23. April 2013

Pazzo Bici - Wie ich eine italienische Rennlizenz bekam und (fast, ganz knapp) gegen einen Giro d´Italia-Veteran gewonnen habe.

Auch wenn jede Nation ihre eigenen Helden und Heldengeschichten des Radsports hat, so ist mir doch Italien die liebste von allen. Warum? Weil ich dieses Land, die Art und Weise wie hier das Rennrad Teil der Kultur und auch des Selbstverständnisses ist, einfach liebe.

Das Rennrad ist Teil Italiens - und doch, es sind diese süßen, kleinen Geschichten, die irgendwie nur hier passieren können, die dieses tolle Land noch liebenswerter machen.

Wie ich zu einer italienischen Rennlizenz kam.

Zum Beispiel kurz vor dem Start zum Gran Fondo Selle Italia Via del Sale, den ich mit meinen Teamkollegen Ines und Flow am 7. April bestritten habe. (Hier gehts zum Rennbericht)


Radrennen in Italien - ein Gran Fondo ist Rennradfreude pur!

Am Tag der Anreise - ein immer gleiches Programm - fahren wir zunächst straight vom Flughafen, in diesem Fall war das Venedig, sofort zur Akkreditierung. Hier dann immer das normale Prozedere: In den Starterlisten die Startnummern suchen, anstellen, einschreiben, Transpondermiete hinterlegen, Startbeutel kassieren. Go.

Anders in Cervia.

Wir sind nicht auf den Starterlisten.

Also am "Trouble Desk" angestellt. Hier spricht (wie immer) niemand englisch. Irgendwann holen wir mit Händen und Füßen einen Übersetzer herbei. Die Dame erklärt uns, dass bei diesem Gran Fondo nur Lizenzhalter zugelassen seien. Wir könnten gerne "einfach so mitfahren", aber ohne Transponder, ohne Nummer. Es tut ihr sichtlich Leid, als ich frage, wofür ich Anmeldegebühren bezahlt hätte, dass wir extra aus Deutschland angereist kämen und das wir sowas bisher bei noch keinem Gran Fondo hatten.

Aber es ist nichts zu machen: Ohne Lizenz kein Rennen!

Da Ines Halterin einer C-Lizenz des BDR ist, wird sie "nachgemeldet" (also ab jetzt immer die Buchungsbestätigungen mitbringen!).

Irgendwann kommt ein ältere Herr dazu. Er gehört der ACSI an - dem Dachverband der Offiziellen. Auch er sagt: Ohne Lizenz, kein Start.

Aber ... er hat da so eine Idee ...


Wie war das bei Asterix? Formular A-38 ...

Nach einigem Hin und Her lotst er uns in eine Ecke des Einschreibesaales und packt aus einem kleinen Köfferchen allerlei Formulare und Stempel aus. Flow flippt fast aus, als er dieses Mini-Amt im Anglerkoffer sieht und freut sich ein Loch in seinen Ast: Tatsächlich, wir unterschreiben wenig später Mitgliedsanträge und Beitrittserklärungen.

"Herzlichen Glückwunsch und willkommen im Club!", scheint er nach 15 Minuten Schreibarbeit, zig Stempeln, einigen Unterschriften, dem Buchstabieren unserer unaussprechlichen deutschen Namen und einer Jahresgebühr von 39 € pro Person zu sagen.


Italien hat zwei neue Lizenzfahrer ...

Na siehste: Nun bekommen auch wir Transponder und Starternummern, fahren am nächsten Tag den Gran Fondo mit und haben Spaß in der Emilia Romagna, der Heimat Marco Pantanis und einiger anderer unvergessener aktiver und alter Radsportstars und -legenden.

Und in meiner Brieftasche? Da trage ich nun eine waschechte italienische Rennlizenz mit mir herum. Kein Hazzle mehr bei Dieci Colli, Nove Colli oder Milano-San Remo. (Nicht zu verwechseln allerdings mit der deutschen A/B/C-Lizenz).

Nur eines, das macht mich am Ende stutzig: Als ich mir die Ergebnislisten des Gran Fondo downloade lese ich, wie mein neuer Verein denn nun heißt.

Club 88.

Ein Scherzle, den sie sich mit uns Deutschen erlauben? Na, muss ja niemand wissen ...

Beim Bike-Blogger-Wochenende der Rimini Bike Hotels

Eine Woche nach diesem Gran Fondo fliege ich wieder runter an die Adria. Diesmal folge ich der Einladung der Tourismusbehörde der Emilia Romagna sowie der Initiative der Rimini Bike Hotels.

Es sind um die 20 Journalisten, einige Bike-Blogger, Mountainbiker und Lifestyle-Journalisten eingeladen. Ich bin einer von ihnen, zusammen mit Lukas von rennradblog.ch und Felix von hikeanbike (die ich schon aus dem Netz her kenne) und einigen anderen, die ich noch nicht kannte, die für die Blogger-Szene stehen.

Wir haben tolle Zimmer im nagelneu renovierten Hotel Oxygen und werden an zwei Tagen von einem lokalen Rennrad-Club ins Hinterland Riminis zu Touren eingeladen.


Die Blogger-Crew vor der Abfahrt: Bunter, toller Haufen!

Rimini hat Probleme. Mit dem Party-Image. Der Krise. Der ausufernden Bebauung aus den Siebzigerboomjahren. Mit Mallorca. Viele Probleme. Vor Ort haben sich deshalb einige Hotelchefs zusammen gesetzt und überlegt, was man tun könne dagegen.
"Was können wir gut?"
"Wofür stehen wir persönlich?"
"Was ist unsere Leidenschaft" Oder auch: "Was verbindet uns?"

Es war die Liebe zum Rennrad und den Radsport, die das Projekt Rimini Bike Hotels ins Leben gerufen hat. Es sind eine handvoll Hotels, die hochwertige Trainingslager, geführte Rennrad- und MTB-Touren, Promi-Ausfahrten oder ganze Race-Wochenenden oder Familien-Trips anbieten. Für jeden Zweirad-Enthusiasten soll etwas dabei sein.

Und wir sind die ersten, denen sie das zeigen wollen.

Was mich beeindruckt: Kein Zwang, keine vorgefertigten Moderationspläne oder Pressemappen. Kein Verkaufsgelaber oder PR-Scheiß. Wir bekommen die Chefs nur kurz zu sehen - um uns kümmern werden sich waschechte Rennradler. Mit Leib, viel Seele und einer Menge Leidenschaft.

Wie ich einmal (fast, aber wirklich ganz knapp nur! Nicht.) einen Giro-Veteranen abgezockt habe.

Am Morgen der ersten Tour sammeln wir uns vor dem Hotel, die Herren und Damen Blogger und Journalisten sowie ein paar lokale Rennradler. Unsere Scouts.

Und hier entdecke ich ihn ...


