27. Mai 2011

Ein Rennen lesen. Aber wie ...?

"Du musst das Rennen lesen können, um Entscheidungen richtig zu treffen!", das lese ich ständig in meiner Radsport-Fachlektüre, diesen Satz höre ich stetig, bei Eurosport-Übertragungen und so manches mal bei meinen Teilnahmen an Jedermann-Rennen oder auch nur bei RTFs dringt er in fremden Gesprächsfetzen zu mir herüber.

"Ein Rennen lesen" - was heißt das überhaupt?

Nun bin ich alles andere als ein Radsport-Profi und schon gar kein Rennrad-Guru, aber bei mittlerweile immerhin 8 Teilnahmen an doch recht rasanten Rennen und der Erfahrung aus etlichen sportlichen Langstreckentouren von Japan bis zu den Rocky Mountains kommt mir doch mit dem einen oder anderen Geistesblitz die Einsicht - und mit ihr zumindest teilweise eine Antwort auf diese Frage.

Und die Antwort ist: Es gibt keine. Jedenfalls keine Eindeutige.

Sich selbst kennen.

Zunächst einmal muss man sich selbst kennen, bevor man sich aufmachen kann, so etwas komplexes wie eine Meute aus hunderten, wenn nicht gar tausenden Radsportlern zu verstehen, die alle das selbe Ziel haben: Erster werden! Eine Meute verstehen zu wollen, die auf so etwas komplexem wie einer Reennrad-Strecke unterwegs ist.

Sich selbst kennen das heißt, um seine generellen Stärken und Schwächen Bescheid zu wissen. Zu wissen, was der Körper kann, wie lange er das kann und was dann kommt.

Mein Körper zum Beispiel ist anscheinend ganz gut auf der Langstrecke. Das aber nur bei mäßiger Belastung. Ich bin recht dünn, drahtig, habe keinerlei Körperfett und deshalb kaum Reserven.

Dagegen scheint mein Körper bei konstanter Höchstbelastung - zum Beispiel am Berg - sehr gut, um nicht zu sagen besser als die meisten anderen, zu funktionieren. Meine Touren durch Portugal, die Rocky Mountains und vor allem die Erfahrungen bei meinem Giro d´Italia haben es ahnen lassen, in einem Bergrennen wie der Göttinger Tour d´Energie kam die Gewissheit.

Wenn man seine Stärken kennt dann kann man im Vorhinein Abschnitte und Punkte eines Rennens identifizieren, an denen man Akzente setzen kann, eine Attacke platzieren oder angreifen will.

Anders herum: Kennt man seine Schwächen, so weiß man, wo man aufzupassen hat.

Die Strecke kennen.

Das A und O bei einer Rennteilnahme ist die Kenntnis der Strecke. Sicher - niemand verlangt, dass man sich wie ein Bobfahrer oder Kunstflieger in stundenlangen autogenen Trainingssitzungen die Strecke Meter um Meter auswendig einprägt, um sie dann zigmal in Yoga-Trance abzufahren, aber man sollte sie sich schon genau anschauen.

Und dies in zweierlei Hinsicht: Von oben kann man sehr gut Gefahrenstellen erkennen. Mittlerweile sind GPS-Tracks oder Strecken als zoombare Google-Maps oder GPSies-Anwendungen eigentlich Standard. Da heißt es dann tatsächlich: Höchste Zoomstufe und die Strecke quasi aus er Heliperspektive abfahren.

Wo sind gefährliche Kurven? Pflastersteinpassagen? Oftmals sieht man erst in der Staellitenperspektive, dass die breite Magistrale dann doch mit Verkehrsinseln gespickt ist oder dass die vermeindlich schnurgerade Sprintstrecke aus königlich-preußischem Pflasterstein besteht. Wissen, das einem unter Umständen den Kopf und den teuren Carbonrahmen retten kann.

Andererseits sollte man sich immer die Höhenprofile anschauen. Für mich mithin die wichtigste Recherchearbeit: Wie lang ist der Anstieg? Wie steil ist er? Alles über 10% und ab 2 km Länge wird einem Großteil des Pelotons sehr weh tun. Und das wiederum ist dann meine Chance - denn es sind diese Anstiege, bei denen man die meiste Zeit gutmachen kann.

Genauso die Abfahrten - wie schnell es bergab geht (und wie gefährlich das dann wird) kann man meist schon sehr gut sehen, wenn man ein Höhenprofil sieht.

Startblock-Roulette

Fast wichtigstes Zünglein an der Waage ist und bleibt die Wahl des Startblocks. Wenn man denn eine Wahl hätte ...

Offt muss ich bei Rennanmeldungen meinen zu erwartenden Schnitt angeben. Da lüge ich dann auch nix zusammen und bin ganz ehrlich. Na, eher staple ich tief. Und dann habe ich den Salat: Velothon - Block F, Tour d´Energie - vorletzter Block. Und so weiter.

Klar, dass hinten vom Veranstalter eher die langsamen Herren platziert werden, damit die schnellen vorne freie Bahn haben. Dumm nur, wenn man dann wider erwarten schneller ist (und das bin ich meistens), denn dann verliert man a) sehr viel Zeit, um sich nach vorne zu arbeiten - Zeit und auch Energie.

Und b) sind die Starken vorn, die einen ziehen könnten, dann meist schon unerreichbar weggefahren.

Und das ist schade. Denn während man zwar immer, egal, von wo man startet, Gruppen findet, die genauso schnell (oder ein bisschen schneller als man selbst) sind, könnte einen eine Gruppe weiter vorn - die ja wiederum noch schneller ist - noch viel mehr "nützen".

So bin ich mir sicher, dass ich mein Velothon-Ergebnis von 3:02 Stunden wesentlich hätte verbessern können, wenn ich statt in F in C gestartet wäre. Ich bin mit einem Schnitt von 38,6 km/h ins Ziel gekommen. Hätte ich nur 1 km/h Schnitt besser abgeschnitten, hätte das eine Zeit von 2:48 Stunden bedeutet - ganze 14 Mintuten schneller nur durch eine schnellere Gruppe!

Was heißt das also? Nicht tiefstapeln bei der Anmeldung! Wir fahren einen 39er Schnitt bei 130 km-Rennen. Basta!

Das richtige Hinterrad finden.

"Noch eine Minute bis zum Start!", rumort es durch das Feld. Alle sind gespannt, es wird zum x-ten Male am Trikot herumgezerrt, sitzen die Schuhe perfekt? Die Garmin Edges und Forerunners im Peloton geben den typischen "Ich bin bereit"-Beep ab und man fühlt die Sekunden herunter ticken - während der Puls langsam von Normalruhe auf Rennfrequenz steigt.

Ein Rennradrennen ist Höchstspannung!

Dann geht es endlich los und nachdem man die ersten ein, zweihundert Meter im stockenden Verkehr zugebracht hat beginnt das Feld langsam, sich in die Länge zu ziehen.
"Nach vorn!" - das ist nun die Devise und wer es clever anstellen will, der wagt sich diesen Kampf nicht allein, sondern schließt Allianzen.

Allianzen mit anderen starken Beinen.
Denn je mehr man sich "ziehen" lassen kann, desto mehr Körner hat man für das letzte Renndrittel oder -viertel, wenn man erfahrungsmegäß eher mal alleine im Wind oder in kleinen Gruppen unterwegs sein wird.

Also: Das richtige Hinterrad finden!

Ich persönlich mache immer drei, vier, fünf Rennfahrer aus, die sich idealerweise schon in einer Gruppe gefunden haben. Das erspart mir den Aufwand, selbst eine "zusammenstellen" zu müssen. Meist halte ich mich links auf, wo ich mich, Positionen hüpfend, langsam beginne nach vorne durchzuarbeiten. Positionen gutmachen, ohne dabei Vollgas zugehen.

Meist ist es in einem Rennrad-Rennen von Anfang an so, dass sich die "langsamen" Beine rechts ansammeln, gerade auf den ersten zehn, zwanzig Kilometern lange, kohärente Schlangen bilden, die man sich windschattenkonsumierend entlang hangeln kann.
Bequem.

Von hinten stürmen dann immer wieder bollernd die ganz Schnellen heran. Nun heißt es Augen auf! Ich besehe mir die Überholenden und entscheide meist aufgrund weniger Details, ob diese eine Gruppe zum Dranhängen ist - oder ich lieber abwarte.

Wieviele Fahrer sind es? Einzelkämpfer sind meist sehr schnell - aber meist auch schnell ausgebrannt. Vielleicht sind es auch Jungs, die gerade "Wut im Bauch" haben und deshalb Vollgas gehen (vielleicht nach einem Sturz?) - keine gute Wahl.

Kommunizieren die Fahrer? Eine Gruppe, in der sich alle fremd sind, kann schwierig werden. Gruppenfahren hat viel mit Verstehen und Vertrauen zu tun. Hier muss sich im Wind abgewechselt werden, hier muss auf Abstände geachtet werden, hier müssen Gefahrenstellen angezeigt und sicher umsteuert werden. In einer Gruppe, die sich gerade erst gefunden hat, ist noch nicht ganz klar, ob das gut funktioniert - eine Gruppe, in der sie kurz miteinander Reden, in der angezeigt wird, kann man davon ausgehen, dass es hier gesittet zugeht: Wichtig, denn wir wollen, sollten wir "aufspringen", 90, 100 Kilometer mit denen verbringen.

Bekommt die Gruppe unser innerliches "Go", gehe ich links raus, hänge mich ganz hinten an und muss einige Umdrehungen hart beschleunigen. Ist man erstmal im Windschatten der neuen Gruppe, kann man kurz entspannen: Man hat es geschafft und ist, wenn man es clever angestellt hat, im D-Zug des Pelotons.

Die Aufholjagd kann beginnen!

Meistens fahre ich in Gruppen von nicht unter 5 Mann. Gerade am Anfang eines Rennens sollte die Gruppe genügend groß sein, dass die Zeit im Windschatten lange genug ist, um sich von den gelegentlichen Einsätzen vorn "im Wind" zu erholen. Ist die Gruppe zu klein, muss man sehr viel öfter in den Wind - und verliert sehr viel schneller seine Kraft.

Gegen Ende eines Rennens, vor allem auf selektiven Strecken, nimmt man dann gern, was man bekommen kann. Die Auswahl wird sehr klein werden. Dann heißt es oftmals, sich mit kleinen Gruppen oder auch nur zu zweit oder zu dritt mit dem wenigen Windschatten zu begnügen, den man bekommen kann.
Umso wichtiger wird die Wahl der Anfangsgruppe werden.

Rechtsüberholer, irre Spurwechseler, Leute, die nicht anzeigen, werden ermahnt oder auch gern angepöbelt - Disziplin ist das A und O im Gruppetto. Ich muss mich darauf verlassen können, dass mir keiner hinten draufknallt, weil er pennt, oder dass ich, wenn ich nur 1 cm hinter dem Rad meines Vordermannes bei 50 durch die Ortschaften brettere, nicht durch ein Schlagloch zu Fall komme.

Schaut Euch Eure Hinterräder genau an - es wird rennentscheidend sein, wen Ihr Euch da ausgesucht habt!

Nach Kurven gibts Saures. Meistens.

Das ist der erste Aha-Effekt, der sich mir nach 2, 3 Rennen einstellte. Und mithin hier ein Tipp an alle Neueinsteiger, die sich viel Arbeit und Schweiß ersparen möchten - es ist der "Ziehharmonika-Effekt" beim Herausbeschleunigen aus Kurven.

Bei Kurven, in die sich das Feld mit relativ hoher Geschwindigkeit hineinbremst, sie relativ langsam durchfährt - also Haarnadel- oder 90-Grad-Kurven, beobachte ich bei jedem Rennen, dass die Jungs das Herausbeschleunigen unverhältnismäßig hart durchführen.

