km/h sind wir gleich schnell. Dann muss ich reintreten - während er noch viel länger rollen kann. Und sogar weiter beschleunigt.

Klar - je höher der Speed desto größer der bremsende Anteil des Luftwiderstands. Als gestandener Liegeradfahrer weiß ich das nur zu gut. Aber das Steve so viel schneller wird, das hätte ich nicht gedacht.

Also, was hat das nun auf sich mit diesem Mega-Trend, der für 2011 (und mehr noch für 2012) viele neue Modelle und der Rennradbranche einen Verkaufsboom beschaffen wird? Canyon bietet schon länger widerstandsoptimierte Bikes an, das nagelneue Flasggschiff vob Bianchi - das superschicke Oltre - weist aero-Features auf, die Liste der Aero-Räder ist lang.
Und die Käufer: Lieben es!

Mein Hersteller Cervélo rühmt sich, Erfinder der Aero-Bikes zu sein. Und das S3 gilt auch als eines der leichtesten und schnellsten seiner Art. Generell sind Aero-Rahmen schwerer als die klassischen. Das liegt daran, dass abgeflachte Rohrquerschnitte, die aerodynamisch optimiert sind und Flügelprofile nachbilden, schmaler und daher verwindungsanfälliger sind, als rundere Querschnitte. Das muss durch mehr Material - und damit mehr Gewicht - wieder herausgeholt werden.

Der aktuelle Cervélo R5-Rahmen wiegt unter 780 Gramm.
Der des S3 ganze 975 Gramm.

Okay, okay, nun wollen wir mal keine Korinthen kacken - 200 Gramm Ersparnis?
Hier kommt auch der erste Kritikpunkt: Wer braucht ein Aero-Rennrad?

"Ausreißer, die vor dem Peloton herfahren - sogar Abstand gewinnen müssen - und jene 10 bis 20 Watt Ersparnis, die ein Aero-Rahmen bringt, bitter brauchen" - steht in den Fachmagazinen.

Okay. Ausreißer vom Peloton also. Und wir? Wir Normalos? Wie Cyclassics- und RTF-Fahrer?

Sicher. Wir brauchen kein Aero. In den Bereichen, in die wir vorstoßen, kommen wir kaum an die Grenzen, ab denen ein Widerstand-optimiertes Rennrad wirklich etwas bringt. Und vor einem Peloton fahren wir auch höchst selten her. Ich zumindest.

Aber hey: Wir sind Männer. Und Männer haben gern das Neueste. Das Beste. Das Teuerste. Spielzeuge eben. Rennradfahren ist Leidenschaft - und wo, wenn nicht beim Material beginnt diese Leidenschaft? So ein Neilpryde Rahmen zum Beispiel - ist das eine Stealth-Waffe? Ist das nicht einfach nur saugeil anzusehen?

So ein High-Tech-Monocoque-Super-Nanotech-Powerrahmen erfreut seinen stolzen Besitzer doch schon, wenn er einfach nur im Wohnzimmer steht. Wenn er schick und schnell aussieht und an verregneten Sonntagen blitzeblank geputzt wie ein Kunstwerk daher kommt.

Wenn man dann der (natürlich überaus interessierten) Freundin mit Stolz geschwellter Brust verkünden kann, dass dieser, genau dieser Rahmen den cw-Wert eines Formel-1-Autos hat, dann, tja, dann hat man DAS Argument, warum der gemeinsame Salsa-Tanzkurs leider doch wohl erst im nächsten Winter stattfinden kann ... wird sie verständnisvoll nicken, sich mit ihrem Manne freuen und sogleich eine neue passende Trägerhose shoppen gehen. Schön wärs.