Anmutig schon im Stehen: Primos Cerin.

Er hat Waden wie aus Elfenbein, eine Haltung wie fürs Rennrad geklont. Ist auf einem geschniegelten Pinarello Dogma positioniert, bewegt sich auf dem Rad, als habe er nie etwas anderes getan. Strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, ist dabei selbstsicher und gleichzeitig so authentisch, so sympathisch und bescheiden.

Man tuschelt und mauschelt: "Das ist er ..." und "Wow, krasser Typ ..."

Es ist Primos Cerin. Er ist zusammen mit einer etwa 5 Mann starken Journalisten-Fraktion aus dem benachbarten Slowenien, Lubljana, angereist. Ein bekannter Mann, auch heute noch, unter denen, die wissen, wer er ist. Da ich ihn nicht kenne, lasse ich es mir erklären.


Primos fährt u.A. für das Carrera-Team (Pics: dewielersite.net)

Primos, der "andere Primos" in der lustigen Slowenengruppe, erklärt mir beim lockeren Einrollen aus Rimini heraus (wir wollen natürlich in die Berge), wen wir da in unserer Gruppe haben.

"Primos war im Team Carrera Stagiare und später Gregario von Legenden wie Claudia Chiapucchi (mit dem man bei den Rimini Bike Hotels übrigens eine dieser Promi-Ausfahrten buchen kann) oder Stephen Roche, dem späteren einzigen Tour de France-Gewinner Irlands.

Cerin hat für das damalige Yugoslawien an den Olympischen Spielen von LA teilgenommen und wurde im Straßenrennen 35ter, im Zeitfahren 9ter. Er nahm drei Mal am Giro d´Italia als Helfer Teil, musste zwei Mal nach Sturz ausscheiden, finishete aber ein mal auf dem 14ten Platz. "Zwei oder drei Teilnahmen bei der Tour", erzählt Primos, bestes Ergebnis irgendwas um Platz 30."

"An den hänge ich mich ran!", schwöre ich mir und arbeite mich im Feld vor.


Die Emilia Romagna - geiles Italien!

Ich kann diesmal, da das Wetter endlich mal dem Begriff "mediterran" gerecht wird, meine Blicke in die tolle Landschaft der Emilia Romagna streifen lassen, kann mich umsehen, den Frühling, die Blüten und ersten Düfte einer aufplatzenden Natur genießen - nachdem es beim GF Selle Italia nur nebelig und regnerisch war - aber eigentlich habe ich nur Augen für Primos.

Wie wird er in der Steigung fahren? Und: Kann ich seinem Antritt folgen?


Erster Berg - erster Antritt: Ich vorn. Aber Primos ist schon weg.

Bereits in den ersten Bergaufstücken bin ich ganz vorn dabei: Knapp versetzt hinter Primos, neben mir meist einer der anderen Slowenen, dahinter dann Robert vom niederländischen Rennradreise-Anbieter Tour de Vacance.

Manchmal, wenn wir an Ampeln halten müssen, beschaue ich mir die Waden von Primos: Reine Kraftpakete aus festen Muskelfasern, kein Gramm Fett, keine geplatzten Adern, perfekt rasiert, perfekt gestylt.

Wahnsinn, der Mann ist 51 Jahre alt!


Mit 50 noch sone Beine haben. Auch Männer können träumen.

Dann im Berg, sein Antritt: Nachdem ich mich kurz an die Spitze und absetzen kann, viel zu früh natürlich und viel zu schnell, zieht er einfach an mir vorbei. Er geht nicht einmal aus dem Sattel, er beschleunigt einfach so. Im Sitzen
Keine Bewegung im Oberkörper, kein Knarzen von unter der Last der Wattzahlen ächzender Pedale und leidender Cleats, kein Schnaufen, keine Luftstöße aus offenem Mund. Nur kräftige Tritte.

Großes Blatt. Er biegt um die Kurve und ist weg. Puff.


Die Normalos rackern sich ab ...

Wir fahren eine wunderbare Tour ins bergige Hinterland von Rimini, etwas nördlich an San Remo vorbei, in die Berge. Andrea, unser Scout, will uns San Leo zeigen. Ein schroffer, großer, schlanker Bergfelsen, auf dessen Gipfel ein kleines Bergdörfchen mitsamt Cappuccino-Bar zum Verweilen einlädt.

Die Fahrt dorthin ist freilich mit einem rund 8 Kilometer langen Anstieg - Teil der Dieci Colli-Strecke - gespickt. Den Felsen immer im Blick machen wir uns daran, den Aufstieg zu meistern.


Wildromantisch: San Leo

Wieder bringe ich mich in eine gute Ausgangsposition: Primos vor mir, sein Hinterrad genau im Blick. Ich weiß, dass ich keinerlei Chance habe, aber ich möchte diesmal wenigstens versuchen, seinen - ohne jeden Zweifel bald stattfindenden - Antritt mitzugehen. Und wenn das nur für ein paar Meter sein wird.

Wieder wird es ruhig im kleinen Feld. Wir reihen uns wie Perlenketten auf. Jeder zerrt und reißt am Lenker. 8, 7 km/h, dann 6 - es wird steil.

Wann geht er?


Antritt Primos. Großes Blatt. Zero Chance.

"Er hat aufgehört mit 25 Jahren", hatte mir einer der Slowenen über Primos erzählt: "Als er anfangen sollte, Substanzen zu nehmen. Er hätte ein Star werden können - hatte sich den Respekt der Italiener erarbeitet. Aber er machte Schluss, als die Nadeln ins Spiel kamen." Was für Stories muss er erzählen können?

Die Landschaft ist beeindruckend. Hier, im Herzen der Emilia Romagna, ist es so gar nicht mehr Rimini, Strand und tausend Sonnenschirmen - hier fahren wir unberührte kleine Sträßchen, kaum Verkehr - Rennradgebiet pur!


Hinter diesem Torbogen Endanstieg: 15% und Kopfsteinpflaster. Geil!

Irgendwann schießt einer der anderen Slowenen an mir vorbei. Er hat das große Blatt drauf, es ist eines der ewtas flacheren Stücke - ich werde aus meinem Tagtraum gerissen, der Rhythmus des Kletterns jäh unterbrochen. Primos, der sowieso auf dem Großen fährt, pariert sofort, geht aus dem Sattel und braucht nur wenige Tritte - beeindruckend! - um zu seinem Kollegen aufzuschließen.

Wie Ruderern gleich, ein paar kräftige Züge, und ich sehe die beiden um die Wette fahren. Schon zu weit entfernt. Lichtschnell. Nach wenigen Sekunden schon eine Serpentine über mir. Ah, so schnell geht das also bei Leuten, die es können.

Ich mache leise "wow" und schaue in die Landschaft. 36-27 liegt auf. Auch nett.