Das liegt natürlich an den führenden Fahrern, die als erste aus der Kurve kommen, denn die haben vor sich freie Bahn und - da sehr langsam unterwegs - den Drang, besonders schnell wieder auf die Rennspeed zu kommen. Also gehen sie aus dem Sattel und treten in die Pedale.

Dahinter entsteht unter dem Eindruck, dass die da vorn sehr schnell wegkommen - man selbst ist ja noch in der langsamen Kurve - dass man abgehangen wird, also geht man auch hart in die Beschleunigung. Und so setzt sich das extrem harte Anfahren bis zum letzten Mann nach hinten hin fort.

Es werden Körner verbrannt, sinnlos, es wird Power vegeudet, ohne Plan. Denn - weiter vorne spielt sich dann folgendes ab: Der Führende, nun seit einigen hundert Metern extrem schnell unterwegs, vielleicht das noch im Wind, wird sich bewusst, dass er zu schnell ist. Er nimmt also raus. Da er hinter sich jemanden im Windschatten hat, saugt der sich schnell heran, und muss auch heraus nehmen.

Wie bei einer Ziehharmonika fährt nun einer nach dem anderen in den fluffigen Haufen wieder hinein. Bereits 200, 300 Meter nach der Kurve sinkt die Speed rapide ab und das Peloton ist wieder zu einer kompakten Masse geworden.

Mit diesem Wissen kann ich nun sehr viel ruhiger in Kurven gehen, bei denen die Differenz zwischen Kurvengeschwindigkeit und Anfangsgeschwindigkeit sehr hoch ist. Ich mache die Beschleunigungsorgien nicht mehr mit - auch wenn mich vielleicht drei, vier Fahrer überholen.

Denn ich weiß, dass ich nur wenige hundert Meter ganz normal wieder im Peloton fahre - wo ich mir die verlorenen Plätze locker wieder erarbeiten kann.

Angenommen, es gibt 10, 15 solcher Kurven in einem Rennen, so wird deutlich, wie viele harte Antritte man sich damit ersparen kann, und wieviel Power man so in petto hat, wenn es wirklich einmal notwendig wird, in einer wirklich wichtigen Rennsituation volle Power anzufahren.
Für Bergflöhe ...


Wie es ist, als starker Rolleur ein längeres Rennen zu bestreiten, kann ich nicht sagen - ich bin nur mittelmäßig gut darin, über lange Distanzen Höchstleistungen zu produzieren. Was mir sehr liegt sind dagegen Berge.

Steigungen ab 7, 8 % und Rampen ab 2.000 Metern Länge sind erfahrungsgemäß die Grenze, ab der eine spürbare Selektion einsetzt: Die Teilnehmer schalten auf die kleinen Blätter, werden merklich langsamer und reduzieren ihren Krafteinsatz in Erwartung der gefürchteten Höhenmeter.

Mehr noch: Meist apathisch, sonderbar abwesend scheinen sich die meisten in der Steigung einzuigeln, konzentrieren sich darauf, ja keine Seitenstechen oder Krämpfe zu bekommen und kurbeln apathisch die Meter herunter. Eine bessere Chance, um Zeit und Platzierungen gut zu machen, bietet sich im Rennen nicht.

Ich schaue mir deshalb ganz genau das Höhenprofil der Rennen an und kalkuliere die Länge der Rampen: Die Tour d´Energie in Göttingen zum Beispiel bot mir genau zwei dieser großen Chancen, und wer meinen Bericht des Rennens gelesen hat der wird wissen, wie gut an diesem Tag meine Taktik gewählt war - zusammen mit einer wirklich tollen Kondition konnte ich hier am ersten Berg eine Menge Positionen gutmachen und am zweiten Berg sogar das teaminterne Duell mit den vor allem im Flachen so starken Fahrern Heiko und Florian gewinnen.

Für den Berg gibt es aber auch einige Regeln: Bei allem Überschwang, gilt es natürlich auch hier, einen Rhythmus zu finden. Kleine Gänge und hohe Frequenzen schonen die Muskeln und beugen einer vorzeitigen Übersäuerung mit Laktat vor.

Ab und zu gehe ich in den Wiegetritt (und schalte hier unter Umständen ein, zwei Gänge hoch) - das schont die Gelenke, bringt andere Muskeln ins Spiel und, in Verbindung mit einer Attacke, kann die "Gegner" am Berg oder lästige "Lutscher" am Hinterrad aus dem Konzept bringen und letztendlich abschütteln.

Wichtig wird es zum Ende des Anstieges: Nach der Kuppe ruhe ich mich nicht aus. Im Gegenteil, da ich noch im "Bergrhythmus" bin, schalte ich, ohne die Trittfrequenz zu verändern, in dem Maße, wie die abnehmende Steigung meinen Tritt erleichtert hoch - die Belastung bleibt also gleich, aber die Geschwindigkeit steigt.

Viele andere, das habe ich beobachtet, kämpfen sich über die Kuppe und lassen dann rollen. Sie beschleunigen also wesentlich langsamer. Wieder werden wertvolle Sekunden bei mir gutgeschrieben.

Je länger der Anstieg, logo, desto länger die Abfahrt. Gerade bei steilen Stücken ist es absolut (lebens-)wichtig, voll da zu sein. Eine falsche Entscheidung, eine Tausendstel nicht richtig aufgepasst und schon segelt man den Abhang hinunter oder reißt womöglich noch andere um.

Deshalb verausgabe ich mich nicht vollends im Anstieg - es muss immer genug Sauerstoff da sein, als dass mein Gehirn mich nicht verlässt.

Kleine Tricks wie nur in der Steigung zu trinken, sind selbstverständlich - auch wenn die Versuchung noch so groß ist, beim gemütlichen Rollen zu trinken: Da gewinne ich lieber ein paar Sekunden und strenge mich beim Trinken an!
Hat man erst einmal den Berg überwunden und die Gegner hinter sich gelassen gilt es, diesen Vorsprung auch zu sichern. Gerade wenn man weiß, dass die Überholten starke Abfahrer und sehr gute Rolleure sind.

Hier gilt es, den richtigen Riecher für Gruppen zu haben: Perfekt ist natürlich, wenn man direkt nach der Abfahrt (die ich lieber alleine mache, da ich nicht noch auf Vorder- oder Nebenmänner achten muss) eine Gruppe erwischt, in deren Windschatten man in der anschließenden Ebene schnell vorankommt, kann man so den Vorsprung konservieren oder ausbauen - mindestens aber diesen so lange sichern, dass man wenigstens noch vor den Gegnern ins Ziel kommt.

Findet man keine Gruppe - wie es mir nach dem Hohen Hagen in Göttingen passiert ist - können auch die größten Vorsprünge allein im Wind dahinschmelzen wie Schokosofteis in der Sonne. Manchmal ist es deshalb klüger, schon in der Abfaht eine Gruppe zu suchen, auch wenn man dadurch etwas langsamer ist - auf die Länge gesehen nutzt einem der Windschattenvorteil in der Ebene später mehr.

In der Windkante.

Entscheidend im Rennen ist natürlich immer der Wind. Wobei das nur in Maßen gilt - denn Wind bekommen sie alle. (Außer in einem Einzelzeitfahren, wo es durchaus sein kann, dass der Erste Gegenwind hat und beim letzten sich die Richtung ändert und der dann mit Rückenwind fährt, aber das kann man eh nicht beeinflussen).

Über das Windschattenfahren muss ich nicht viel sagen: Dass man kreiselt und sich selbstverständlich auch ander Führungsarbeit beteiligen sollte, ist Gesetz. Sich auf der Kraft anderer auszuruhen wird sowieso meist schnell von den hart arbeitenden Mitfahrern geregelt.

Speziell wird es in der Windkante - wie beim Velothon Berlin passiert.

Eine Windkante entsteht bei extremem Seitenwind, der von schräg vorn kommt. Dann staffeln sich die Fahrer diagonal auf, um den Windschatten, der nun sozusagen schräg "weggeblasen" wird, optimal zu nutzen.

Natürlich kann eine solche Staffel nur so breit sein, wie die Fahrbahn - und das ist genau der Punkt. Denn wer hier zu spät kommt, der hat verloren! Da hilft es dann auch nichts, sich noch so nah hinter den Vordermann zu klemmen. Der Wind kommt von der Seite, unerbittlich - und so wird, wer die Staffel verpasst, genauso brutal abgehängt.

Hat man es aber in die Staffel geschafft, so ist es eine Kunst, diese am Leben zu erhalten. Ich habe selbst erst ein einziges Mal eine solche Windstaffel erlebt und diese ist nach 300 Metern wieder zerbrochen - eben weil es so schwer ist, in der Windstaffel zu kreiseln.

Selbst Profis sollen sich schwer tun damit, eine Windstaffel zu organisieren, weshalb für uns Jedermänner vielleicht dieser eine Tipp wichtig wäre: Kommt der Wind hart von vorn heißt es, sich den Vordermann genau zwischen Windrichtung und eigenes Vorderrad zu stellen. In dieser Diagonalen überlebt man wesentlich länger (und kräfteschonender), als es vergeblich genau hinter ihm zu versuchen.

Wetter an sich ...

Nun habe ich das seit Jahren versucht - auch durchaus mit ernsterem Anliegen - aber ich bekomme einfach keinen direkten Draht zu Herrn Petrus. Und nicht erst seitdem Deutschlands Wetterfrosch Nummer eins "offline" ist, scheint sich das Wetter gegen uns Radfahrer zu verbünden: Stetiger Gegenwind, Regenschauer aus der Kalten, Hitze da, wo Kälte angesagt ist, Schneetreiben dort, wo Milde walten sollte.

Und doch: Einige Stunden vor einem Rennen sind gerade mit Hilfe der Regenradar-Websites doch sehr genaue Vorhersagen möglich geworden.

Das Wetter beeinflusst nicht nur die eigene körperliche Leistungsfähigkeit - jeder hat einen Temperaturbereich, in dem er besonders hart arbeiten kann - sondern auch die Psyche. Sicher geht man mit "helleren" Gedanken an den Start, wenn der Himmel über dem Peloton nicht drohend schwarz mit Gewitterwolken verhangen ist - sicher tritt man befreiter, wenn der Wind von hinten kommt.

Gerade mit dem Wind ist das so eine Sache: Ich merke das immer dann, wenn ich im Wind fahre (also auch die Gruppen führe) und wenn ich mich dann abwechsle. Viele Rennradfahrer geben gerade bei Gegenwind umso mehr Gas, je mehr sie das Gefühl haben, gebremst zu werden.

Logisch: Wo man sonst Renntempo 44, 45 km/h drauf hat, und einen die Böen auf 30, vielleicht unter 20 bremsen, da staut sich ordentlich Wut an. Wut, die in ein Gefühl des "Ich muss das aufholen!" umschlägt.

Die Folge: Viele Rennradfahrer wenden überproportional viel Energie auf, um sich gegen den Wind zu stemmen. Wenn man aber weiß, dass man das Achtfache an Kraft braucht, um nur das Doppelte gut zu machen, dann kann man sich vorstellen, was bei harten Gegenwinden passiert: Für nur ein klitzeklein wenig mehr an Speed wenden die Fahrer Massen an Energie auf. Die verbrennen ihre wertvollen Körner, wo es schlauer wäre, lieber etwas langsamer zu fahren und sich dabei Kraft zu sparen.

Wenn man das weiß, hat man nur Vorteile: Erstens, man kann sehr viel beruhigter im Wind stehen und sich seine Kraft souverän einteilen - sollen sie da vorne doch Gas geben. Lange hält das wütende Anfahren gegen Stürme keiner aus. Zum Zweiten kann man sich grinsend an die Gegenwindkollegen heften und ihren Windschatten genießen - Danke für den Extraspeed.

