Ich blicke auf die Karte. Schaue mir den Ort genau an. Zoome hinein, kann es genau sehen. Die Karte sieht so freundlich aus. Blauer Fluss. Viel Grün. Alles so freundlich. Einladend. Schöner als es war. Am Samstag. Dort, ja, genau da, da habe ich das Rennen aufgegeben.
Bei 42 Prozent.
Genau 116 Kilometer weit können mich meine Beine tragen, an jenem 16. Oktober 2010. Und keinen Meter weiter. Ich steige ab. Ächzend klinke ich aus. Enttäuscht, desillusioniert. Am Boden zerstört: Vorbei die Idee, das Zeitfahren Hamburg-Berlin bestreiten zu können. Schluss, aus.
Das Schlimmste ist: Für Steve, meinen Teampartner, ist es damit auch gelaufen. Gewertet wird nur, wer als Team - wer zusammen - eintrifft. Sich absetzen, jemanden zurück lassen, jemanden aussteigen lassen, das zählt nicht. Brevet fahren, das heißt eben vor allem, als Team zu fahren.
Alle oder keiner. Und in unserem Falle nun also keiner.
Dabei war ich am Renntag eigentlich richtig gut drauf. Das Aufstehen um 3:30 Uhr nach einer - traditionsgemäß vor einem Rennen - sehr kurzen, zumeist schlaflosen Nacht, meistere ich erstaunlich gut. Ich quäle mir mein Müsli rein, das ich normal-morgens schon kaum runterbekomme. Heute ist es umso wichtiger: Energie für meinen Bein-Motor.
Steven, mein SunClass-Teamkollege, holt mich 5:15 Uhr in der Langen Reihe ab. Es nieselt. Es ist kalt. Richtig kalt!
Wir sitzen bei Nicole im Van, seine Freundin fährt uns, die Mittelsitze sind ausgebaut, sein Cervélo P2 Zeitfahrrad und mein R3 passen bequem hinein. Ich kann ausspannen, etwa 45 Minuten dauert die Fahrt in die Dunkelheit. Hamburg liegt schon hinter uns. Nichts als pechschwarze Nacht, tanzende Regentropfen im Scheinwerferlicht.
Es regnet. Aber meine mit 10 Lagen Toppits Frischhaltefolie eingepackten Füße sollten dicht- und Getier durch umwerfenden Geruch abhalten ...
Irgendwann, es geht schlängelnd am düsteren Deich entlang, pellen sich am Straßenrand silhouettenhaft dürre Gestalten aus dem Dunkel: Die Randonneure.
Autos, Vans, Caravans parken zu Dutzenden den Deich zu. In einem kleinen Partyzelt der RG Endspurt glimmt verhalten Licht - Etwa einhundert frierende Schatten stehen Schlange, Startnummern werden verteilt. Massenweise Rennräder stehen an die Rabatten gelehnt. Teuerstes Carbon, Alurenner und Stahlboliden - eine Handvoll Liegeräder und ein paar Velomobile.
Ich treffe Olli, meinen Berliner Liegerad-Kollegen. Ich treffe Morten, den schnellsten Ligeradler, den ich kenne (und den längsten noch dazu) und einige andere bekannte Gesichter. Doch irgendwie sind sie alle weit weg: Weit weg, wahrscheinlich schon längst auf der mir immer immenser vorkommenden, 280 km langen Strecke in die Hauptstadt.
Aber ich bin gerüstet: 4 Lagen Funktionsklamotten sollten mich doch warm halten! (Taten sie aber nicht.)
Und ich heute auch hier. Will meine erste Rennradsaison mit einem Knall beenden. Meinem Palmerés noch einen Namen hinzufügen, Brevet Hamburg-Berlin. Klingt gut.
Drinnen, im Fährhaus, haben sie ein Frühstück vom Feinsten aufgestellt. In bunte Klamotten ihrer Lieblingsmarken oder Radsportvereine gehüllt hocken sie über dampfendem Kaffee, schaufeln sich Rührei hinein, essen Joghurts, als sei gestern die erst Mauer aufgegangen, stopfen sich Bananen in die Taschen und stapeln scheibenweise Schinken auf die dunklen Vollkornbrote. Kohlenhydrate bunkern!