Langsam fängt es an zu blühen ... wundervoll.

Irgendwie packt uns Rest dann doch der Ehrgeiz: Lukas vom rennradblog.ch und Robert, der Holländer, dem man seine Leistung nun mal gar nicht ansieht, treten rein, gehen an mir vorbei. Sie haben eine der Sloweninnen im Schlepptau. Ich hänge mich ran.

Jäh steigt das Tempo. Vorne zieht Lukas einfach davon. Robert, die Dame und ich bleiben zusammen. Bis kurz vor dem Gipfel auch Rob anzieht. Auf und davon. Zwischendurch zischt noch Andrea an uns vorbei - ein Wahnsinnskerl! Er wird einige Augenblicke vor uns ankommen.

Als ich dann zusammen mit der Dame in San Leo die letzten - mittelalterliches Kopfsteinpflaster" - 15 %-Rampen emporächze, stehen Sie oben und feuern uns an. Wenig abseits: Primos. Gelangweilt. Immer dieses Warten ...


Heute 1.200 hm gemacht. Endlich wieder in der Sonne schwitzen!

Auch die zweite Tour - etwas kürzer leider, da wir am selben Tag noch abreisen und zum Flieger müssen - führt uns ins bergige Hinterland Riminis. Wir werden den Monteleone befahren, einen schönen Berg, die in die Abfahrt bei Sorrivoli mündet.

Andrea wird mir im Ziel - wieder ein unfassbar idyllisches Bergdörfchen mit Cappuccino-Bar und Burganlage - erzählen, dass hier auf der kommenden Abfahrt jene 3 Kilometer berühmte Steigung war, an der Ricardo Ricco 2008 eine denkwürdige Attacke im Giro setzen konnte.

3 Kilometer bei konstant 18 %.

Schon die Abfahrt alleine macht mir Angst: Kopfüber mit gezogener Handbremse. Bergauf hier - nach wieviel Kilometern Anfahrt? - ein Ding schierer Unmöglichkeit.


Schnacken mit einem waschechten Halb-Profi und Rennrad-Journalisten: Andrea.

Es ist so entspannt hier, so geradezu atypisch deutsch - und so traumhaft italienisch. Jetzt merke ich, was "Rennrad" und jenes überspannte Idiom vom "Dolce Vita" wirklich bedeuten.

Die Jungs und Mädels hier lieben das Rennradfahren, sie lieben es, weil es sie ihrer wunderschönen Heimat nahe bringt, weil es sie gesund hält, weil sie hier ihre Freunde treffen, sich in gesunder Konkurrenz aneinander messen können. Weil es ihre Väter und Großväter auch schon so taten.

Und weil es schlicht und einfach der tollste Sport der Welt ist.


Felix und Rob: Sonnetanken und verschnaufen.

Der Endspurt wird - dank der nicht ganz so ernst gemeinten Stichelei einiger Blogger (nicht wahr,  Felix? :) zu einem Wettkampf der Nationen. "Die Blogger gegen die Italiener!", heißt es zum Schluss, nachdem wir Deutschen einsehen, dass wir sowohl gegen Holland als auch die Schweiz keine Chance haben.

Den ersten Anstieg gewinne ich. Ein Pyrrhussieg, denn dieser erste Berg zählt nicht. Dann, hinauf zum Monteleone, legen wir uns ins Zeug. Felix stürmt vorneweg. Ich mache den Fehler eines zu schnellen Antritts nicht und bleibe bei den Italienern. Solange die schnattern, ist alles okay.

In einem etwas flacheren Stück kann ich mich endlich absetzen und mich langsam zu Felix vorarbeiten, der nun schon auf dem letzten Loch pfeift. Ich überhole ihn und führe. Allerdings nicht lange: Andrea und seine Kollegin zockem mich spielend leicht ab. Dann Robert.

Aber ich werde fünfter im Ziel und bin glücklich: Endlich mal vor dem Lukas, unserer Schweizer Bergsau!


Sub 10-Ötztaler- und Iron Man-Finisher: Starker Lukas!

Beim Ziel-Cappuccino oben auf dem Berg frage ich ihn - etwas Triumph liegt in meiner Stimme - was denn los sei."Gestern sone Superzeit, und heute ganz hinten im Feld?" Verausgabt etwa?

"Nein, nein", antwortet er mit einem Toblerone-Lächeln schwitzelnd: "Ich bin zur Übung das Ding auf dem großen Blatt gefahren ..."

Ah. So. Mmh. Na, das wollte ich zu erst auch. Aber Du weißt ja, die Pflicht. Und so ...


Ist eigentlich andere Pässe gewöhnt, fühlt sich hier aber auch wohl.

Es sind wundervolle Tage hier. Wir genießen es, uns einfach nur auf das Rennrad und die tolle Landschaft konzentrieren zu müssen. Wir werden nicht vollgelabert von PR-Profis, die sich die Blogger zunutze machen wollen. Gastfreundschaft, Authentizität und viel Spaß an der Sache.

So auch, als wir auf der Rückfahrt bei Cicli Matteoni - einem Rennrad-Laden - anhalten. Hier hat die Frau eines unserer deutschen Guides, Ole Rohwer, den Laden extra für uns geöffnet und zusammen mit einer Kollegin ein fantastisches, kleines Büfett mit Kuchen und Salzigem, Gebäck und Brötchen, allerlei kalten Getränken und - natürlich - einer Espressomaschine aufgebaut. genial.


Geiler Rennradladen vor Rimini - Cicli Matteoni

So können wir Blogger - natürlich etwas voreingenommen von diesem tollen Wochenende an der Adria, der ersten richtigen Sonne über 20 Grad in diesem Jahr - nur Gutes von den Rimini Bike Hotels berichten: Schief angeguckt wird man hier sicher nicht, will man das Rennrad im eigenen Zimmer beschützt wissen.

Tolle, spannende, anspruchsvolle Touren und Trainingseinheiten im Hinterland sind nach nur 15 Kilometern Anfahrt durch die küstennahe Ebene jederzeit möglich - steil wird es bei San Marino, was wir am ersten Tag zu spüren bekamen, bis hin zum "Mi Basta!"-Berg Pantanis oder der irren Steigung bei Sorrivoli.


Hier geht es zu den Garmin-Daten der ersten Tour.

Auch die zweite, leider etwas kurze Tour, bringt uns in die Berge der Emilia Romagna - sicher, das hier sind nicht die Alpen, aber gerade, um im Frühling auf Touren zu kommen, für ein Trainingslager und Ausritten bis 1.500 hm (und durchaus extremen Gradienten!) eignet sich die Gegend ganz hervorragend: Ruhige Straßen (von allerdings vor allem an der Küste teilweise fragwürdiger Belag-Qualität), aufmerksamer Verkehr und einer so dichten Besiedelung, dass man keine Angst vor leeren Trinkflaschen oder Pannen haben muss - ein perfektes Trainingsrevier!