Ich habe auf mittlerweile fast 30.000 Kilometern, die ich intensiv Rad fahre, bei so einigen heftigen Wetterkapriolen, Sturmfahrten und Regen-Etappen eines gelernt: Ruhig bleiben! Auch wenn das Wetter verrückt spielt; wenn man erst einmal auf der Strecke ist, hilft alles aufregen, schnattern, schreien, austicken nichts. Entweder kann man anhalten, sich unterstellen und Mama anrufen oder man zieht es durch. Wallendes Blut hat in Rennsituationen noch nie geholfen - denn gerade wenn äußere Umstände (z.B. nasse Straßen) zu erhöhter Aufmerksamkeit zwingen ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu haben.

Scheiß auf den Regen - da lohnt sich wenigstens die Dusche!

Essen & Trinken.

Das ewige Thema. Wie viel esse ich vorher? Wieviel im Rennen - und warum zur Hölle denken alle, die einen Untenlenker haben, dass ein Teller weichgekochte Nudeln am Vorabend wie ein Upgrade in Startblock A wirken?

Zunächst einmal zur Pasta-Party-Legende: Leute, bitte! Carboloading ist eine Trainingsmethode, die Wochen vor den Rennen beginnt und sehr viel Härte und Disziplin erfordert. Sie erfordert auch, dass man genaue Werte seines Körpers kennt (und damit meine ich nicht die vom Garmin ermittelten Larifari-Kalorienverbrauchs- und Schwellenwerte) und dass man einen ganz genauen Diätplan einhält.

Profis entleeren in sehr schmerzhaften, sehr harten Trainingssitzungen eine Woche vor Beginn des Rennens ihre Kohlenhydratspeicher und trainieren dann leicht - ohne Zufuhr von Kohlenhydraten - bis 2, 3 Tage vor Event weiter. Dabei stellt sich der Körper auf den Mangel ein.

Zwei, drei Tage vor dem Event stopfen sich die Profis dann - ohne weiteres Training - mit Kohlenhydraten voll. Der Körper, denkend, dass dies nur ein kurzes Intermezzo der Mangelzeit ist, legt überproportional viele Speicher an (Glykogen) und diese kann man dann bei der folgenden Extrabelastung im Rennen abrufen.

Ergo: Pastaschaufeln ohne vorherige Schmerzwoche bringt ... Null!

Aber immerhin kann man nette Leute kennenlernen und etwas dem Ritzelgarn der Altgedienten zuhören. Á propos: Pastaparties nach dem Rennen sind der beste Witz ...

Wie ernähre ich mich?

Nun, eigentlich vollkommen normal. Vor dem Rennen am Vorabend gibt es meist Fisch und leichte Kohlenhydrate wie Reis oder Kartoffeln, dazu meist große Salate. Nix also, was dem Magen viel Arbeit macht.

Beim Frühstück esse ich normal, meist ein, zwei Brötchen, davon eines mit deftiger Wurst. Kaffee darf nicht fehlen, das hat aber was mit Sucht zu tun ...

Im Rennen fahre ich - übrigens für mich persönlich mit großem Erfolg - folgende Strategie: Unmittelbar vor dem Start, 5 bis 10 Minuten vor dem Knall, gibt es das erste PowerGel. Ich vertrage Nutrixxion am besten.
In meiner Trikottasche habe ich, abhängig von der Streckenlänge, dann genug Beutelchen, um alle 30 Kilometer ein weiteres Gel zu lutschen. Was ich dann auch tue.

Je nachdem, wie ich mich im Verlauf des Rennens fühle, verzichte ich dann aber auch auf weitere Gels - so geschehen beim Velothon, wo ich von 4 möglichen nur 3 Gels gelutscht habe. Das Letzte war nicht mehr notwendig.

Mit der Flüssigkeit ist es ganz einfach: Ich kann Euch nur einen Tipp geben - nehmt lieber mehr mit, als zu wenig! Es gibt nichts Enttäuschenderes, nichts niederschlagenderes als im Rennen anhalten und nach Wasser betteln zu müssen! Wertvolle Zeit verstreicht, unnötige Pausen können zu Entlastungskrämpfen führen und erschweren ungemein die Wiederaufnahme des Rennens - bei mir geschehen 2010 beim Münsterland.Giro.

Ich nehme für 100 Kilometer 2 Flaschen mit. Alles Saftschorle - bei harten Rennen 2:1-Drinks von High5. Alles darüber hinaus: dritte Flasche in die Rückentasche.

Ihr spart 5 Minuten, wenn nicht mehr, wenn Ihr die Verpflegungsstellen hinter Euch lasst (die sind bei Cyclassics & Co eh wie im Film "Der Superstau") und zudem verwirrt Ihr Euren Körper nicht.

Denn einmal angehalten senkt sogleich den Puls, der Körper geht in Erholungsmodus, die Regeneration wird angefahren - und umso schmerzhafter, schwieriger und verletzungsgefährlicher wird der Wiedereinstieg ins Rennen.

Bananen gehen immer. Riegel finde ich irgendwie nicht so cool.
Meist aber reicht mir bei Rennen die Gel-Drink-Mischung.

Bei RTFs hingegen entscheidet natürlich auch die Ausstattung mit Büffets zwischendrin über eine Teilnahme meinerseits ... denn gerade bei den flachen RTFs hier in Hamburg und Umgebung ist der Verpflegungspunkt ja meist der herausragendste Aspekt.

Der Kopf entscheidet.
Rennrad-Sport, das ist vor allem ein Kopfsport. Nee, ist wirklich so. Mir glaubt das auch immer keinen, vor allem nicht meine Süße, wenn ich gebannt die stundenlang bei Eurosport den Pros zugucke und mich an ihren taktischen Spielchen erfreue und in Höchststimmung gerate, wird einmal eine kluge Attacke gesetzt.

"Die fahren ja nur Rad!", hört man oft. Aber diese Leute sollten sich mal auf einen 20 mm breiten Pneu setzen und mit 70 einen Berg herunterdonnern - wohlwissend, dass sie nur zwei antiqierte Seilzugbremsen vor dem Crash schützen.

Fahrradbeherrschung, Rennübersicht, Obacht im unmittelbaren Umfeld und blitzschnelle Entscheidungen werden über einen Zeitraum von vielen Stunden abgefordert - und das bei mitunter widrigen Wetterumständen!

Extreme Hitze und Trockenheit, schlechteste Straßen oder Regenschauer auf glitschnassen Straßen - dazu ein unruhiges Peloton, die ganzen Anfänger und Hörnchenlenker. Der Kopf ist entscheidend in einem Radrennen!

Vor allem wenn man weiß, dass ein normaler Ottonormalkörper ab 100 Kilometer eigentlich aufgeben möchte. Leise zirpt es dann in der hintersten Ecke des Kopfes, es säuselt eine liebliche Stimme süße Versprechungen, wenn man doch nur jetzt langsamer mache, lass rollen, steigt ab!
Nein, sich dem zu widersetzen, trotzdem sitzen zu bleiben, trotzdem hart in die Pedale zu treten und die Speed nicht zu senken - trotzdem immer wieder in den Wind zu gehen, um die Meute zu ziehen, sich trotz allen Schmerzes im Wiegetritt die nächste, die übernächste und die wiedernächste Welle hinaufzukämpfen - das entscheidet allein der Kopf!

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir unserem Körper viel zu wenig zutrauen. Als ich meine ersten Etappen damals noch mit maaaaximal 100 Kilometer geplant habe - war ich erstaunt, dass ich locker 150 km schaffe. Bis ich irgendwann an zwei hintereinander folgenden Tagen jeweils 240 Kilometer gefahren bin.

16 % Rampen? Und das zwei mal hinter einander? Tut weh? Tut sauweh! Aber es ist machbar.

Es ist so vieles machbar, wenn man nur will.

Aber, das stimmt - es ist das härteste überhaupt, sich konstant zu motivieren. Vor allem, wenn das Knie zirpt, wenn der Arsch brennt, wenn die Motivation nach einem Loch im Schlauch gen Null geht, wenn kalter Regen einem die Kimme in den Radlerhosen hinabläuft, wenn die heiße Sonne das Hirn unterm Helm zum Siedepunkt bringt.

Es ist der Kopf, der befiehlt. Die Beine machen mit. Sie machen alles mit, solange ATP in den Adern fließt - und wenn man genug davon hat (z.B. in Form eines Gels alle 30 km), dann läuft das. Ehrlich! Ihr wollt die Cyclassics zum ersten Mal fahren und nehmt "erstmal zum gucken" die 55 km? Papperlapapp! Fangt mindestens bei den 100 an - nehmt am besten die 150. Wozu warten? Auf was? 55 km bereiten Euch nicht auf das vor, was 155 km zu bieten haben. Entweder Ihr macht es - oder Ihr lasst es.

Es gibt einige mentale Techniken um durchzuhalten.

Eine davon ist, sich vorzustellen wie es sein wird, wenn man ankommt. Ihr stellt Euch einfach vor - in Echtzeit, in Bunt, in jedem Detail - was Ihr machen werdet, was Ihr sagen und tun werdet, wenn das Rennen vorbei ist.

Wird Euch Eure Freundin in die Arme fallen? Was wird sie sagen? Wie wird sie aussehen? Grinst sie? Hat sie dann diese kleinen süßen Grübchen in den Wangen? Könnt Ihr den Duft an ihrem Hals riechen, da, knapp über ihrer Schulter, wo Euch ein paar Haare ihres Zopfes an der Nasenspitze kitzeln?

Jedes Detail ... und schon habt Ihr wieder 2 Kilometer hinter Euch gebracht.

Was werdet Ihr trinken?

10 Kilometer.

Wie wird es im Hotel sein?

15 Kilometer ... oops, schon da. Wo ist sie denn? Ihr Duft, ihre Haare ... ? Ach, erstmal ein Hefe ...

Aber hey - nicht zu sehr ins Träumen geraten, denn mit Euch, um Euch herum fahren noch ein paar Andere und nun stellt Euch diesen Blindflug vor, würden alle in ihren Träumen versinken. Ein solcher Traumtanz kann gut und gerne in einem Massencrash enden.
Probieren geht über Studieren.
Und nun - Lust bekommen? Ist alles halbsoschwer, wie man glaubt. Am besten, Ihr hört auf Euch die klugen Romane der Pseudofachleute (wie ich) durchzulesen. Geht raus! Meldet Euch bei der nächsten RTF an, beim nächsten Rennen - wie wäre es mit den nächsten Cyclassics? Und dann bitte gleich die große Runde - man soll ein Ziel haben!

Keine Angst, wenn Ihr Euch nicht ganz so blöde anstellt, ein paar Grundregeln beachtet und nicht vergesst, dass es trotz Rennsituation immer noch Straßenverkehr ist, kann Euch bis auf eine Menge Spaß und literweise Adrenalin in den Adern eigentlich nichts passieren.

Have fun - Ride safe!

24. Mai 2011

Rennrad. Knorke. Velothon.

"Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!“ - rufen die Schalcke- und Duisburg-Fans allenthalben, denn das DFB-Pokalspiel treibt die Blauen zu Zehntausenden in die Stadt. Mich auch, aber mir geht es um etwas ganz anderes: Rennrad fahren! Der Velothon steht an.
So packe ich mein Rad und meine Klamotten in den Alfa Giulietta von Sixt (geniales Teil!) und mache mich, wie Tausende andere Rennradler auch, auf die Autobahn. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich wieder einen der Rennrad-Anhänger, -Dachgepäckträger oder -Teambusse sehe, die genauso wie ich die A24 befahren.
Velothon 2011 – in meiner Heimatstadt Berlin. Da ist Teilnahme Pflicht!
Im Prenzlberg bei meinem Freund Jan angekommen, beziehe ich am Samstag Quartier. Mein frisch gewartetes, geputztes und rennfertig geschniegeltes Cervélo R3 stelle ich zu seinem verstaubten Bianchi. Kein unbekanntes Rad – auf ihm begleitete er mich 2008 auf dem Trip durch Dänemark und Schweden.
Jan wird leider nicht teilnehmen – und irgendwie schaut das Bianchi auch ein wenig enttäuscht drein.
Den Nachmittag verbringe ich mit der Akkreditierung und der in Augenscheinnahme des Messebereiches, in Begleitung von Oliver, mit dem ich auch einige Touren absolviert habe.
Bevor ich mich ziemlich früh dann bettfertig mache gibt es ein nahrhaftes Risotto und Panna Cotta beim großartigen „Herr Rossi“. Gewohnt unruhig träumend fiebere ich in der Nacht dem Start entgegen.
Früh geht es raus: Es ist 7:45 Uhr als ich gemütlich am Fernsehturm vorbei zur Startaufstellung in die Friedrichstraße rolle. Der Himmel ist kristallblau – obschon sie für Mittag-Nachmittag „heftige Regenfälle und schwere Gewitter“ voraus gesagt haben, mache ich mir keine allzu großen Sorgen.
Wenn es losgeht mit dem großen Krawumm sollte ich schon im Ziel sein. Sollte ich. Schaffe ich. Schaffe ich?
Im Startblock angekommen ist noch wenig los. Ich habe leider F bekommen – sehr weit hinten. „F... Fu.... Verdammt!“, fluche ich in mich hinein, als ich die ersten Bierbauch-Daddies ankommen sehe. Nicht, dass ich hier noch den Kuchenblock erwischt habe!
Den Start der 60-Kilometer kann ich noch miterleben und bin erleichtert – wenigstens die Hörnchenlenkerfraktion scheint zum größten Teil weg zu sein.
Ich schlängle mich bis vor zum Block C, wo ich freie Sicht auf das Brandenburger Tor habe: Der erste Höhepunkt also schon wenige Meter nach dem Start. Überhaupt scheinen sich die Veranstalter große Mühe gegeben zu haben, die Strecke an so vielen sehenswerten Punkten Berlins wie möglich vorbeizuführen.
Immerhin kommen mit Friedrichsstraße und dem Brandenburger Tor, dem Schloss Charlottenburg, der Gegend um die Havelchaussee, dem Tempelhofer Flughafen, der East-Side-Gallery, dem neuen Hauptbahnhof (Happy B-day zum 5ten!) und dem Regierungsviertel schon genug Spots zusammen, um den Velothon auch den Beinamen „Stadtbesichtigung mit Speed“ geben zu können.
Ob die knapp 10.000 Rennradler davon allerdings so viel mitbekommen werden, daran habe ich meine Zweifel.
Warm wird es langsam, und langsam füllt sich auch mein Block F. Sehr zu meinem Vergnügen auch mit dem einen oder anderen, sehr angenehm anzuschauenden Damenhintern in engen Radklamotten.
Ein würziger Kontrast zu den Kuchenbäuchen, die allenthalben auftauchen.
Ich lerne Nahne aus Flensburg kennen. Er ist etwas nervös, denn dieser Velothon ist sein erstes Rennen. Wir unterhalten uns nett und genießen die Sonne, bis ihn ein Hintermann auf seine nicht gut befestigte Startnummer aufmerksam macht. Es wird ihm geholfen, die Sicherheitsnadeln ordentlich zu befestigen.
Er atmet tief durch, als der erste „Schreck“ vorbei ist.
„Ey,“ sagt ein Anderer zu ihm und deutet auf die Laufräder: „Du hast die Mäntel falsch herum montiert.“
Es scheint nicht Nahnes Tag zu werden …
Irgendwann kurz nach halb 10 fällt dann auch der Startschuss für meinen Block 11. Wir rufen uns allen ein flüchtiges „Gute Fahrt!“ und „Komm heile an!“ zu, dann treten wir rein.
Freilich nicht volle Pulle, denn wir werden von Skatern, die als Pacer dienen, durchs Brandenburger Tor begleitet. Eine Linkskurve gen Potsdamer Platz, noch immer kaum Beschleunigung.
„So könnte dit weitajehn!“, ruft einer hinter mir.
Einbiegen zwischen Bahn-Tower und Daimler-Haus, das Feld beginnt sich zu ziehen, und dann, dann endlich schalte ich aufs große Blatt – wir durchbrechen die 40 km/h – das Rennen ist eröffnet!
Durch den Bezirk Tiergarten schlängelt sich das Peloton, wie gewohnt noch sehr nervös. Einige Honks ziehen munter von links nach rechts, von rechts nach links. Erst lautes Ermahnen und ab und zu ein heftiges Gepöbel: „Halte Deine Linie, Du Idiot!“ bringt sie dazu, einigermaßen diszipliniert zu fahren.
44 km/h stehen immerzu auf dem Display meines Edge und ich bin zufrieden: Wenn es so flott weitergeht, wird das ein schönes, wird es ein hartes Rennen!
Wir schießen auf das Schloss Charlottenburg zu, am Straßenrand stehen vereinzelt Zuschauer, aber wenig Beifall: Die meisten warten nur, endlich die Straße überqueren zu dürfen.
Durch die nächsten Kurven geht es schon besser: Die Leute halten ihre Linien und ich kann mich mehr und mehr darauf konzentrieren, nach vorne zu fahren.
Was schaffe ich? In F gestartet … vielleicht komme ich vor bis C? Das wäre was!
Das Feld – mittlerweile durch die Steigung am ICC auseinander gezogen – zieht sie wie eine Perlenkette durch die Stadt. Für mich perfekt, denn so kann ich mich von Fahrer zu Fahrer hangeln und so alle Minute ein Dutzend Rennradler überholen.
Ich drehe mich um und bemerke, dass mit mir einige andere die selbe Idee hatten.
Wenig später wird es grün.
„Aha,“ denke ich mir, „nun geht es auf die Havelchaussee.“ Hier haben sie laut Streckenbuch die Steigungen des Rennens eingebaut. Am Ende werden es 490 Höhenmeter werden – sehr wenig, für ein Rennen mit 120 km Länge, sehr viel für eine Stadt wie Berlin, die eigentlich keine Steigungen hat.
Dann kommen die ersten „Rampen“.
Ich bin enttäuscht. Nur wenige Meter geht es spürbar bergauf, und selbst diese Steigungen sind nicht vergleichbar mit einer Tour ´d Energie oder selbst den Rampen, die sie bei den Hamburger Cyclassics für die Touristik-Rennradler bereithalten.
So verlangsamt sich das Peloton auch nur ein wenig. Für eine Selektion reichen diese Wellen aber nicht aus. Mein Speed sinkt kaum unter die 30. Mit einem Flunsch komme ich auf der Bergkuppe an und halte das für einen schlechten Scherz.
Vielleicht, so denke ich mir, wird die „gefährliche Abfahrt“ mit der Linkskurve zum Kronprinzessinnenweg ja anspruchsvoller. Immerhin warnen sie im Roadbook vor dieser Stelle und auch Olli, für den dies hier die Haus-und-Hofstrecke ist, wusste einige Sätze über diese Kurve zu berichten.
Tatsächlich erreiche ich fast 60 km/h bei der kurzen Abfahrt, aber auch die Kurve kann mir leider nicht mehr als ein Schulterzucken entlocken – Gefährlich? Für den Kuchenblock vielleicht. Ich persönlich fand das eher … süß.
Wir sammeln uns in einem kleinen Gruppetto auf dem Kronprizessinnenweg und treten rein: Speed ist die Devise!
Mit mir haben sich etwa 8, 9 Rennradler gefunden, die in etwa die gleiche Geschwindigkeit haben: Da ist einer im Trikot der Tageszeitung „Neues Deutschland“ - Druck von Links können wir gebrauchen! Einer, den ich „den Holländer“ taufe – ein großgewachsener Bolide, der zwar immer nur kurz im Wind ist, aber wenn, dann geht er ran wie Blücher am Katzbach!
„Der Grüne“ ist das Gegenteil – kompakter Körperbau, hohe Trittfrequenz. Der führt lange im Wind und hält dabei das Tempo hoch.
Wenn wir dran sind, dann wechsle ich mich mit zwei Radlern in den Klamotten des Profi-Teams Caisse d´Epargne ab. Einer von denen trägt ein Schweißtuch unterm Helm und fährt ein schickes BMC-Rennrad.
Da der aber bisweilen gefährlich nervös die Linie ändert beschließe ich, eher Abstand zu halten. Den anderen Caisse d´Epargne-Fahrer werde ich bis zum Rennende an meiner Seite haben.
Zudem noch einen schlacksigen Typen wie mich im Cervélo-Trikot, das Thor Hushovd als norwegischer Landesmeister 2010 getragen hatte.
Wir sind eine starke Truppe, die von hinten den gesamten Block F aufarbeitet. Und schon – keine 30 Kilometer gefahren – sind mir mitten in E. Einige D-Fahrer sind auch schon eingefangen.
Ich habe Superlaune!
Leider verschlägt es mich dann und wann an den rechten Rand des Pelotons. Das ist der sehr undisziplinierten Fahrweise vieler Teilnehmer geschuldet. Nervös und teilweise einfach unwissend nutzen viele die rechte „Überholspur“, um in Zweier- und Dreierreihen nebeneinander her zu fahren.
Da wir oft mit 5 bis 8 km/h Überschuss ankommen, bleibt da oft keine Zeit, zu rufen – auch wenn es schlechter Stil ist, überholen wir einfach rechts herum.
Leider sehe ich viele Stürze – allein die ersten 50 Kilometer 3 Rettungswagen mit Blaulicht am Straßenrand.
Bis zur südlichen Wendemarke bei Siethen müssen wir uns mit einem nervigen seitlichen Gegenwind plagen. Unser Gruppetto macht es ganz gut und so wechseln wir uns bei der Arbeit im Wind ab.
Die Ortsdurchfahrten geraten zum Schaulaufen und anders als in Berlin, wo wir mit Missachtung gestraft wurden, stehen sie in Brandenburg zu Hunderten am Rand, einmal haben sie ein Schlagzeug aufgebaut und machen Mucke, ein anderes Mal sind Cheerleader-Mädchen in Röckchen und Glitzerpuscheln am Start. So macht das Spaß!
Ich lasse – wie viele andere auch - die Verpflegungsstation links liegen. Nie wieder mache ich den Fehler wie bei den Cyclassics 2010 oder beim Münsterland.Giro und halte an: Der Körper schaltet auf „Oh cool, das Rennen ist vorbei, ich bin dann mal weg.“ und so kommt man nie wieder in Gang.
Ich habe mich vorbereitet: Zu meiner normalen Renntaktik, alle 30 km ein Power-Gel zu lutschen habe ich mir zudem zusätzlich zu meinen beiden Trinkflaschen am Rahmen (gefüllt mit 2:1 Power-Granulat von High5) eine weitere Trinkflasche (gefüllt mit 2:1 Extreme Coffein) in die Rückentasche des Trikots gesteckt. Das gibt Zuversicht.
Wenig später biegen wir auf die abgesperrte B101 ein, die hier, dreispurig ausgebaut, wie eine Autobahn daherkommt. Da wir nun nach Norden fahren, haben wir extremen Rückenwind.
Ich nutze diesen und trete rein – fast mühelos erreiche ich allein im Wind 45 km/h und merke, dass ich gute Beine habe.
Ich ziehe meinem Gruppetto davon …
Mehr und mehr Abstand kann ich zwischen meine Mitstreiter bringen und finde mich zeitweise allein auf den anstehenden knapp 15 Kilometern Luxusasphalt wieder.
Als ich die nächste größere Gruppe erreiche, heben sie auf einmal wild die Hände und brüllen: „Achtung! Unfall!“
Mit 40 im Freilauf surren wir an zwei böse Gestürzten vorbei. Einer steht gerade auf, ein anderer liegt, sich vor Schmerz windend, noch auf dem Asphalt. Da schon einige helfend angehalten haben, fahren wir weiter.
Ich kann da nur den Kopf schütteln: Wie bitte bringt man es fertig, auf einem 50 Meter breiten, schnurgeraden Stück zu stürzen?!?
Es vergehen vergleichbar langweilige Kilometer auf der B-Straße. Nichts passiert wirklich, außer dass wir sehr schnell vorankommen. Von hinten holt eine größere Gruppe auf, die 2, 3 km/h schneller ist als ich. Von ihr lasse ich mich einsammeln und „verstecke“ mich im Mittelfeld.
Denn ich weiß, was bald kommt …
Vorne machen sie schön Tempo, dann und wann zwingt uns die Strecke wieder in den Wind, der hier in der Stadt durch die Straßenschluchten oftmals kanalisiert noch viel stärker erscheint, als er draußen in Brandenburg war.
Ich taktiere: Wir fahren 35 bis 38 km/h. Das ist nicht übermäßig schnell, aber schnell genug. Denn ich vermute, dass das, was nun folgt, die Schlüsselstelle des Rennens werden wird: Tempelhof!
Irgendwann haben wir uns über unzählige Ampeln (und gefühlten zehntausend Schlaglöcher) gekämpft, als ein Schild „Vorsicht, scharfe Rechtskurve!“ ankündigt.
Ich rolle vor auf eine Position, auf der ich keinen Vordermann auf vier, fünf Radlängen habe, denn ich habe vor, nach der Kurve hart zu beschleunigen. Als wir auf die Freifläche des Flughafens Tempelhof einbiegen, sind die meisten erst einmal baff. Das Peloton beschleunigt kaum.
Ich habe das geahnt und kann so durch einen einzigen Antritt die gesamte Gruppe hinter mir lassen. Zunächst geht es über einen ehemaligen Taxiway in einer langen Linkskurve eingezäunt durch klatschende Massen: Hier hole ich Speed.
Dann auf die Startbahn – und es klatscht ein harter Seitenwind mit voller Wucht die Fahrer fast von der Bahn! Abrupt wird alles um 10 km/h abgebremst, wir müssen die Lenker festhalten und uns mit aller Macht in den Wind stemmen.
Es sind kaum 25 km/h, die auf meinem Tacho stehen. Genug, um den Abstand zu meiner Gruppe konstant zu halten – genug, um mit 1, 2 km/h Überschuss vor mir Fahrende zu überholen. Einer nach dem anderen.
Ich beiße, ich kämpfe. Ist das das Äquivalent zu den harten Anstiegen, die ich in der Havelchausssee vermisst habe?
Links neben mir, versetzt, holt einer auf. Neben ihm wieder einer. Und noch einer. Wir sind eine schicke Windstaffel. Die aber nach wenigen Metern zusammenbricht: Das ist halt was technisch ganz anderes, als Hintereinanderfahren, was Jungs?
Am Ende der nur 3 Kilometer langen Startbahn, bin ich allein – hinter mir auf 250 Meter niemand, vor mir auf 1 Kilometer vielleicht nur 4, 5 Fahrer.
Durch Kreuzberg fahre ich mit einem Grinsen: Am Kotti im Karstadt habe ich damals als 11-Jähriger meine 100 DM Begrüßungsgeld ausgegeben, bei der Schönleinstraße hat ein Studienkollege gewohnt, am Wrangelufer habe ich so manche Party gefeiert und als ich die Spree auf der Oberbaumbrücke – mittlerweile leider (und Gottseidank!) von meinen alten Bekannten, dem Belgier, dem Grünen und einem Caisse d´Epargne-Fahrer eingeholt – überquere, kommen mir fast die Tränen: Hier habe ich jahrelang gewohnt, da, da hinten im Chefhain … fast gebe ich dem Impuls nach, an der Warschauer einfach geradeaus in meine Vergangenheit zu fahren, als mich das Renngeschehen wieder einholt.
Wieder mit Rückenwind geht es recht rasant die East-Side-Gallery entlang. Ich sehe auf dem Display meines Garmin, dass wir keine 15 Kilometer mehr zurück zu legen haben und die Vorfreude auf das Ankommen macht sich in mir breit: Nun heißt es wachsam bleiben! Nicht einlullen lassen!
Das fiese Alexa und den Alexanderplatz umrunden wir, rein gehts nach Mitte. Am Straßenrand nun verstärkt auch jubelnde Zuschauer. Ein schönes Gefühl, diese Stadt im Vollgasdelirium durchmessen zu können!
Ich bleibe nun am Hinterrad vom Caisse d´Epargne. Der Grüne und der Belgier sind hinter mir. Wir rollen mit einer Gruppe mit, nicht übermäßig schnell, aber als wir im Regierungsviertel erneut in den Gegenwind drehen und uns die Goldelse mit ruppigen Böen empfängt, scheint es, als habe Apathie die Rennfahrer (mich eingeschlossen) befallen.
Die gefürchteten Positionskämpfe und die gar in unzähligen Schauergeschichten erzählten, angeblich für den Velothon typischen Idioten, die unbedingt zum Schluss noch sprinten müssen, erlebe ich nicht.
Statt dessen geht es mit knapp 40 km/h sehr ruhig und geordnet, fast unspektakulär, über die Ziellinie. Ich richte mich auf und reiße die Arme in die Höhe: Nicht, dass ich so stolz auf mich wäre, weil ich ein so tolles Rennen gefahren bin, sondern weil ich mich so sehr freue, nach 5 Jahren endlich in meinem Berlin ein Rennen gefahren zu sein.
Beim Ausrollen in Richtung Kanzleramt mache ich mir meine Gedanken.
Wir stehen da, viele rufen ihre Lieben daheim an, andere übergießen sich mit dem letzten Rest ihrer Wasserflaschen, einige schnattern munter drauflos, und wir warten, an der Reihe zu sein, um die Transponder zurück zu geben.
Dann geht es zum halben Liter alkfreien Hefeweizen, das nur so in meiner Kehle zischt: Meine Strategie, ohne Pause und mit 3 Flaschen zu fahren, hat gerade so geklappt. Auf den letzten 10 Kilometern bin ich trocken gefahren, dieses Rennen hätte keinen Meter länger sein dürfen!
Dafür habe ich aber nur 3 Gels gelutscht.
Ich suche und finde einen einigermaßen ruhigen Platz. Neben mir machen es sich hunderte, tausende fertiger Helden gemütlich. Einige plappern sich enthusiastisch das Erlebte vom Leib, andere telefonieren mit den gestürzten Teamkameraden im Krankenhaus, ich rufe Freundin und Eltern an.
Über uns beginnen sich fette Wolken drohend zu stapeln – die Gewitter ziehen auf.
Ich aber bin durch, frohlocke ich und beschaue mir das Erreichte: 3:02 Stunden mit einem Schnitt von fast 39 km/h sind ein super Wert, obschon ich mich später sehr über die 2 Minuten ärgern werde.
Alles in allem bringt mir dies den 327ten Platz in meiner Altersklasse ein. Von 1050 Fahrern. Ordentlich – aber aufgrund der immensen Leistungsunterschiede nicht mit den Ergebnissen eines Rennens im Rahmen des German Cycling Cups zu vergleichen.
Zu Hause hänge ich die Velothon-Medaillie neben die der Cyclassics und resümiere: Der Velothon war ein top organisiertes Rennen. Keine Frage. Er war ein langes Rennen, ein schlauchendes Rennen.
Aber ein Rennen, das sie für eine breite Masse konzipiert hatten.
Wenig anspruchsvoll gestaltet sich die Streckenführung. Es gibt keinerlei Anstiege, die von Gradient oder Länge her für eine Selektion hätten sorgen können. Ebenso sieht es mit den Abfahrten aus. Letzteres kann ich aus Sicherheitsgründen verstehen – ersteres nicht.
Als entscheidend bleiben mir zwei Abschnitte in Erinnerung – ungewollt hat das lange Geradeausstück auf der B101 für Vorentscheidungen gesorgt. Wer hier die Gunst der Stunde und den starken Rückenwind ausgenutzt hat, konnte wertvolle Minuten und Platzierungen gutmachen.
Zum zweiten der Flughafen Tempelhof: Die meisten der Rennfahrer waren weder auf den atemberaubenden Anblick noch (und das ist das Entscheidende) auf den Wind vorbereitet. Die verbreitete Unfähigkeit, wirksame Windstaffeln zu bilden und der Fakt, dass die meisten nach über 100 Kilometern schon deutlich abgekämpft waren, hat hier vielen Rennfahrern wertvolle Zeit und Körner abgenommen.
Wie immer: Wer an einem Rennradrennen teilnimmt, sollte ich vorab sehr genau mit der Strecke, ihrem Profil und der Windrichtung auseinandersetzen!
Velothon 2011 – ein schönes, wenn auch wenig spektakuläres Rennen für mich, das aber durch den Fakt, meiner Heimat eine sportliche Aufwartung gemacht zu haben, für immer einen besonderen Platz in meinem Palmarés haben wird.