Mir gegenüber sitzt Phaelim, der irische Randonneur, den ich bei einer meiner liebsten Liegeradtouren kennenlernen konnte. Er und sein sympathisch schrulliger, englischer Kollege nehmen die Strecke heute auf einem Tandem in Angriff.
Olli entscheidet sich dazu, nicht anzutreten. Ich finde es schade, aber respektiere seinen Entschluss: Immerhin ist für heute Ganztagsregen und Gegenwind angesagt. Temperaturen um die 7 Grad und der Umstand, dass sein M5 Lowracer-Liegerad bei diesem Wetter die Garantie für 10 Stunden durchnässtes Vollfrieren ist, lassen ihn diese Entscheidung objektiv treffen. Und doch: Ich sehe Enttäuschung in seinen Augen.
Enttäuschung, die ich bald schon noch sehr viel besser werde nachempfinden können.
Nicole und Steven verabschieden sich. Ich esse schnell zu Ende: 7:02 Uhr ist unsere Startzeit. Es geht alles wie in Trance - wie ein Film, der an mir vorbei zieht: Wir rollen auf den Deich. Schalten unsere Lampen an. Ich friere, merke aber nichts, weil ich so aufgeregt bin. Jemand ruft "Startnummern 210 und 211 auf die Strecke!" Das sind wir! Und ehe ich es mich versehe, müssen wir los.
Zeitfahren Berlin-Hamburg: Wir sind unterwegs! Unfassbar. Steven ist der Navigator - alle paar hundert Meter piept sein Garmin, abbiegen. Es ist noch dunkel, obwohl ich am Horizont schon einen Silberstreif erkennen kann: Dort siegt der Tag über die kalte Nacht. Wir fahren den Deich entlang, biegen irgendwann auf einem Kreisverkehr ab und sind auf einer größeren Straße: Allein. Hamburg? Scheint mir hunderte Kilometer entfernt.
Doch bald schon sehe ich hinter uns die tanzenden Lichter einer weiteren Gruppe. Sie kommen näher. Da wir beide nicht wissen, wie schnell wir sind, fahren wir einen bequemen Speed. Jetzt zu powern hat überhaupt keinen Sinn. Wem bringt es was, sie alle abzuhängen, wenn wir dann nach 100 Kilometern keine Körner mehr haben?
Steve fährt ruhig und rund, ich finde auch meinen Tritt und als uns die erste Gruppe mit etwa 10 km/h Überschuss überholt, muss ich nur grinsen: Ich habe jetzt andere Sorgen. Die Kälte ist unerwartet ... kalt. Und mein Körper kann (noch?) nicht genug Hitze produzieren, um mich warm zu halten.
Gottseidank habe ich mir vorhin schnell noch einen langen Pullover untergezogen, bevor mein Gepäck im Bus nach Berlin gegangen ist. Nur mit meinen 4 Schichten Bikeklamotten hätte ich das heute nicht überlebt. Aber klar, mit einem Baumwollpulli zu fahren, ist irgendwie alles andere als sportlich. Wie der Pulli heute Abend riechen wird, kann ich mir jetzt schon ausmalen.
Kilometer um Kilometer wird es heller. Der zarte Silberstreich arbeitet sich immer mehr zu einem lichten Schleier, fluoreszierendes Grau. Ein schöner Anblick. Und ein erschreckender dazu: Immerhin kann ich jetzt erkennen, was uns den ganzen Tag über erwarten wird - dicke, dichte Regenwolken!
Wir überqueren eine Autobahn, haben den Deich und die Elbe linkerhand von uns und fahren um die 29 bis 31 km/h. Es nieselt, Kälte krabbelt mir am Gesicht entlang und auch Steven ist ununterbrochen am Naseschnauben. Ich möchte nicht wissen, wie viele Liter Rotz ich mir in der ersten Stunde schon auf meinen Schultern verteilt habe.
Als wir durch einen kleinen, abgelegenen Ort kommen, jätet am Straßenrand eine uralte Großmutter im Blümchenkittel ihren Vorgarten. Als sie uns sieht ruft sie: "Ihr seid aber spät dran!"
Mir fehlen die Worte.
Darf man böse Omas hauen?