Hier geht es zu den Garmin-Daten der zweiten Tour nach Monteleone.


Am Ende schießt unser Verband wieder zurück nach Rimini, und wir spüren es im Feld: Wer wird den Sprint gewinnen? Vorne zieht Felix auf einmal das Tempo an, Primos (der "andere" Primos) und sein slowenischer Kollege geben Gas. Ich hechte hinterher und das hohe Tempo auf den letzten 15 Kilometern gut im Windschatten verbringen: Gut gemacht, Felix, fahr mal schön alle kaputt.

Andrea und ein weiterer Scout setzen sich an die Spitze, sie drosseln das Tempo in der Innenstadt Riminis - wahrscheinlich (sicher sogar!) haben sie etwas Angst vor unserem Elan. So lungere ich an Position 5 herum, immer bereit, sofort loszusprinten, wenn einer angreift.

Und siehe da: In der letzten Kurve gehe ich raus, ergreife meine Chance und kann sie alle überraschend abzocken: Doch noch gewonnen ... :)


Tolle Crew: Am Ende gewinnen die Deutschen.

Ich sage ein dickes Grazie Mille an die Rimini Bike Hotels für ein fantastisches Wochenende, an Nicholas Montemaggi, an Andrea & das Team von Cicli Matteoni - Ihr habt uns mit Eurer unverfälschten Gastfreundschaft und Eurer ehrlichen Leidenschaft beeindruckt!

Danke auch an die Jungs und Mädels der bloggenden Szene - es war mir ein großer Spaß, Euch alle mal kennen zu lernen und mit und neben (und hinter) Euch Rennrad zu fahren. Sehr geil.

Tja, so ist das eben, in Bella Italia, dem Land, in dem Rennradfahren am meisten Spaß macht: Alles ein bisschen Pazzo eben ... und das im besten Sinne des Wortes.

Und so freue ich mich über meine echte italienische Rennlizenz, die ich spätestens am 1.5. zum Gran Fondo Dieci Colli - ganz in der Nähe - wieder vorzeigen werde und darüber, dass ich mal ganz knapp und wirklich ohne Übertreibung nur um Klitze-klatze-Haaresbreite einen waschechten Giro d´Italia-Profi abgezockt habe.

Schöner Sport!

18. April 2013

2 Fahrer - 2 Rennen: Was beeinflusst den Rennverlauf? Beim Gran Fondo Selle Italia 2013.

Was ist es, dass unsere Rennen, RTFs oder Trainingssessions so massiv beeinflusst? Warum kommt der Eine beim Ortsschildsprint so wahnsinnig weit vor dem Anderen an? Warum wartet der Nächste nach dem Renneinsatz schon wohlriechend, geduscht und fertig geschniegelt im Zimmer, während wir uns noch auf den letzten Kilometern abnutzen?

Sicher: Die körperliche Grunddisposition, der Fitnessgrad zum Zeitpunkt der Belastung und auch viel Rennglück (oder -pech) spielen eine wichtige Rolle. Doch oft sind es auch unsere eigenen Entscheidungen, die unsere Performance maßgeblich beeinflussen.


Flow ist einer der krassesten Rennradfahrer, den ich kenne.

Erstmals habe ich die Möglichkeit, auf Garmin-GPS-Daten und die Herzfrequenz-Aufzeichnungen nicht nur von mir selbst, sondern auch die meines Teamkollegen Florian Ernst zugreifen zu können: Und zwar die vom Gran Fondo Selle Italia "Via del Sale", den wir für unser Team SunClass Solarmodule vor 2 Wochen gefahren sind.

Der Versuch einer Analyse.

Das Ergebnis möchte ich gleich vorweg nehmen: Flow wird eine fantastische Zeit gefahren sein und von über 3.700 Teilnehmern auf einem absolut genialen 902ten Platz landen. Ich dagegen (zusammen mit Ines, die noch einen super Sprint hinlegen wird), komme mehr als 30 Minuten nach Florian als 1.260er ins Ziel.

Aber hey: Flow ist einer der krassesten Rennrad-Fahrer, den ich kenne und vor allem nach seinem 14-tägigen Trainingslager auf Mallorca präsentiert er sich Anfang 2013 in einer blendenden Form. Das Ergebnis war also zu erwarten.


Am Start: Schon eine Idee, wie ich das Rennen gestalten will?

Und eben weil Florian ein so viel besserer Sportler ist, als ich, ist es mir immer wieder eine Freude, mich mit ihm an an ihm zu messen: Und ein umso geileres Gefühl, wenn ich es dann doch mal hinbekomme, besser als er zu sein. (Was ... ähm ... dann auch eher sehr selten ist)

So finden wir uns bei Sonnenschein (der erste dieses fiesen Winterfrühlings, den ich sehe) am Startort direkt an der Badepromenade des adriatischen Badeortes Cervia ein. Es geht ein rauer Wind von der See her, wir sind guter Dinge. Vor uns liegen 150 Kilometer, knapp 2.200 Höhenmeter, die sich auf 4 Berge verteilen.

Darunter die "Cima Pantani", der beliebte Rennrad-Profi war in dieser Region zuhause und wird hier noch immer sehr verehrt. Fast jeder Anstieg ist hier irgendwie der echte Pantani-Trainingsberg, an diesen des Gran Fondo Selle Italia werden wir ein Bergzeitfahren absolvieren

Entscheidung #1 - Die richtige Gruppe finden

Das Rennen wird halbwegs pünktlich gestartet und schon beginnt das, was wir von jedem Rennen in der Anfangsphase kennen: Jeder versucht nach vorn zu kommen, dort, wo sich die schnellen, die starken Fahrer zu Gruppen sammeln werden. Es herrscht wie immer - gerade auf den ersten Kilometern, die wir uns noch durch den Ort durch unzählige enge 90-Grad-Kurven schieben - eine immense Dynamik.

Italiener können Rennrad fahren, ich sehe keine Stürze, aber ab und zu kommt schon mal der Ellenbogen heraus oder blafft der Eine dem Anderen hinterher.

Flow trifft hier seine Entscheidung: Beherzt setzt er sich schon nach 2 Minuten von uns ab und arbeitet sich im wilden Gewusel an die linke Fahrbahnseite, gibt Gas und ist bald schon nicht mehr zu sehen. Ines und ich treffen eine andere Entscheidung: Wir verbleiben hier im Mittelfeld (auch hier wird schon sehr schnell gefahren).