Gefahren: 120 km in 3:02 Stunden mit 38,6 km/h avg und 59 km/h Spitze.

9. Mai 2011

German Cycling Cup, die Erste: Tour d´Energie in Göttingen

Ein Wirrwar aus angeschnallten Laufrädern im Fond, baumelnde Helme und bei jeder Bremsung durch den Transporter kullernde Trinkflaschen sind für Jedermann, der heute am Samstag mit uns die halbwegs vollen Fahrstreifen der A7 teilt ein untrügliches Zeichen: Hier fahren ein paar Jungs zu einem Radrennen.

Denn endlich ist es soweit: Nach meinen beiden ersten RTFs steht nun unsere Premiere beim diesjährigen German Cycling Cup auf dem Programm - das zweite Rennen im Kalender soll unser Einstieg sein, nachdem wir die Köln Challenge aus Termingründen nicht mitfahren konnten.

Göttingen lockt, für die Tour d´Energie haben wir 4 Fahrer aus unserem SunClass Cycling Team abgestellt, das Bestmögliche zu erreichen.
Nach nur 2 Stunden Fahrt im Teambus erreichen wir unser Hotel. Freundlich empfängt man uns und schnell wird klar: Wir sind hier nicht die einzigen Rennradler. Mit uns packt ein Herr aus Bremen gerade die Cosmic Carbone-Laufräder auf sein Rennrad, weitere Rennradler, ein gutes Dutzend, steigen allein in unserem Hotel ab.

2.700 sollen es beim Rennen insgesamt werden.

Wir reihen bei bestem Sommerwetter unsere Rahmen auf dem Parkplatz auf und beginnen mit der Montage der Laufräder. Heiko, seines Zeichens mit 5 Cyclassics-Teilnahmen einer unserer erfahrendsten Rennradler, hatte zuvor in einer 3-stündigen Odyssee durchs heiße Göttingen auf der Suche nach einem Continental Grand Prix 4000 S unsere frühe Ankunft gehörig durcheinander gebracht.

Aber besser jetzt einen sich auflösenden Mantel ersetzen, als ihn im Rennen zu verlieren.

Swantje, mit der ich meine beiden RTFs bestritten und in 2010 den Münsterland.Giro gefahren bin, wechselt daraufhin gleich auch noch zur Sicherheit einen ihrer Schläuche. Zufrieden und in Höchststimmung baut sie ihr Cervélo S1, ich mein R3 und Heiko seinen Alu-Panzer, ein Canyon aus den frühen 2000ern, zusammen. Flows Isaace wird dann als letztes zusammen gesetzt.

Eine Stunde später haben wir uns frisch gemacht und erkunden die Stadt.