Wir kommen gut voran - auch trotz des Gegenwindes, der uns, je nachdem wie wir wieder gerade zum Deich entlang gezackt sind, mal von scharf seitlich aber doch meistens von vorn böig abbremst. Dann segne mir Gott die Ortsdurchfahrten: Hinter den Häuserreihen kann man ruhiger treten, ist windgeschützt.
Marschacht und Tespe fliegen vorbei, es regnet wieder stärker. Nach 30 Minuten öffne ich mein erstes Nutrixxion Powergel - für heute habe ich 10 Geld mit dabei und plane, mich jede Stunde mit einem Tütchen zu versorgen. Lemon Fresh drücke ich mir das pappsüße Zeugs in den Rachen - ekelhaft. Aber wirksam. Kurz nachgespült, dann geht es wieder in Fahrthaltung.
Zwei, drei weitere Gruppen ziehen an uns vorbei. Als wir die erste Pinkelpause machen, noch einmal zwei Gruppen. Dann ein weißes Velomobil - und wenig später das gelbe Velomobil. Und das hat eine besondere Bedeutung. Immerhin ist dies der letzte Starter gewesen. Nun weiß ich also, dass alle auf der Strecke sind. Und es sitzt kein Geringerer als Christian von Ascheberg am Steuer, der Mann, der den 6 und 12-Stunden-Weltrekord inne hat.
Wie ein Raumschiff fauchen die futuristischen Liegegefährte an uns vorbei. 60 km/h wird er drauf haben. Und das ist nicht einmal die Spitze - wenn es erst einmal taghell ist, werden sie in ihren tollkühnen Kisten wohl richtig aufdrehen.
In Richtung Bleckede geht es, wir kurven am Deich herum. Starke Winde reißen immer wieder an unseren Rädern. Wir fluchen in die Dämmerung, manchmal schreien wir - aber meistens unterhalten sich Steve und ich über dieses und jenes.
Und richtig so, wir gehen es locker an. "Heute wird der Spaß ganz groß geschrieben", hatte ich noch am Start zitternd gescherzt. Und das war durchaus ernst gemeint: Keiner von uns ist jemals 280 Kilometer am Stück gefahren. Da gehen wir lieber auf Nummer sicher und fahren auf Ankommen.
Wir verlassen Bleckede ins 10 Kilometer entfernt gelegene Neu Darchau, und was jetzt kommt, kenne ich schon von ein, zwei Liegeradtouren: Berge. Naja, sagen wir, Anstiege. In Neu Darchau halten wir aber zunächst an einem Edeka an, ich stelle mich unter einen Carport neben einen Sack Rindenmulch, Steven kauft drinnen Batterien. "Es macht nicht mehr piep!" hatte er vorhin gerufen. Und das Garmin sollte heute lieber nicht ausfallen. "Ich hab mal die guten Duracell genommen", sagt er.
Ich selbst fülle meine Flaschen auf, mixe mir noch einen Iso-Drink und bin mächtig stolz auf uns, als wir uns hinter einer weiteren Gruppe Rennradler wieder finden - und aufholen. Welle um Welle arbeiten wir uns ran: Nicht verbissen beißend, sondern ganz ruhig.
An der ersten Rampe haben wir sie dann.
"Moin!", rufe ich von hinten. Die beiden letzten der Fünf drehen sich um, sagen nichts, schauen nur kommentarlos auf die Steigung. Hier mag es mit 10, 11 Prozent nach oben gehen. Okay, dann nicht, Ihr unhöflichen ... Rennradler! Es waren wahrscheinlich Berliner. Oder sie hatten mit der Rampe genug zu tun, da kostet Höflichkeit nur unnötig kostbare Watt.
Am Berg, wie immer, habe ich irgendwie einen Überschuss. Mühelos lasse ich die Gruppe - aber auch Steve - im Anstieg stehen und presche nach oben.
Mein Cervélo R3 scheint eine Bergziege zu sein. Dann lasse ich mich abfallen, sammle Steven wieder ein und nach dem zweiten Anstieg hält die Mosergruppe zum Pinkeln an. Steven und ich sind wieder allein.
Wir lassen die Berge hinter uns - die einzigen nennenswerten Steigungen dieses Trips - und fahren in mittlerweile ordentlicher Taghelligkeit durch eine wunderschöne Deichlandschaft. Krüppelweieden, saftige Wiesen, ab und zu Schafe oder Rinder und eine prachtvolle Elbe entlohnen uns für Niesel im Gesicht, eiskalte Füße und brennende Schenkel.