Das Kalkül ist klar: Florian ist ein "Dieselmotor", er ist wie geschaffen für die Ebene, verfügt über immense Kraftreserven, aber eher niedrige Pulswerte. Zudem ist er ein schwerer Junge - die Berge liebt er nicht. Aus vielen Rennen mit ihm weiß ich, dass er am Berg, vor allem, wenn es dazu noch heiß wird, die Anstiege steil und sehr lang sind, seine Probleme bekommt: So wie bei der La Leggendaria 2012

Also versucht er, die ersten, leicht ansteigenden aber doch eher flachen 34 Kilometer Gas zu geben. Und das in einer der schnellen Gruppen vorn.

Was ihm seine Entscheidung bringt?
Split 1 nach dem Flachstück: Schnelle Gruppe = großer Vorsprung.

Am Fuße der ersten kleinen und später des ersten großen Berges kann Florian so bereits einen Vorsprung von 2 Minuten auf mich herausfahren. Seine schnelle Gruppe konnte so nach 40 Minuten bereits eine respektable Zeit vorlegen.

Denkt mal an Profirennen und Übertragungen bei Eurosport: 2 Minuten Vorsprung ist eine Welt!

Und diesen Rückstand habe ich mir eingefahren, meine Entscheidung eine andere war. Ich bin gut am Berg, eher ein Benziner mit Einspritzpumpe, gut im Beschleunigen, mag kleine, giftige Anstiege, komme sehr gut in langen, steilen und heißen Bergaufpartien zurecht. Deshalb pokere ich: Eher im Mittelfeld einen Rückstand einhandeln und schauen, dass ich das durch eine schnelle Kletterpartie wieder rausholen kann.


Das wird heute keine schönen Ausblicke in die Emilia Romagna geben ...

Das Wetter ist hier, etwas weiter im Inland, deutlich schlechter als noch an der Küste: Es liegt dichter, diesiger und nasskalter Nebel über der Emilia Romagna, man kann kaum weiter blicken als 400, 500 Meter. Es ist etwas kühler geworden, ich bin froh, doch lang-lang gewählt zu haben und im Gegenteil, bin eher genervt, nicht noch das lange Unterhemd anzuhaben.

Körperfett = 0%, Ihr wisst ...

Als es in die ersten kleinen Anstiege und später in den ersten großen Berg geht, denke ich noch einmal an das Flachstück zurück - wie viel schneller muss man sein, um knappe 2 Minuten Vorsprung herauszuholen?

Die Garmin-Daten beweisen es: Florian (grauer Graph) konnte mit fast konstant über 40 km/h diese ersten 34 Kilometer hinter sich bringen. Später wird er von einer eher unruhigen, unkoordinierten Gruppe sprechen und sich beklagen über die "unkalkulierbare" Fahrweise seiner Mitstreiter. Vielleicht ist das der Preis für die hohe Speed?

Ich jedenfalls fahre im ersten Abschnitt knapp unter 40 km/h Schnitt, stetig abnehmend. Für meine Verhältnisse schnell genug: Zwar gibt mir meine Gruppe gut Windschatten, das heißt aber nie, dass man sutsche mitrollen könnte. Im Gegenteil: Die Beschleunigungs-Arien nach den Kurven sind, je schneller die Gruppe unterwegs ist, sehr schmerzhaft und fressen Körner ohne Ende.

Nach dem ersten Split bin ich eigentlich zufrieden: Meine Entscheidung war richtig: Kräfte möglichst schonen durch eine Gruppe, deren Speed meinen Möglichkeiten angemessen ist. Nun geht es in den ersten Berg. Eigentlich meine Spezialität ...

Entscheidung #2 - Speed in der Vertikalen

Ich bin heute das erste Mal mit meiner nagelneuen Kompaktkurbel unterwegs und rechne mir allein deshalb eine etwas entspanntere Bergauf-Fahrt aus - oder eben eine etwas schnellere. Ich kann mich schon auf den ersten steileren Metern schnell von meiner Gruppe absetzen, kann leichten Fußes eine hohe Frequenz treten: Es läuft nach Plan!



Erster Berg des Gran Fondo: Ich gebe dann mal Gas.

Schnell wird es steil: Im Schnitt soll dieser Berg hier 6 Prozent haben mit Rampen bis 12 Prozent. Und das auf einer Länge von knapp 9 Kilometern bei 330 Höhenmetern Gewinn: Kein Stelvio oder Tourmalet, aber immerhin. Jedoch, ganz so vorteilhaft ist diese Topographie für mich dann doch nicht - dieser Anstieg könnte zu "flach" und darüber hinaus zu kurz für mich sein, um Flow zu erreichen.

9 Kilometer Länge - bei seiner Form tritt der das doch auf dem großen Blatt einfach unter sich weg ...



In der Steigung Mitstreiter überholen: Ein tolles Gefühl!

Ich selbst komme gut voran: Das Fahren mit der Kompakt ist eindeutig leichter, als noch mit der Heldenkurbel. Die leichteren Gänge erlauben höhere Trittfrequenzen, ich spare Kraft und kann sogar noch schneller klettern, als bisher.

16 bis 12 km/h bei den flacheren Abschnitten, 9, 10 km/h wenn es steil wird. Dazu viel entspannter Sitzen: früher haben mir die langen Aufstiege teilweise enorme Nackenprobleme bereitet, da ich mich immer wie der Glöckner von Notre Dame in die Kurbel "klemmen" musste - jetzt fühlt sich das viel flüssiger an.


Fast oben und kurz vor dem Ziel: Flow ist in Sichweite!

Ich kann Flow an einer Stelle des Anstieges über mir erkennen: Er scheint 2 Serpentinen Vorsprung zu haben. Und so trete ich noch mehr rein, gebe noch mehr Gas, drücke mir das erste Gel in den Mund und gehe nun noch öfter aus dem Sattel.

Zwar weiß ich zu diesem Zeitpunkt nichts von meinen 2 Minuten Rückstand, aber ich weiß, dass wenn man seinen "Gegner" erst einmal sieht, es dann umso leichter geht, ihn zu erreichen. Und so ziehe ich, haue rein, schalte auch öfter mal zwei Gänge nach oben um im Stehen noch schneller zu sein ...

.. es nützt aber nichts: Der Anstieg ist zu kurz, Flows Vorsprung zu lang und meine Form zu schlecht. Ich werde ihn nicht mehr einholen.

Schock: Er kann sogar im Anstieg noch Zeit rausholen!

Garmin sagt mir zuhause etwas anderes: Es war bestimmt nicht Florians Solartrikot, das ich da über mir erblickt habe. Konnte es gar nicht sein, denn als ich unser beider Kurven über einander lege muss ich geschockt feststellen, dass ich anders als gedacht eben doch nicht schneller war, als Flow.

Im Gegenteil, der Vorsprung meines Teamkollegen ist im Anstieg um weitere 3:20 Minuten angewachsen auf nun über 5 Minuten! Wow, was war hier denn los?!?