Es ist ein kleines, feines - fast mittelalterlich anmutendes - Städtchen, das uns mit vielen Cafés, Eisdielen und einem für eine Uni-Stadt nicht überraschend jungem Publikum begrüßt. Es herrscht ausgelassene Sommerstimmung und nachdem sich Swantje verabschiedet, eine Freundin zu treffen, machen Heiko und ich es uns in einem Biergarten gemütlich, trinken ein zünftiges Hefe zu einem Riesenteller Pasta und lassen die Seele baumeln - Auftanken für den morgigen Renntag.

Der Vierte im Bunde - Florian, genannt Flow - hat heute noch Stadionkarten für das letzte St.Pauli-Spiel in der ersten Liga und sieht sich gerade an, wie seine Mannschaft mit 1:8 von den Bayern zu Staub zermalmt wird. Er wird heute Nacht (vermutlich in ausgelassener Höchststimmung) den Zug besteigen und gegen 0 Uhr im Hotel eintreffen.

Oder aber mit genug Wut im Bauch für starke Antritte ...

Die Nacht ist ruhig, ich schlafe tief und fest, bis ich halb 8 aufstehe. Nebenan klingelt Heikos Wecker. Diese Nacht, so notiere ich in Gedanken, ist die erste Rennnacht, in der ich nicht wach gelegen hätte.

Geduscht, gecremt und geschniegelt mache ich mich daran, mich bereit zu machen: Die Startnummer (die Durchwahl eines meiner Kunden) hinten ans Trikot, die Aufkleber für den Fotoservice an den Helm, Transponder klarmachen. Reifendruck am Bike checken, Schuhe checken. Alles fein.

Frühstück.

Unten trudeln sie alle nach und nach ein. Erst Heiko, der bestens gelaunt scheint, dann Swantje, die ebenfalls eine gute Nacht hatte, dann Flow.

Der "hustet sich erstmal ab", wie er uns schildert: Die gute Göttinger Luft bekomme seinen Großstadtbronchen nicht. Ziemlich mitgenommen sieht er aus, er schildert eine bunte Party bei bester Feierlaune und eine Spätankunft um halb eins im Hotel mit Solala-Komma-Acht-Promille.

Sein Trikot habe er vergessen.

"Mmmh, doof, Flow", werde ich fast sauer. Immerhin haben wir einen Sponsor.
"Kein Problem," sagt er, "ein Kumpel hat das einer ICE-Schnecke mitgegeben - es kommt 10:15 Uhr hier an ..."

Äh - das stelle sich man mal vor: Ein alkoholisierter St.Pauli-Fan rennt nachts um 2 den Hamburger Hauptbahnhof ab, checkt alle Züge, die bis 10 Uhr durch Göttingen fahren, wartet die Züge ab und versucht dem Bahn-Personal zu stecken, das Trikot bis Göttingen mitzunehmen ... alle Achtung!

Mit 5 Euro hat sich die Dame vom ICE-Bordrestaurant den Kurierdienst entlöhnen lassen.

Da wir uns schon gestern bei der Akkreditierung alles abgeholt haben, kennen wir den Weg zum Start und brechen alsbald auf. Alle in zünftigen SunClass-Trikots, außer Flow, der noch ein reinweißes Stöffchen mit einer Kuh trägt.

Und so fahren nur Swantje, Heiko und ich in den Farben unseres Sponsors - Flow hält die Flagge für alle Milchviecher dieses Landes hoch.

Und bald merken wir, dass es zu knapp wird, noch rechtzeitig das Trikot abzuholen, denn obwohl die Straßen bereits gesperrt sind und wir unbehelligt von Autoverkehr in die Innenstadt kommen, dann den noch leeren Zielbereich passieren, wissen wir, das wir den Trikot-ICE ziehen lassen müssen: Der Anstieg zum Start, der auf den Zieteterrassen stattfindet, hat es in sich!

Gestern sind wir den lang gezogenen Anstieg noch bequem und Diesel-getrieben in unserem Transporter gefahren - rund 2 Kilometer geht es beständig bergauf, ich schätze 6 bis 7 Prozent.

"Und das nach dem Frühstück!", beschweren sich einige der Fahrer, die wir nun, gemütlich in größeren Gruppen bergan radelnd, antreffen. Die Drei lassen es ebenso ruhig angehen, ich selbst nutze die Steigung, um mich warm zu fahren, und lege einen Zahn zu.

Leicht wie eine Feder fliege ich die Schräge hinauf und spüre es: Heute ist ein guter Tag für meine Beine!

Im Startbereich herrscht pures Chaos. Wir sind für den Block E eingeteilt, vorne in A drängeln sich die "Profis" - Jungs von Deutsche Post Rennradteam, St.Pauli, Nutrixxion und unsere "Hauptgegner", das Team von Merkur-Druck.

Wieso Hauptgegner? Ebenso wie SunClass kommt auch Merkur-Druck aus Norderstedt bei Hamburg. Aber leider anders als unser Sponsor, wird in diese Jungs angeblich eine Summe von 100.000 € gepulvert. Unter dem Motto "Wir holen den German Cycling Cup" sind sie vollmundig angetreten, es allen zu zeigen.

Unter dem Motto "Wir schauen mal, was wir im Duell Norderstedt gegen Norderstedt mitzureden haben" sind wir angetreten.

Das übliche Spiel vor dem Rennen: Ausgelassen wird gefeixt, werden Witze gerissen und altes Rennfahrer-Garn neu gesponnen, ziehen Fetzen von Tech-Talk anderer Rennfahrer zu uns rüber. Man beschaut sich, taxiert und schätzt ab, man bespricht die Rennstrecke, Alte Hasen würzen mit schlauen Sprüchen, Rookies garnieren mit "ein Kumpel hat mir erzählt".

Heiko und Swantje halten ihre Nasen in die perfekte Sonne.

Flow ist zu seinen Vereinsmitgliedern von St.Pauli gegangen und versucht, einige Geheimnisse der Pauli-RTF im September herauszubekommen.

Ich selbst schaue mich interessiert um. Im Unterschied zu den RTFs sieht man hier wesentlich mehr organisierte Fahrer - kaum Trikots, die nicht die eine oder andere Teamzugehörigkeit vermitteln. Klar: Beim GCC geht es um die Teamwertung.

Was mich auch wundert, sind die überdurchschnittlich vielen älteren Rennfahrer - mehr als sonst bilde ich mir ein, silbriges Haar und manch wohlgeformten Bierbauch zu sehen.

Heiko entdeckt, dass er sein Vorderrad falsch herum eingebaut hat.
Auch Swantje findet, dass es jetzt, etwa 10 Minuten vor dem Start, an der Zeit wäre, die unzureichende Bremswirkung hinten zu checken. Und ich bin nur froh, dass ich so ein Streber bin und sogar das Display meines Garmin Edge 800 mit Brillentüchern geputzt habe ...

Beruhigt sehne ich den Start herbei.

Irgendwann dringt Beifall von ganz vorn zu uns durch. Oha, es geht los!
Ein letztes mal umarmen wir uns, wünschen uns gute Fahrt, Flow ist auch schon da und zu den blasmusikalischen Rhythmen der Göttinger Feuerwehrkapelle, die "Resi, I´ hol Dir mit´m Traktor ab" spielt, setzt sich das Peloton langsam in Bewegung.

Endlich!

Doch noch geben wir kein Gas. Die vorhin mehr oder weniger mühsam zu den Zieteterrassen erklommenen 139 Höhenmeter radeln wir - stark eingebremst - hinter Polizeimotorrädern und teilweise auf Kopfsteinpflaster wieder zu Tale.

Unverständlich, warum sie ein Rennen hoch oben starten, dann knapp 3.000 Fahrer mit 15 bis 20 km/h durch die Stadt neutralisiert eskortieren, um dann am Ortsausgang erst das Rennen freizugeben. Wenn Sicherheit der Punkt ist - warum dann nicht das Rennen mit dem 139 Meter messenden Anstieg zu den Terrassen enden lassen? DAS wäre mal eine Selektion!

Wie beschrieben, geben sie das Rennen mit Ortsausgang Göttingen frei. Sprunghaft, wie gewohnt, steigt das Tempo hart an. Nach einigen Antritten sehe ich eine stetige 44 auf meinem Display - Renntempo!

Noch ist das Feld ungeordnet, noch hat die natürliche Auslese nicht die mit den guten Beinen nach vorn und die mit den schlechten nach hinten sortiert. Anfänger und Kuchen-Daddies schlenkern wild über die Straßenbreite. Dann und wann überhole ich kopfschüttelnd einige Sozpäds mit Hörnchenlenkern.

Flow übernimmt die Führung unserer Quadriga, dann ich, dann Heiko und Swantje hintendran. Wir passieren einen Kreisel, blitzschnelle Entscheidung - Flow ruft "Links rum!" und so schießen wir anders als der große Teil des Feldes links herum. Unser Glück - genau neben uns, im rechten Teil des Kreisels, kommt es zu einem Sturz. Einige Rennradler fahren auf, stürzen wiederum selbst. Großes Geschrei bleibt hinter uns zurück.

"Glück gehabt!", rufe ich Heiko zu. Wenn Flow nicht diese Entscheidung getroffen hätte, wäre ich jetzt um 6.500 € Carbon-Schrott reicher.

Langsam sortieren wir uns. Heiko, Flow und ich schließen uns einer Gruppe offensichtlich starker Fahrer an und wechseln auf die linke Spur. Zehn, fünfzehn Fahrer überhole ich jede Minute, viele von ihnen schnaufen schon, einige gar ziehen das erste Gel.

Es sind keine 8 Kilometer auf dem Tacho.

Swantje verliere ich, sehe ich einmal wieder, dann überhole ich sie wieder und sehe sie bis Rennende nicht mehr.

Hart geht es mit dem Wind aus Göttingen weg, dem ersten Anstieg entgegen.
Durch grünende Felder und einem gelb erblühendem Overkill aus ölreichem Raps fliegt das Peloton wie eine wütende Plage surrender Heuschrecken biblischen Ausmaßes durch die sommerliche Landschaft.

Immer wieder raunen sie neben mir: "... da kommt er ..." und "... Helm ab zum Gebet: Hoher Hagen!" hecheln sie sich atemlos den Namen des einen unserer zwei heute zu bezwingenden Berge zu.

Heiko und Flow fahren einige Positionen vor mir. Ich kann zumindest Heikos Trikot gut erkennen und da er sich nicht von mir zu entfernen scheint entscheide ich mich dazu, keine irre Aufholjagd zu starten sondern (im Windschatten) bei meiner Gruppe zu bleiben.

Ab und zu wechseln wir uns ab, da uns aber ein kräftiger Wind anschiebt, erübrigt sich das aber nahezu: Dann und wann erreichen wir, wenn wir einen der sanften Vorhügel abreiten, sogar 52 km/h.

Irgendwann schließe ich dann zu Heiko auf, Flow sehe ich allerdings bis Rennende nicht mehr wieder.

Just in diesem Moment kommt der Berg dann von links ins Blickfeld. Wie zum Schafott führt die Strecke schnurgerade einen Anstieg hinauf. Nun haben wir ihn erreicht, erzählen die, die noch Puste haben - der Hohe Hagen steht an!

Hinter der Rechtskurve geht es dann merklich in die Steigung. Zunächst durch ein kleines Dorf, da stehen sie und jubeln, applaudieren, peitschen uns den Hang hinauf, später im Wald, steil und steiler wird es, die Leute schalten auf die kleinen Blätter, wählen die großen Ritzel, keuchen und murren, maulen und stöhnen.

Mit jedem Höhenmeter, den wir uns emporschrauben, verstummt auch das Murren - alle Energie geht nun in die Beine. Muss in die Beine gehen, denn das stimmt schon, der Hohe Hagen fodert alles! 10, bis 12 Prozent ist es hier steil und nachdem ich federleicht am Anfang noch im Sitzen die Prozente abreite, muss auch ich bald aus dem Sattel gehen.