Kontrastprogramm pur: Wie herrlich, diese Landschaft; wie grausam, dieser Tag!
Der Wind ist das Schlimmste. Er bläst nicht konstant, sondern kommt in Böen, die an meinem Rad zerren. Steven, mit seinem aerodynamischen Triathlonrad hat es da noch schwerer, denn kommt der Wind von der Seite, bietet sein flunderflaches Geröhr Extraangriffsfläche. Teilweise bremst der Wind uns auf 20 km/h herunter. Oft kann ich nur in einem mittleren Gang des kleinen Blattes fahren.
Wie machen das bloß die anderen?
Auch nicht anders, denken wir uns. Nur, dass die wohl trainiert sind.
Wir reden nicht viel, aber wenn, dann scherzen wir und machen uns Mut.
Ansonsten beißen wir uns in den Lenkern fest, krümmen uns auf unseren harten Sätteln und versuchen abwechselnd, den anderen im Windschatten mitzuziehen. Bei Seitenwind klappt das nur minimal.
Mittlerweile ist es taghell - oder was man so nennen könnte. Am Himmel steht eine dicke, wüst zerzauste Wolkensuppe - Beleg für die ganze Arbeit des Windes. Weiden und Pappeln krümmen sich regelrecht, wenn die kalten Luftmassen an ihren zerren. Das hohe Gras auf den Wiesen produziert Dünung. Wir zwei Cervélo-Piloten kämpfen uns einsam auf löchrigem Asphalt Kilometer um Kilometer vor.
Erst, als irgendwann der Deich neben uns richtig hoch wird - doppelt, dreimal so hoch, wie am Anfang - kreiert er genug Windschutz, um uns für ein paar Kilometer im Windschatten fahren zu lassen. Und hey, wir kommen sogar über die 30 km/h!
Es sind nur noch 20 Kilometer bis zum ersten Checkpoint und Steven kann es kaum noch erwarten: Immerhin ist seine Freundin mit dem Van unterwegs und wird ihn dort erwarten. Motivation pur, klar. Für mich wartet in Dömitz ein heißer Kaffee (so hoffe ich) und etwas zu essen, denn meine Strategie, mich nur von Gel zu ernähren, schlägt heute irgenwie fehl.
Wir fahren auf einer kleinen Landstraße, Wind faucht uns um die Ohren und ich kann fast schon das Laktat in meinen Schenkeln fühlen. Irgendwann biegen wir nach rechts auf eine viel befahrene, fast wie eine Autobahn ausgebaute Bundesstraße ab: "Dömitz 6 km" steht da dran und auf einmal fühle ich Sieg in mir hochquellen.
Der erste Checkpoint! Der erste verdammte Checkpoint zum Greifen nahe! Nun aber Gas geben - aber nicht überdrehen. Nun noch mal reinklotzen - aber sich nicht fertig machen. Leichter gesagt, denn diese letzten 6 Kilometer haben es in sich, da wir in den Wind müssen. Die Fahrtrichtung geht nun direkt nach Nord-Osten: Die 191 macht es uns schwer!
Ah, wie sehr ich das genieße, wie sehr ich das hasse! Diese Dualität des Sports: Freude am eigenen Leid. Je mehr es weh tut, desto mehr Endorfine. Wahnsinn, oder? Speichel läuft mir aus den Mundwinkeln. Ich beiße. Zwinge mich. Scheißbrücke!
Da pellt sie sich Brücke pellt sich schon aus dem Dunst. Wir haben es geschafft, ah, süßer Sieg. Wir harten Säue, wir Helden. Wir Kämpfer, Streiter der Ritzel. Der erste Checkpoint, gerade mal 100 Kilometer - und ich fühle mich, als hätte ich gerade olympisches Gold gewonnen.
Und doch: Bei diesem Scheißwetter, bei dieser brutalen Saukälte und dem Fu***wind! Wir haben es geschafft. Nicole steht bereit, macht Fotos, einer winkt uns auf einen Parkplatz.