Meine Entscheidung, Gas zu geben, war sicher eine Gute - aber Florians Form ist Meilen von der meinen entfernt. Und so gelingt es ihm, mir sogar bei meiner Spezialdisziplin noch Zeit abzunehmen. Was nun?

Entscheidung #3 - Mehr Risiko in der Abfahrt!

Florian ist nicht nur ein Dieselmotor sondern ein begnadeter Abfahrer. Ich kenne ihn mittlerweile seit über 3 Jahren und bin mindestens 20 Rennen mit ihm gefahren, dazu unsere gemeinsame Tour de France über 10 der höchsten, steilsten und bekanntesten Berge und Pässe der Großen Schleife - inklusive der Abfahrten.

Und daher weiß ich: Dieser Mann ist schmerzbefreit!


Flow in der Abfahrt: Platz da!

Ich für meinen Teil fahre gern bergab. Sehr gern auch schnell. Und sehr sehr gern auch richtig schnell. Aber das nur, wenn ich das Risiko halbwegs kalkulieren kann: Guter, trockener Belag, kein Gegenverkehr oder wenigstens einsehbare Strecken, wenig Trubel um mich herum. Dann lasse ich gern rollen, dann knacke ich auch gern mal die 90 km/h-Grenze, wie beim Ötztaler Radmarathon 2012.

Hier, auf der ersten Abfahrt, sind die Verhältnisse zwar nicht perfekt, aber okay. Ich bilde mir noch immer ein, dass Florian irgendwo kurz vor mir sein müsste - und da ich weiß, dass er ein super Abfahrer ist, gehe ich davon aus, dass er, wenn ich nicht richtig Gas gebe, wieder Vorsprung ausbauen könne.

Also entscheide ich mich, etwas mehr Risiko zu gehen.
Und trete rein.


Keine lange, keine schnelle, aber eine sehr geile Abfahrt!

Sicher, 8, 9 Kilometer sind jetzt keine Welt, kaum zu vergleichen mit den fast 30 Minuten Achterbahnfahrt vom Pass des Timmelsjochs. Ich erreiche kaum die 70 km/h-Grenze, was sicher auch am Gegenwind und den vielen, kurz hintereinander angelegten Kurven liegt.

Und doch: Ich trete rein, beschleunige ungewohnt früh und hart, schneide mehrere Kurven teilweise abenteuerlich (kein Gegenverkehr hier) und überhole sogar Mitstreiter, was ungewöhnlich ist: Meine 61 Kilo Lebendgewicht sind eher hinderlich beim Abfahren. Flow´s 90 Kilo wirken dagegen wie ein Turbobooster ...

Lohnt sich meine harte Arbeit?

Kann sich sehen lassen: Kaum Zeit verloren.

Natürlich erreiche ich Florian nicht in der Abfahrt - der ist über 5 Minuten vor mir. Aber später sehe ich auf dem Garmin, dass meine Entscheidung eine richtige war: Denn hat mir Flow überraschenderweise in meiner Spezialdisziplin, dem Aufstieg, 3 Minuten abgenommen, kann er jetzt bei seiner Spezialdisziplin, der Abfahrt, wenigstens kaum mehr Boden gutmachen!

Ich handele mir "nur" weitere 40 Sekunden Rückstand ein, was ein Erfolg ist - normalerweise sind die Abfahrten die Momente, bei denen Flow sich seine Vorsprünge für die Anstiege erarbeitet.


Nächster Anstieg: Werde ich meinen Teamkollegen jetzt einholen können?

Kurz nach dem ersten Berg gehen wir in den zweiten, 10 Kilometer "Vorgeplänkel" bei 5 bis 8%, dann 10 Kilometer bei durchschnittlich 6% mit Spitzen bis 12% - mehr als 600 Höhenmeter insgesamt.

Ich kenne das Höhenprofil des Gran Fondo Selle Italia und - unwissend über Florians momentanen Vorsprung von um die 6 Minuten - gehe ja noch immer davon aus, dass er irgendwo knapp vor mir außer Sichtweite sein muss.

Entscheidung #4 - Wetterkapriolen

Eigentlich habe ich vor, jetzt wieder halbwegs Vollgas zu gehen, um ihn nun zu erreichen. Zwei Dinge werden mir aber einen Strich durch die Rechnung machen. Meine Blase und das Blasen des Windes.


Noch sieht das Wetter ganz gut aus ...

Der Anstieg macht mir Spaß - er ist mäßig steil und immer wieder zwingen richtig fiese kleine Abschnitte zu harter Arbeit im Stehen. Wieder ein Gel, wieder runterspülen mit viel Getränk. Und da merke ich es - nach fast 2:30 Stunden im Sattel werden meine Trinkvorräte langsam alle - und meine Blase immer voller.

Schmerzvoll drücke ich das Verlangen, einfach mal anzuhalten, beiseite und zwinge mich, weiterzufahren: Oben wird eine Verpflegung sein, dass weiß ich, das werde ich also kurz ranfahren, nachtanken und pinkeln.

Und das wird mindestens 4, 5 Minuten kosten. Meine Hoffnung: Florian könnte es nicht anders ergehen. So viel größer kann seine Supersportlerblase ja nun auch nicht sein ...

Dann setzt aber unvermittelt Regen ein. Es wird bitterkalt. Ich zittere, durchnässe immer mehr. Die Stimmung sinkt. Ein böses Omen: Ich performe gut bei Hitze, bin aber fantastisch schlecht bei Kälte. Langsam verändere ich meine Ziele: Flow zu erreichen gerät immer mehr in den Hintergrund. Jetzt heißt es, die Körner konservativ einzusetzen, eher zurückhaltend zu fahren und vor allem: Warm bleiben!

Die Werte aber am Ende zeigen, dass meine erste Annahme gar nicht so abwägig war:

Speed am zweiten Berg: Gar nicht so verschieden.

Zuhause analysiere ich, dass Florian - zwar noch immer schneller als ich unterwegs - auch so seine Schwierigkeiten mit dem Wetter gehabt haben muss. Zumindest, was die Speed-Kurve angeht, bewegen wir uns annähernd in den selben Leistungsbereichen.

Oben fülle ich meine Flaschen auf, pinkle in den Abhang und stürze mich sogleich in die Abfahrt, die ich teilweise sogar etwas schneller als mein Mitstreiter hinabrollen kann. Aber ich kann natürlich nicht wissen, dass Florian entgegen meiner Annahme, keine Pause hier gemacht haben wird. Er wird sich kurz das Büffet angucken - dann aber sofort weiter fahren, wo ich meine 2 Liter Energy Drink-Rückstände ins Weidegras gepresst habe.



Das Foto passt hier nicht, aber ich finde es ganz schön :-)

Am Ende den Anstieges, bei dem Ines, die sich weiter hinten im Feld befindet, noch mehr Probleme haben wird, denn sie wird länger noch dem kalten Regen und dem noch kälteren Wind ausgesetzt sein, werde ich weitere 5 Minuten Rückstand auf Flow bekommen (inklusive der Pinkelpause) und später in der Abfahrt - die ich aufgrund des nassen Asphaltes wieder eher sehr konservativ angehe, noch weiteren Vorsprung erlangen.