Und doch: Ich überhole und überhole. Was bei den RTFs schon zu beobachten war, kommt beim Rennen wieder - ich scheine ein Bergfahrer zu sein.

Aber auch ich leide dabei. Auch mir tut es weh. Aber ich komme schneller hoch, als der Großteil der anderen.

Hoher Hagen. Irgendwann habe ich ihn dann. Irgendwann stehen sie und rufen "nur noch 100 Meter!", irgendwann haben sie die wahnwitzige Steigung Tour de France-artig mit Botschaften bemalt, irgendwann geht die Wand endgültig wieder in die Horizontale über, ich atme schwer aus, ziehe zwei, drei, viermal kräftig an meiner Flasche, schalte wieder aufs große Blatt und freue mich auf die Abfahrt.

Als ich abtauche in die Negativ-Schräge blicke ich mich um: Neben und unmittelbar hinter mir ist keiner. Sehr gut! Einen schönen Vorsprung herausgefahren! Also konzentriert in die Abfahrt ... schnell, wahnsinnig schnell bin ich von 17 auf 50 km/h. Kurve Nummer 1. Hart in die Bremse, von 65 etwa auf 40, reinlegen, durchfahren, Bremse lassen und wieder schnell werden.

WUUUUSCHHHHHH! - Neben mir rauschen zwei auf Lightweight-Carbonrädern in extremer Abfahrtshaltung vorbei. Ich erschrecke so sehr, dass ich fast verreiße. Als ich mich fange, sind sie schon die nächste Kurve entschwunden. Linkskurve. Von hinten Bollern neue Carbonräder heran. Ich bin echt ein Hasenfuß! Loslassen, lass die Bremsen los!, denke ich mir und lasse rollen.

Doch zu sehr mache ich mir Gedanken, lasse mal lieber die Ideallinie frei, versuche, weiter außen durch die Kurve zu kommen. 70 km/h lese ich, als ich schnell einen Blick aufs Tacho erhasche - Verdammt, verdammt! - zum Fluchen keine Zeit, die Leitplanke fliegt auf mich zu, zu schnell, zu schnell!, denke ich, bremse, keine Wirkung, Abhang hinter der Leitplanke. Abhang und Kiefernstämme. Bremsen, stärker, das Hinterrad bricht aus. Mein Gott!, schießt es mir in die Kopfschlagadern, sofort 200er Puls, 50 Grad Hitzewallung, Alarm im ganzen Körper, das Heck wirbelt herum, hinter mir brüllen sie schon "UNFALL!!!" und bremsen, ich mache noch "Oooh-Hooo" und kann im letzten Augenblick das Heck stabilisieren, schieße mit 2 Zentimetern Abstand an der Leitplanke vorbei, korrigiere meinen Kurs und schicke ein Stoßgebet gen Himmel, als mich der Pulk überholt, einer brabbelt noch "Schwin gehabt!" in den Fahrtwind. Ich atme erleichtert aus. Beruhige Dich!

Und merke, dass ich noch immer 60 Sachen draufhabe.

Die nächste Kurve durchfahre ich weniger rasant.

Dann spüre ich eine Hand auf meinem Rücken - Heiko schießt vorbei: "Komm, das ist ne geile Gruppe!", ruft er. Zu spät schere ich aus und in den Windschatten seines Grupettos, als ich antreten kann, sind schon zwei Dutzend Fahrer zwischen uns.

Als wir auf einer wunderbaren, abgesperrten B-Straße fahren können, hat der Wind und die erste harte Selektion am Hohen Hagen das große Peloton gesprengt. Mir sitzt noch immer der 70 km/h-Schock in den Fasern, der Wind peitscht seitlich in uns hinein und ich muss mich mit 10 anderen allein wild und ungeordnet der Aufgabe stellen, Heiko einzuholen.

An ein vernünftiges Kreiseln ist nicht zu denken. Vorn fahren zwei Starke, dann sind alles mehr oder weniger schwache Fahrer. Sogar ein Kind fährt hier mit. Weit vorn kurbelt tapfer ein Hörnchenlenker.

Ich entscheide mich, passiv zu bleiben: Selbst wenn ich Führungsarbeit leiste, wird diese Gruppe niemals nach vorn kommen. Und da wir trotzdem einen hohen 30er-Schnitt fahren spekuliere ich darauf, Heiko beim nächsten, noch schlimmeren Anstieg wieder einzuholen.

Meine Spekulation wird sich als richtig erweisen: Bald drehen wir wieder in den Wind, die Strecke steigt zunächst leicht an, die Geschwindigkeit geht herunter und es stauen sich wieder mehr und mehr Rennräder am Fuße des Berges. Ein zweites Mal geht es über den Hohen Hagen, diesmal in der weitaus fieseren Variante.

Ich beglückwünsche mich zu meinem Gespür, denn nun kann ich halbwegs ausgeruht, versorgt mit einem Gel und genug Flüssigkeit in diesen Anstieg gehen.

Während sich die anderen ganz rechts einordnen und eine langsam dahinkriechende Schlange aus seltsam entrückt und abwesend Dreinblickenden bilden, eine Prozession des Leidens sich durch diese wunderbare Landschaft walzt, gehe ich nach links und jubiliere - wiederum auf dem kleinen Blatt hefte ich mich an die Camouflage-Uniform eines riesigen St.Pauli-Fahrers und zusammen mit 2, 3 anderen beginnen wir aufs Neue, die langsamen Fahrer zu überholen.

Erst einen.
Dann zwei.
Dann zehn.
Dann zwanzig ...

Unten an der Waldgrenze knickt die Straße nach rechts, merklich steigt der Gradient an, merklich lässt das Tempo nach. Nun schalte auch ich auf das zweitgrößte Ritzel.
Und dann erinnere ich mich plötzlich an Laurent Fignon und sein Buch. Und entscheide mich, etwas auszuprobieren. Schon oft und viel darüber gelesen, heute will ich es einfach mal selbst sehen: "Rhythmusverschärfung am Berg - Klappe, die Erste."
Hinter mir klebt ein gelbes Trikot an meinem Hinterrad. Nicht, dass ich ihm signifikanten Windschatten geben würde, aber er klebt da nunmal. Nehmen wir an, ich wäre jetzt Andy Schleck am Ventoux. Hinter mir Contador. Gleichförmig treten wir. Selbe Frequenz, selber Speed. Schneller als die anderen. Ein Duo. Perfekter Einklang. Aber er darf da nicht kleben! Ich muss Abstand gewinnen!
Also los.
Wir überholen gerade wieder einer 5er Gruppe, langsam, langsam, einen nach dem anderen. Dann, in Höhe den Zweitvorderen, gehe ich plötzlich aus dem Sattel, schalte einen Gang hoch und beschleunige. Nicht wahnwitzig viel, kein Teutonenantritt, nur, ich beschleunige, trete gleichmäßig im Wiegetritt, lasse die Fünfer hinter mir, fahre eine 20-Meter-Lücke zu, setze mich vor drei weitere Fahrer weiter oben, schalte herunter und kurbele im alten Tempo weiter.
Nach einem weiteren Fahrer drehe ich mich um: Gelbtrikot-Contador ist weg.
Steil bergan fahren wir von der gleißenden Sonne in den schattigen Wald. Nun stehen auch mehr Zuschauer am Rand und feuern einen jeden von uns an, als seien wir die Profis. Und ein bisschen stelle ich mir vor, sie jubelten, weil ich gerade in einer heldenhaften Aktion Contador geschlagen hätte.
Mein inneres Grinsen verstummt, als ebenso mühelos wie ich eben der Riesen-St.Paulianer an mir vorbeizieht. Ich kann gerade meine Flasche in den Halter wuchten und mitgehen. Denn am Paulianer muss ich dranbleiben, sagt mir meine Stimme ...

Und Recht hatte sie, denn der Mann gibt einen Rhythmus vor, der mich schnell und stetig nach oben bringt. Diesmal bin ich Contador. Und lasse mich nicht abschütteln. Nach einem weiteren Dutzend fahrern sehe ich ihn dann endlich: Heiko!
Ruhig bleiben, treten, atmen, ruhig bleiben! Ich fokussiere ihn, visiere ihn an und nach einer Minute bin ich neben ihm.
Als er merkt, dass ich ein Foto von ihm mache - im Vorbeigehen - ruft er mir zu: "Am Berg macht sich Dein Gewicht bemerkbar!"
Ja. Genau. Und mein Training, denke ich mir.

Nun aber reingehauen, lautet meine Devise. Denn obwohl wir in einem Team fahren, steht der teaminterne Tagessieg zum Greifen nahe. Flow und Heiko sind die stärksten Fahrer in unserem Team. Heiko trainiert seit Jahren auf dem Rennrad, ist Triathlet und hat eine große Erfahrung, Flow hat Oberschenkel, die so dick sind, wie ich als ganzer Mensch.

Beide bringen Leistungen, von denen ich nur träumen kann.

Und doch: Heute hier und jetzt scheint sich meine harte Arbeit während der Wintersaison auszuzahlen. Ich habe Heiko überholt! Und wie es aussieht, auch Flow. Eine Chance, die sich so schnell nicht wieder bieten wird.

Also hole ich alles raus. Wenn, dann kann ich nur hier, nur hier in der Steigung punkten. Heiko wird nach dem Rennen ein Max Speed von 83,5 km/h ablesen - Welten mehr, als meine 70 auf der Abfahrt. Und uns steht noch eine steile Abfahrt von diesem Anstieg bevor. Wenn, dann kann ich nur jetzt genug Vorsprung herausfahren, den ich dann hoffentlich bis ins Ziel mitnehmen müsste, ohne dass ein starker Abfahrer wie Heiko ihn mir wegnimmt.

Und so trete ich rein. Wie besessen beiße ich die Zähne zusammen und lege ein paar Schippen nach. Ich gehe rein, wo ich sonst 15 km/h in der Steigung fahre, sind es nun 18. Ich überhole St.Pauli, ich wechsle schnelle Wiegetritt-Passagen mit halbwegs erholsamen Sitzend-Minuten, noch ein Gel, was solls, vor lauter Zittern drücke ich mir die halbe Grütze in den Handschuh, im Nu klebe ich am linken Brems-Schalt-Hebel. Scheiß drauf!

Wiegetritt. Wow, 20 km/h und das am Berg!

Sitzen. Atmen. Trink was! Flasche wechseln. Atmen, ruhig, schaue nach vorn: Noch eine Serpentine. Wieder mehr Zuschauer. Sie rufen und brüllen, feuern uns an. Botschaften auf dem Asphalt. Ich überhole immer mehr Leute.
Okay. Kurve. Mit Cheerleader-Puscheln winken und schreien junge Mädchen. Zwanzig herrliche Damen im besten Abitur-Alter. Mein Zeichen. Ich schere aus, hochschalten, raus aus dem Sattel, ein "Oh-Wow!" brandet auf, sie schreien, als ich vor ihnen in den Wiegetritt gehe, beschleunige und förmlich an ihnen vorbeischieße. Leer nach 100 Metern, setzen, langsam treten, ein ruhiges Stück, eine Kurve, noch einmal Leute, noch einmal Anfeuern - und da das Zeichen - "Bergwertung 2" - erlöst!, denke ich und im gleichen Augenblick: "Verdammt, die letzte Chance, Zeit gutzumachen!", also, auch wenns weh tut, raus, hoch!

Ich schieße über den Kamm, setze mich, kein Leerlauf, nicht anhalten, lasse die Verpflegung rechts liegen, gleich großes Blatt, gleich in die Abfahrt. Schnell noch was getrunken, flachen Buckel machen, treten, treten, treten - nun geht die Uhr, nun zeigt es sich, was ich herausgefahren habe!