Da stehen sie, 20, 30 Brevet-Fahrer, um einen Rasttisch herum, Essen und Trinken ist reichlich aufgebaut. Ich bremse, habe gar keine Augen oder Ohren für Nicole. Steven ist irgendwo hinter mir in ihren Armen. Ich friere, zittere, pelle mich aus dem Rad, lehne es an das Betondenkmal anlässlich des Brückenbaus nach der Wende und stürze mich auf die Kisten, in denen Vollkornbrote mit Käse und Wurst gestapelt sind: Paradies!
Zwei Stullen auf einmal atme ich förmlich weg: Magenkrämpfe zucken mir durch den Bauch. Wahrscheinlich war mein Verdauungssystem nicht auf so viel harte Nahrung eingestellt. Phaelim und sein Tandem-Beipilot stehen da, wir grüßen uns, wind- und wassergezeichnet, frieren. Leise werden Scherze gemacht.
Hinter meinem Rad lehnen 4 Cervélo Zeitfahrmaschinen am Pfeiler - die dazugehörigen Triathleten, alle um die 20, 22 Jahre jung - Milchbubigesichter, greifen schüchtern in die Kartons und essen wiederum Joghurts. Ist das ein Rennrad-Trick?
Steve und ich laben uns, ein Kaffee, ein zweiter Kaffee. Ah, diese wohlige Wärme, diese muckelige Hitze an den Fingern. Kann ich mir einen Becher heißen Kaffee einfach über meine Eiszehen gießen?
Nicole sagt: "Du humpelst ja!"
Ich schüttle meinen Kopf, versuche zu grinsen.
Wir bleiben 15 Minuten. Die meisten sind eh schon durch - zwei, drei kommen noch an. Darunter ein Einzelfahrer, den wir die "Schrankwand" taufen: Er hat Beine, so dick wie die Brückenpfeiler von Dömitz und einen Rücksack auf dem Rücken, in dem locker der Schuhschrank meiner Freundin Platz gefunden hätte. Wahnsinnstyp. Augen wie ein Adler, dazu aber ein wohlwollendes Grinsen, ein sehr sympathischer. Steht da, schnallt nicht einmal seinen Rucksack ab, ganz cool, trinkt einen Kaffee und isst seine Käsestulle.
Die Schrankwand gewinnt heute definitiv den Coolness-Preis.
Die meisten brechen schon wieder auf. Auch die Cervélo-Boys rüsten sich zum Start. Steigen auf. Treten rein. Düsen ab. Für uns wird es nun auch Zeit. Einer der Organisatoren vor Ort spricht mir Mut zu (warum nur?): "Kein Ding, das Wetter ist beschissen, aber Du schaffst das schon, keine Sorge!"
Na jut. Wenn Du es sagst.
Hatte zwar nicht gefragt.
Aber gut.
Ächzend. Schwer. Steige ich wieder auf mein Rennrad: Direkt über dem Steiß habe ich eine schmerzhafte Wirbelblockierung, die mir fast den Atem nimmt, wenn ich mich strecke. Na hossa! In Rennradhaltung spüre ich nichts, wohl aber wenn ich stehe. Erste Ausfallerscheinungen also kurz vor Mitte der Strecke. Das geht, denke ich mir.
Ist das die Kälte? Dass ich viel zu dünn angezogen bin (und dazu noch wasserdurchlässig), weiß ich. Was Zugluft innerhalb von 3 Stunden anrichten kann, merke ich jetzt allemal.
Wiederum ächzend machen wir uns wieder auf die Strecke. 100 Kilometer geschafft - na siehste, läuft doch! So lange wir im Wald fahren, ist wenigstens der Wind weg.
Läuft gar nicht!, denke ich mir, als ich nur 5 Kilometer nach Dömitz anfange, mein Knie zu spüren. Es sticht direkt unter der linken Patella, bei jeder Umdrehung fährt mir ein unangenehmer Schmerz durchs Bein.
Rausnehmen, Drehzahl reduzieren, nicht zu hart treten!
Ich falle etwas zurück, Steven merkt es und bremst sofort.
"Alles okay?", fragt er.
"Nein.", keuche ich, als mich unerwartet wieder eine Bö aus dem Gleichgewicht bringt. "Das Knie!" Wir reduzieren sofort das Tempo, nehmen raus, ich strenge mich an, bewusst nicht zu viel Druck auf das Pedal bringen zu wollen: Vergebens. Um bei diesem Wind auch nur annähernd im hohen 20er-Bereich fahren zu können, muss man halt treten. Alles andere bremst sofort auf 20, 18 km/h herab.