Am Boden des Tals angekommen, spüre ich, was ich zuhause schwarz auf weiß anhand der Garmin-Daten sehen werde: Flow ist nun uneinholbar!


11 Minuten Vorsprung: Das sind Lichtjahre im Radsport!

Langsam freunde ich mich mit der Idee an, dass es heute wohl nicht möglich sein wird, den Fußballspieler des FC St. Pauli 5te Herren einholen zu können. Meine taktischen Entscheidungen haben mir jetzt, da die Mitte des Rennens erreicht ist, keinen Erfolg bringen können.

Ich werde meine Strategie verändern. Verändern müssen: Vor mir liegen noch zwei Berge, davon der ultrasteile "Cima Pantani" samt Bergwertung. Und - gefürchtet - das flache Endstück zurück an die Küste.

Entscheidung #5 - Form einwecken

Schon in der Abfahrt im Regen des zweiten Berges gelange ich an meine Grenzen: Die Kälte zieht mir die Energie nur so aus dem Körper, die beiden bergsprintartigen Hatzen auf Flow fordern ihren Tribut.


Geschlagen zwar, aber noch immer ganz gut unterwegs.

Zwar bessert sich das Wetter etwas im anderen Tal - es hört auf zu regnen und es wird etwas wärmer - aber dafür fühlen sich meine Beine zunehmend schwerer an. Ich besehe mir meine Mitfahrer rund um mich herum: Schweiß steht in ihren Gesichtern, es wird kaum noch geredet. Und das will etwas heißen für Italiener: Die schnacken sonst wie die Weltmeister, alle durcheinander, auch gern 15 Mann. Und das alles auch gern bei 15% bergauf.

Jetzt ist es eher still - allen steht der Frost und der übrig gebliebene Regen in den rosafarbigen Gesichtern. Gemessen daran fühle ich mich eigentlich noch ganz frisch - Flow ist zwar unerreichbar, verglichen aber mit vielen anderen Rennrad-Fahrern hier komme ich mich wesentlich fitter vor.

Das baut mich erst einmal auf ...


Bergzeitfahren im Hexenwald: Gruselig. Ob hier Pantani herumgeistert?

In die Cima Pantani biegen wir von einer befahrenen Landstraße aus auf einen schmalen Wirtschaftsweg ein. Zunächst durch Bauerngehöfte, dann durch Nebelwald und weiter oben wieder an Häuschen vorbei.

Es ist steil. Sehr steil!

Auf 4 Kilometer wird ein Schnitt von 8% angegeben - das ist mehr, als der Tourmalet im Schnitt hat. Die Spitzen sind im Roadbook mit 14% ausgewiesen, mein Garmin spricht ab und zu aber auch mal von 16 und 17%. Ob Pantani hier wirklich so oft trainiert hat, weiß ich nicht - jedenfalls gehe ich jetzt kein Vollgas mehr. Eher versuche ich, hier so reibungslos wir möglich hochzukommen.


Ein Rennrad in der Steigung: Es gibt (fast) nichts Schöneres!

Mit der Hitze kommt auch der Spaß wieder. Ich liebe es einfach, in kleinen Gängen diese Monstersteigungen zu fahren! Für mich ist das das Beste am ganzen Rennradsport und das umso mehr, als dass ich in Hamburg und Umgebung keine richtigen Berge habe.

Jetzt, wo der Druck weg ist, unbedingt Florian noch erreichen zu müssen - und vor allem: Was, wenn ich es getan hätte? Was dann? - kann ich auch wieder mehr auf meine Umgebung achten, mich umschauen und wieder mehr die Seele baumeln lassen.


Die Jungs haben alle Spaß "mit" Pantani hier.

Als wir oben ankommen sprinten die Verwegendsten noch die letzten Meter über die Transpondermatten, durchfahren den Torbogen des Bergzeitfahrens, als hätten sie schon das ganze Rennen beendet. Viele halten hier oben an, einer hat ein Transparent des "Il Pirata" aufgehangen, einige bekreuzigen sich und machen Fotos.

Ich gehe ruhig in die Abfahrt, genieße die rasanten Kilometer auf nun wieder trockenen Straßen, kann ab und zu das Meer schon wieder erkennen und merke fast gar nicht, dass ich schon längst wieder im Anstieg zum vierten und letzten Berg bin.

Als ich unten in die letzte Steigung gehe, ist Flow bereits oben:

Uneinholbare 20 Minuten und die letzten 290 Höhenmeter trennen uns von einander, die 5% Durchschnittssteigung und 12% Max-Rampen merke ich kaum noch.

Zuhause sehe ich an der Kurve, wann sich mein Rennen in eine RTF verwandelt hat: Am Ende der zweiten Abfahrt, wo Flow seinen Vorsprung von 9 auf 11 Minuten ausbauen konnte, nehme ich raus. Den Pantani-Berg fährt er 5 Minuten schneller (Wow!), in der Abfahrt kann er mir wieder nur eine Minute abnehmen, den letzten Berg macht er 3 Minuten schneller als ich.

Meine Entscheidung war dennoch die richtige: Das dicke Ende kommt nämlich noch!

Entscheidung #5 - Manchmal ist noch-langsamer besser, als zu-langsam.

Die liebe Sonne scheint, als habe es nie Nebel und nasskalten Ekelregen gegeben. Sie grinst und blinzelt mich an, schon wird es schnell heiß unter Helm und Trikot-Lagen. Als ich die Abfahrt vom letzten Berg hinter mich gebracht habe, liegt vor mir der letzte Abschnitt des Gran Fondo Selle Italia.

Horror.


Allein im Flachen. Bei Gegenwind. Mein Alptraum!

Ich kann unmittelbar nach der Abfahrt 2 Mitstreiter erreichen, an die ich mich hänge. Vom Meer her weht ein unglaublich harter Gegenwind, 24, 25 km/h mögen das schon sein. Und dann zu dritt! Günstige Streckenführung am Anfang macht es möglich, einige Kilometer mit über 40 km/h zu absolvieren (mir hängt die Zunge trotzdem aus dem Hals), als wir dann aber auf Ostkurs drehen, kommt es ganz Dicke.

Die beiden Jungs fahren mit 32, 33, 34 km/h zu schnell für meine Begriffe. Ich merke instinktiv, dass das nicht gut gehen kann - noch knapp 30 Kilometer bei diesem Gegenwind? Über eine Stunde mit nur 3 Mann?

Ich nehme raus, lasse die beiden ziehen.
Horrorszenario: Gegenwind. Flach. Und ich allein!
Grupe haben vs. keine Gruppe haben: Beim GF Selle Italia macht das 10 km/h!