Ich gebe Gas. Es stehen Schilder im Wald: "Gefährliche Kurven!" Sie sind rot gepinselt. Dann reguläre Straßenschilder, die 12-prozentige Gefälle anzeigen. Fotos machen ausgeschlossen, ebenso wie auf dem Anstieg muss ich mich konzentrieren - der Griff ins Trikot zum Fotohandy zu gefährlich.

Ich taste mich an die Kurven ran. Links herum, abtauchen, Speed baut sich auf, Luft knallt in meinen Ohren. Durch den Wald geht es tiefer, die Ohren knacken - Druckausgleich. Reinbremsen, reinlegen, loslassen - rollen!

Es macht Spaß. Vor mir eine größere Gruppe, Zweierreihen. Gesittet geht es den Berg hinab. Kein Gerase, diszipliniert surren Freiläufe bei 60 km/h. Wir sammeln uns, zwanzig, dreißig Fahrer, als wir aus dem Wald schießen - noch 25 Kilometer bis Rennende.

Heftiger Gegenwind stürmt uns entgegen, als wir wieder in Höhe der Rapsfelder fahren. Harte Böen reißen an Carbonrädern - wir müssen heftig arbeiten, um überhaupt die 30 zu halten, für ein Grupetto in Rennhärte keine Geschwindigkeit.

Ich habe ein Ziel, als beteilige ich mich auch an der Führungsarbeit. Atemlos presche ich voran und ziehe die Meute. Einer in Grün-Gelb zieht an mir vorbei: "... will auch mal führen!", ruft er. Okay, gern - bittesehr, ab in den Wind.
Nach 500 Metern schüttelt er den Helm und lässt sich zurückfallen. Also wieder ich.

Es sind die letzten 15 Kilometer - nichts als harte Arbeit. Zwar verspricht das Höhenprofil ein stetiges Gefälle, aber der harte Gegenwind macht alles zunichte. Wir müssen richtig treten, fliegen durch die letzten Dörfer, werden angefeuert - immer wieder blicke ich mich um.

Kein Heiko.

Irgendwie müssen sie nun auch die 45 km-Fahrer (Mountainbiker, Baumarkträder und die Hörnchenlenkerfraktion) mit unserer Gruppe zusammenführen, denn immer mehr haben wir Gruppen von unorganisierten Hobbyfahrern zu überholen. Keine ungefährliche Sache, wenn sich 30 Rennräder in Zweierreihen an ungeordnet fahrenden, im Pulk durcheinander eiernden Amateuren vorbeipressen müssen.

Immer mehr Radler sammeln wir ein, immer mehr hängen sich an unsere schnelle Gruppe. Darunter viele, die schon fertig sind, die nun ihre Chance wittern. Völlig ausgepowerte Fahrer geben noch einmal alles, um mit unserem Windschatten ins Ziel getragen zu werden: Mehr als einmal muss ich laut Leute anbrüllen, die sich nicht disziplinieren können.

Noch vor Göttingen kommt der Wind von hart rechts vorn - eine Windkante entsteht. Die, die merken, dass sie zwar hinter anderen, aber im Wind fahren, ziehen vollkommen panisch nach links in den nun schräg einfallenden Windschatten - und gefährden die, die da schon fahren. Da sich das Feld nun von vorn rechts nach hinten links diagonal über die Straßenbreite zieht, kann auch keiner mehr überholen - geschweige denn, dass wir andere überholen könnten.

Jedes mal gibt es großes Gerufe und eine verbale Pöbelei, wenn Anfänger mal wieder überlastet sind.
Aber auch das meistere ich. Da ich Heiko nicht ausmachen kann, lasse ich es die letzten Kilometer etwas langsamer angehen: Ich halte mich aus der nervösen Spitzengruppe raus, lasse die Kuchendaddies an mir vorbei, sollen sie doch ...
Hinter meinen 20 Mann überfahre ich nach 2:24 Stunden und 84 Kilometern die Ziellinie im nun vollen Endsprint, richte mich im Ziel auf, atme ruhig durch und bremse ab. Stoppuhr aus. Anhalten, tiefen Schluck nehmen.

Als ich mich einige Minuten (genau 2) später mit der Kamera umdrehe, fährt Heiko über die Ziellinie. Und ich jubele ihm zu - und meine dabei auch mich selbst. Zum ersten Mal Heiko geschlagen! Wow. Wo es doch anfangs schon ein Erfolg gewesen wäre, an ihm dranzubleiben, habe ich ihn hier und heute schlagen können - 2 Minuten Vorsprung. Wahnsinn! Ich freue mich.

Ein vollkommen fertiger Fahrer für Merkur-Druck kommt 10 Minuten nach mir ins Ziel. Nicht ohne Freude lichte ich auch ihn ab - nachdem ich eine Mitstreiterin seines Teams am Hohen Hagen überholt habe, mein zweiter Norderstedter, den ich hinter mir lassen konnte. So sieht also Erfolg aus: Wo ich mich sonst freue, angekommen zu sein, mischt sich heute die Zufriedenheit über ein wirklich starkes Rennen.

Im Gewusel kommt schließlich auch Swantje an. Sie grinst mir zu, winkt und wir umarmen uns auf der Ziellinie - auch sie hatte einen super Tag, sagt sie, sei toll durchgekommen und hat die Berge fantastisch gemeistert.

Ihre Zahlen werden es belegen: In ihrer Altersklasse hat sie bei den Frauen Platz 44 belegt - eine tolle Leistung! Später wird Heiko vorschlagen, dass wir unsere Teamstrategie ändern und nur noch für Swantje fahren. Denn der German Cycling Cup vergibt "echte" Punkte nur für die ersten 200 Platzierten - danach gibt es unabhängig von Zeit und Platzierung nur noch plain 15 "Mitmachpunkte".

Und da hat Swantje also richtig abräumen können: 191 Punkte bringt ihr der 44te Platz ein.

Wir drei Männer hingegen - mit mir als best platzierten 441ten - können nur jeweils 15 Punkte generieren. Also heißt das wohl in Zukunft: Sprinterzug für Swantje. Und wenn wir uns das nächste Rennen ansehen - die Neuseen-Classics in Zwenkau bei Leipzig - wird der wohl auch vonnöten sein.

Für mich ist der extrem lange Kurs mit seinen 145 Kilometern nichts, denn Leipzig gilt als das flacheste aller GCC-Rennen.

Ich finde Heiko im Gewusel, Flow ist Wasser holen.
"Wie siehst Du denn aus!?!", entfährt es mir: Im Gesicht, das Trikot und seine Hosen sehen aus, als sei vor ihm in der Steigung ein Gehirn geplatzt. So ähnlich muss es sich dann auch zugetragen haben, denn er berichtet, dass ihm ein Powergel in der Hand "hochgegangen" sei.
Das kenne ich ...

Wunderschöne Szenen spielen sich ab: Pärchen, die die Herausforderung Tour d´Energie gemeinsam in Angriff genommen haben, nehmen sich in die Arme, Töchter schieben stolz die Rennräder ihrer Daddies, Ehefrauen nehmen ihre abgekämpften Männer in die Arme und Mädchen umarmen sich mit hochroten Köpfen, weil sie gemeinsam geschafft haben, was sie vielleicht vor 3, 4 Stunden noch als unmöglich erachtet haben.

Heiko und ich hocken uns in die Sonne und genießen es, den Muskeln etwas Entspannung zu gönnen: Für heute haben sie genug geleistet, fürwahr!

Flow und Swantje kümmern sich um die Pasta - ellenlange Schlangen an dem Versorgungszelt schrecken uns beide ab. Heiko übernimmt heldenhaft die Transponderrückgabe. Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, die Räder zu bewachen.

Á propos Räder: Wenn jedes der hier teilnehmenden nur 1.000 € gekostet hat, dann fahren hier heute 2,7 Millionen Euro herum ... eine Wahnsinnszahl. Dem Sonnenstich nahe kalkuliere ich weiter: Wenn nur 1.500 der 2.700 Teilnehmer ein Hotelzimmer zu 50 € gebucht haben, dann spülte dieses Rennen 75.000 Euro in die Kassen der Betreiber - an nur einem Tag!

Habe ich den falschen Job?

Zum Hefeweizen, das es - natürlich Alk-frei - kostenlos für alle gibt, müssen Heiko und ich uns dann doch anstellen. Hier haben sie eine Art Biergarten aufgebaut, wo ich sie alle nochmal sehen kann: Die Steigungshelden, die Abfahrtskönige, die Windkanten-Baroudeure. Alle sitzen sie da, verschwitzt aber glücklich, gebückt über ihre Schale Bolognese und fachsimpeln über das Rennen als haben sie gerade den Giro di Italia beendet.

Sollen sie, verdient haben sie es sich!

Wir stellen uns eine Teambank in den Schatten, sitzen beisammen, lockern unsere Muskeln und bücken uns dann auch über die überraschend al dente gekochten (diesmal keine Matschepampe) Nudeln - wundern uns nur, dass es die Pasta-Party nach statt vor dem Rennen gibt - fröhnen einem wohlschmeckenden, lokalen Weizenbier und schauen dem nicht enden wollenden Strom der sportlichen Passanten zu.

Also nun mal langsam: Wie machen wir das nun beim nächsten Rennen? Immerhin wird vom SunClass-Team die selbe Besetzung an den Start gehen ... profilloses Rennen ... Flachetappe ... Windkante ... Windschattenfahren und Sprinterzug ... Worte, die über die Biergarnitur fliegen.

Nebenan plaudert Flow mit einem Hamburger. Und ich wundere mich ob seines Talentes, immer und überall St.Paulianer zu finden. Ah, Flow, wo wir dabei sind: Wie schnell warst Du denn?
Nicht schnell genug - 2:29 Stunden hat er gebraucht.

Also doch: Ich gewinne die Team-interne Wertung des heutigen Rennens!

Umso freudiger genieße ich die feste Pasta und sonne mich im Glanze meines kleinen, bescheidenen Ruhmes: Heute, heute habe ich es endlich geschafft! Heute hat mich mein Gespür nicht getäuscht. Ich hatte gute Beine, war super vorbereitet und habe genau das Richtige getan: Mich auf meine Stärken besonnen und diese versucht zu platzieren.

So konnte ich an den harten Steigungen einen Vorsprung herausfahren, den ich trotz meiner Schwächen als Abfahrer und trotz einer eher mäßigen Schlussphase mit immerhin 5 Minuten vor dem bärenstarken Flow und 4 Minuten vor dem erfahrenen Heiko ins Ziel retten konnte.

4 Minuten - in Tour de France-Relation ist das eine ganze Rennrad-Welt!


Tour d´Energie also geschafft. Das erste Rennen als SunClass-Rennradteam liegt hinter uns.
Wir nutzen den Late-Checkout, duschen ausgiebig, beladen in aller Ruhe unseren Transporter und kurbeln auf die A7, die uns zügig gen Hamburg bringt.

Ich wippe mit dem Fuß auf der Kupplung im Takt der Musik, freue mich über meinen Erfolg im Besonderen und den Team-Erfolg im Ganzen: Alle heil und sicher angekommen, Swantje auf einem Superplatz gelandet und das Team SunClass immerhin auf Platz 307 von 600 - wo andere Teams schon 2 Rennen haben, schaffen wir mit nur einem Rennen gleich die Mitte.

Zuhause knutsche ich meine Süße, die nicht so recht weiß, mit meinem Enthusiasmus umzugehen, dusche noch einmal und falle ins Bett, den Schlaf der Gerechten schlafend. Alles ist fein, alles hat geklappt.

Nur eines, eines, das bleibt im Dunkeln: In welchem ICE steckt Florians SunClass-Trikot?


Gefahren: 84 km in 2:24 mit 33 km/h avg und 70 km/h Spitze bei 1.100 Höhenmetern


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