Da zieht die Schrankwand an uns vorbei. Locker hängt er auf seinem Stahlrenner. Der Tritt rund, keine Spur von Anstrengung. Ein sympathisches Lächeln blinzelt uns an. "Na, da haben wir es ja gleich geschafft.", sagt er, grinst und ist auch schon wieder 20 Meter vor uns.
"Ja-ha!", können wir da nur gestelzt hinterher rufen.
Ich merke, dass es so nicht weiter geht.
Aber was soll ich machen? Noch weiter die Drehzahl reduzieren? Dann können wir gleich schieben. Abgesehen davon, dass das Ziel in Berlin nur bis 22 Uhr besetzt ist.
Aussteigen? Echt? Aufgeben? Wie soll das gehen - einfach aufhören? Wie sagt man sowas seinem Teamkollegen? Oder soll ich nicht doch noch einmal pushen? Richtig reinhängen - Zähne zusammen beißen, Augen zu und durch!
Aber da fährt es mir wieder den Schenkel hoch.
Arthrosopie ist nicht so meins. Wenn das Knie einmal ruiniert ist, wird es nie wieder wie vorher. Aber mit dem Knie spaßt man nicht! Und doch: Bei den Cyclassics hatte ich auch kurz Knieschmerzen - hab sie ausgesessen, weg gedrückt. Ging doch! Aber: Das waren nur 155 Kilometer. Bei 25 Grad Sonnenschein. Heute, das ist ne andere Nummer: 280 Kilometer. Und gefühlte 20 Grad weniger.
Ich beiße. Reiße mich zusammen.
Und merke, wie schwach ich bin. Steven fährt mir ständig davon. Er liegt da auf seinem Triathlon-Rad, tritt angestrengt - aber rund. Und ich? Ich kann nicht einmal seinen 27 km/h-Windschatten halten ...
Ich ziehe neben ihn. Und muss es aussprechen: "Bis Wittenberge, Steve. Dort steige ich in den Zug. Es geht nicht mehr!"
Nun ist es raus. Alle. Das wars. Scheitern ausgesprochen. Besiegelt. Beschlossene Sache. Staubtrocken macht sich bittere Enttäuschung in mir breit. Es ist das erste Rennen, das ich aufgeben muss. Ein Schlag in die Magengrube. Für ihn sicher auch.
Bis Wittenberge noch - 16 Kilometer im Schleichgang. Dann Zug.
Steve ruft sofort Nicole an. Ob sie uns abholen könne. Und wie von Zauberhand ist sie nach nur 3 Minuten da. War wohl direkt hinter uns.
Ich fühle mich wie Scheiße. Lenzen. Mein Ausstiegspunkt. Ort des Scheiterns. Lenzen. Das steht für mich ab heute für "Schande". Lenzen, Kilometer 116. 42 Prozent der Strecke. 42 Prozent. Nicht mal die Hälfte geschafft. Nicht mal die Cyclassics-Distanz. Nicht mal den kürzeren Münsterlandgiro.
Wie bitter Aufgabe doch schmeckt. Ekelhaft. Ich könnte heulen.
Steve will noch weiterfahren. Für die Wertung bedeutungslos, will er wenigstens noch ein bisschen trainieren. Er fährt los, sicher - er wird auch unendlich enttäuscht sein. Wie er da so von dannen zieht, noch winkt, komme ich mir schmutzig vor. Wie ein Verräter. Ein Scheißgefühl.
Nicole kümmert sich rührend: Der Van ist beheizt wie eine Sauna, es gibt dampfend-heiße Zitrone, es gibt Lakritz und allerlei Schmankerl, Hähnchenschenkel. Siebter Himmel. Für Loser.
Wir unterhalten uns, scherzen. Aber jedes Mal, wenn wir Leute überholen, die zum Verband gehören, schneidet es tief in mein Herz: Die Cervélo-Boys, die Schrankwand, selbst das Tandem holen wir ein.
Ich fühle mich wie ein räudiger Hund.
Steven steigt bei Kilometer 160 ein. Der GPS-Track war weg. 500 Webpunkte maximal. Für ihn ist auch Schluss. Wenigstens scheitert er an nur der Technik, nicht an sich selbst. Enttäuschend jedoch allemal.