Aber mal ehrlich: Brauchen tut das doch nur Hushhovd, Cavendish & Co.
Unsereiner ... brauchts eher für die Psyche. Und wenn ich dann das - meiner Meinung nach zurzeit spannendste Aero-Bike - Scott F01 sehe, dann geht mir einfach nur das Herz auf:

Quelle: Scott-Bikes
Kamm-Profile anstelle der 0/8/15-Flügelrofile, mal wirklich spannende Formen, trotzdem ein tolles Design: Einfach herrlich. Der Habenwollen-Druck bei diesem, wohl ab Frühling ´11 erhältlichen Superrenner ist fast schon als unwiderstehlich zu bezeichnen.

Tja. Und dann holt einen die Realität ein.

Aber Gottseidank ist die, was mich betrifft, alles andere als trist: Immerhin steht da mit dem Cervélo R3 zwar kein aero-optimiertes Rennrad, wohl aber eine richtig geile Fahrmaschine im Wohnzimmer.

Und darüber freut sich meine Freundin - tüüüürlich! - auch schon ganz schön ...

Ein schickes Wochenende Euch allen.



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5 Kommentare:

  1. Moin Lars,
    das schreit jetzt natürlich danach, dass Du demnächst mal das Rad deiner Holden vorstellst. Vielleicht in einem klassischen Vergleich mit deinem R3? Denke nur dran, die gemeinsamen Werte der liebenden Räder nicht zu vergessen;-)
    Schöne Grüße,
    Chris

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  2. Abfahrten sind am schlechtesten geignet, um aerodynamische Geschwindigkeitsvorteile festzustellen. Falls Steven schwerer ist als Du, wäre er bergab selbst mit dem gleichen Rad schneller. Das würde dann auch den beobachteteten deutlichen Unterschied erklären.

    white_speed

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  3. Hi, du hast dich schon mal als Liegeradkonsument geoutet, der gerade mal einen Reifen flicken kann und ansonsten gleich zum Fahrradmechaniker rennt, gilt wahrscheinlich auch fürs Rennrad. Mein Tipp: entwickle handwerkliche Fähigkeiten und bau dir dein eigenes Rad, dann liebst du es auch und jeder Erfolg damit zählt doppelt. Dann bist du auch nicht mehr von irgendwelchen an den Haaren herbeigezogenen Aero-Argumenten der Hersteller in ihren Hochglanzprospekten abhängig. Du müsstes ja genau wissen was Werbung so ist.

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  4. hi anonymer.

    nö, lass mal, ich werde nie zum schrauber werden und finde es auch weiterhin mehr als okay, wenn ich mein GELIEBTES rad den jungs übergebe, die spaß daran haben, ihre mechanischen fähigkeiten auszutoben.

    warum muss ich unbedingt schrauber werden???

    ich will fahren. basta.

    zweitens: was heißt hier "als liegeradkonsument GEOUTET"? verstehe ich nicht. ist doch nie ein geheimnis gewesen?

    naja. und dass ich "abhängig" wäre von prospekten der hersteller, siehst du leider falsch. verwechsle bitte technisches interesse und faszination nicht mit naiver leichtgläubigkeit.

    ja, ich komme selbst aus der webung - deshalb (siehe blogpost) hinterfrage ich das ja alles und stelle es sogar infrage.

    ach - und mein rad liebe ich auch so, da muss ich mir keins aufbauen.

    danke, dass du ein leser meines blogs bist. das freut mich, auch wenn du dich selbst nicht outest.

    L

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  5. Moin!
    Also Mensch - wat is den dette nu wida für ne Anmache?
    Stimme Lars da zu:
    Also, ich finde nicht, daß man sich als Liegeradfahrer outet - dies Meinung zeugt schon wieder von einer gewissen Intoleranz....
    Auch muß ja nicht jeder gleich zum Schrauber werden - oder?
    Übrigens bin auch ich immer von neuer toller Technik begeistert - da sind Lars und ich bestimmt nicht alleine!
    Ja, ich habe zwar schon Räder gebaut, aber ich liebe auch meine Selber gekauften!
    Aber ich sehe schon war ja sicherlich auch keineswegs ernst gemeint - könnte einem ja sonst auch LEID tun...

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