Die Tracking-Daten zeigen es: Schnell sinkt meine Speed auf unter 30, später, bei den ganz fiesen Kilometern, kann ich sogar nur noch mit 22, 23 km/h herumkrepeln. Zwar wird auch Flow gebremst (grauer Graph), aber er vermag es, konstant knappe 10 km/h schneller zu fahren, als ich.

Flow wird später von einer Gruppe berichten, mit der er gebolzt sei. Logisch: Windschattenfahren macht kaum mehr Sinn als in der Ebene. Und ist auch kaum effektiver, als bei Gegenwind.

Bei Kilometer 130 dann aber geht mein Kalkül auf, meine Entscheidung, die beiden Fahrer ziehen zu lassen und einige Kilometer allein im Wind auszuharren, trägt Früchte: Eine Gruppe aus etwa 15 Fahrer fährt auf mich auf, sammelt mich ein. Ich kann mich ranhängen und mitziehen: Die Kurve zeigt es. Schlagartig fahre ich wieder im 30-35 km/h-Bereich.


Nach 5:55 Stunden offizielle Rennzeit, 5:49 Stunden Netto-Fahrtzeit exklusive der Pinkelpausen, fahre ich endlich über die Ziellinie in Cervia. Ines wird mich 15 Kilometer vor dem Ziel noch mit ihrer Gruppe erreichen - was mich sehr freut - und lautstark von allen Italienern zu "Avanti la Donne!" einem Sprint gegen die zweite Dame unserer Gruppe aufgefordert werden.

Die Herren machen langsam - die Andere eröffnet den Sprint, ich brülle Ines zum Sieg. Mit knapp 100 Metern Vorsprung kann sie diesen für sich entscheiden. Toll!

Zu diesem Zeitpunkt wird Flow bereits geduscht haben.

33 Minuten wird er am Ende schneller als ich sein. Eine super Leistung! 




Komisch: Ich verliere am Berg! Logisch: Allein im Wind ist nie gut.

Wie gesagt, das war zu erwarten. Florian ist ein Kämpfer mit unglaublichen Kraftreserven und einem Willen, der keinen Schmerz kennt. Er kann auch dann noch beschleunigen, wenn anderen schon die röchelnden Zungen aus den Lungen abfallen.

Als ich später meine Gewinne und Verluste analysiere, wundere ich mich dann aber doch: Verkehrte Welt! Denn es sind vor allem die Anstiege, bei denen Flow mir Zeit abnimmt. Das kenne ich so noch nicht. Mehr als 14 Minuten kann Florian allein in den 4 Anstiegen auf mich ausfahren: Knapp die Hälfte seines Gesamtvorsprunges!

Nicht auszudenken, wie viel "besser" mein Rückstand aussehen würde, wäre ich in der Lage gewesen, in bester Form in den Anstiegen wenigstens gleichwertig mit ihm zu fahren!

Massiv aber verliere ich am Ende des Rennens: Das Horrorstück allein kostet mich ganze 13 Minuten Rückstand - was wäre nur, wenn ich von Anfang an meine schnelle Gruppe gehabt hätte?

Anyway, sagen wir uns - Ines und ich kommen glücklich, wohlbehalten und ohne Sturz ins Ziel. Und das - trotz Flow - in einer absolut respektablen Zeit, wie wir finden.



Im Ziel in Cervia: Geiles Rennen hier in der Emilia Romagna!

Was ich gelernt habe, jetzt, da ich unsere beiden Rennen vergleichen konnte? Es gibt Entscheidungen, die sich als richtig erweisen. Taktische Eingebungen, kurzfristige Gedankenblitze, die, in die Tat umgesetzt, tatsächlich aufgehen und funktionieren können.

Aber es gibt auch Entscheidungen, die torpediert werden: Der Kontrahent schläft ja nicht. Auch er taktiert, überlegt, handelt. Rennen sind so vielfältigen Aspekten unterworfen - eine Wetteränderung, ein Platzregen, ein Platten, eine Pinkelpause - kleine Details, die zu großen Verschiebungen führen können.

Und dann steht man am Ende eben mal ohne Gruppe im Gegenwind.

Interessant: Was Körper so an sich haben

Garmin liefert mir zudem die Pulskurven von uns beiden. Auch die finde ich interessant. Ich weiß, dass Flow ein wesentlich niedrigeres Pulsniveau hat, als ich. Spätestens seit unserer Leistungsdiagnostik.

Ich finde es spannend zu sehen, dass er den rund 2 km/h schnelleren Anfangssprint in die Berge mit unter 160er Puls fahren kann, dass er in den Abfahrten auf fast Ruhepuls "abkühlt" - aber auch, dass wir zwischen Kilometer 90 und 120 fast auf dem gleichen Pulsniveau fahren (ich erhole mich gerade im Alleine-Stück), bevor es zum Endsprint wieder mehr zu tun gibt für Vorhof, Segelklappen & Co.
Zwei Fahrertypen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. So wie ihre Herzen.

Was sind nun also die "richtigen" und was die "falschen" Entscheidungen?

Zum Schluss ...

Abgesehen davon, dass es bei diesen Rennen um nichts geht, als unseren Spaß, den Spaß an Taktik und lieb gemeinter Konkurrenz - man kann es eh nie wissen. 

Pokere ich hoch, halte bei der Labe nicht an sondern stürze mich gleich in die Abfahrt, schneide die Kurven etwas heftiger, bremse einen Tick später und anstelle auf die Hangabtriebskraft zu warten sofort wieder Kurvenausgang reintreten um ja jedes km/h heraus zu kitzeln?


So muss das sein: Spaß soll er machen, dieser Radrennsport!

Jede Minute, jeder Kilometer und jede Kurve bringt neue Entscheidungen. Ein Rezept gibt es nicht - und das macht diesen Sport (auch) so interessant. Ich für meinen Teil ziehe den Hut vor einer großartigen Leistung, die Florian da vollbracht hat. Nur 50 Minuten hinter dem Sieger ist ein tolles Ergebnis.

Und für mich selbst? Die Formkurve zeigt nach oben. Ich konnte diesen Gran Fondo ohne Probleme mit guten Beinen beenden, sehe eindeutige Fortschritte gegenüber den ersten Renneinsätzen 2013. Und bin gespannt, welche Entscheidungen und welche Umstände beim nächsten Rennen - dem Gran Fondo Dieci Colli - uns am Ende da ankommen lassen, wo wir ankommen werden.


Welche Entscheidungen bei welchen Rennen sind Euch noch in Erinnerung? Ich freue mich auf Eure Comments.

Hier sind die Garmin-Datenhttp://connect.garmin.com/activity/295489978 meines GF Selle Italia und hier die Daten von Florians Garmin.