Ich sitze im Fond, vor mir, vertäut, die Rennräder. Es sind noch 120 Kilometer bis Berlin.
Irre. Ich schüttle nur noch meinen Kopf. Unfassbar für mich. Unfassbar!
Die Fahrt wird leise. Obwohl Nicole und Steven sich vorn unterhalten, versuchen mich einzubeziehen, ist meine Stimmung auf dem Tiefpunkt. Sehr setzt es mir zu. Hier heute abgebrochen zu haben, kann ich noch immer nicht glauben: Was als Projekt "Glänzender Saisonabschluss" gestartet wurde, endet nun als "Schändliche Jahresendpeinlichkeit".
Nun. Ein paar Stunden später treffe ich Olli wieder, der mittlerweile in Zivilklamotten ist und mich mit dem Kombi am Ziel abholen kommt. Neid steht mir im Gesicht geschrieben: Neid auf all die, die es geschafft haben.
Weltmeister Christian von Ascheberg sitzt da und fachsimpelt. Okay, mit einem 70 km/h schnellen Velomobil, vollverkleidet ... wir hatten von ihm nichts anderes erwartet. Viel mehr Respekt habe ich vor den zitternden, dürren, durchnässten Typen und Frauen, die abgekämpft immer wieder eintrudeln.
Und wollte so gern einer von ihnen sein.
Niemand. Wirklich niemand, der nicht an diesem 16. Oktober bei eiseskalten 5 Grad im Nieselregen in der Dunkelheit am Altengammer Deich gestanden und gezittert hat, niemand, der nicht um 3, 4 Uhr dieses freien Samstags aufgestanden und in den Bören des Nord-Ost-Windes auf seine Startnummer gewartet hat, niemand anderes kann auch nur ansatzweise ermessen, was das Hamburg-Berlin-Zeitfahren im Jahre 2010 war.
Niemand. Und keiner darf sich ein Urteil erlauben. Über Fahrer, die nicht zum Start erschienen sind. Über Fahrer, die zwar erschienen, aber nicht gestartet sind und auch nicht über uns - über Fahrer nämlich, die während des Rennens ausgestiegen sind.
Und wer es doch tut, ist nichts weiter als ein Idiot, der keine Ahnung hat.
Anders herum: Chapeau! Hut ab und eine tiefe Verbeugung vor den Frauen und Männern, die sich durch Nebelbänke, über matschig-rutschige Straßen, durch den auskühlenden, zerrenden Nieselregen (und später richtigen Regen bei Berlin) und gegen den ständig blasenden Gegenwind die 280 Kilometer bis ins Ziel gekämpft haben! Hut ab - Ihr habt eine Leistung vollbracht, die man sich nicht vorstellen kann. Wirklich nicht. Und ich bin schon viel herum gekommen.
Ich habe sie gesehen, die schlammverkrusteten Gesichter. Die wie Espenlaub Zitternden. Habe gesehen, wie sie kaum mehr treten, geschweige denn gehen konnten. Wie Kriegsheimkehrer, Argusschiffer, zurück von den Toten. Allein auf weiter Flur - Ihr verdient meinen Respekt. Und meinen Neid: Denn ich musste aufgeben, war nicht stark genug.
Und komisch: Heute, am Montag, fühle ich mich, als könnte ich es doch schaffen. Blicke nach draußen - es ist klirrekalt, aber an einem blauen Himmel steht eine Sonne, die wenigstens ins Herz Wärme bringt. Komisch, denke ich, wenn das Zeitfahren nur heute ausgetragen worden wäre ...
Aber das bringt ja nichts. Brevet-Fahrer fahren bei jedem Wetter. Und bei Sonnenschein, ohne Wind, das kann ja jeder. Gestern, das, ja, das war Zeitfahr-Wetter. Männer-Temperaturen. Regen. Sturmböen. Nichts für Weicheier, nichts für Knirscheknie.
Aber 2011.
Es wird mein Jahr!
2011. Oktober. Werde ich in Berlin ankommen.
Sicher!
Gefahren: 116,8 km in 4:28 Stunden mit 26,7 km/h Netto-Schnitt
42 % der Strecke geschafft.
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