14. März 2011

Mini. Circus Maximus. Oder: Bei den Bremer Sixdays.

Okay. Die Story, wie ich es nach Bremen und in die Halle geschafft habe, ohne einen Cent zu bezahlen, erzähle ich gern mal persönlich, wenn es einen interessiert. Soweit - so gut: Gegen 0 Uhr am vergangenen Freitag torkeln Flow und ich in die bebenden Betonstrukturen - und sind vollkommen unvorbereitet auf das, was da abgeht.



Zunächst suchen wir uns einen Platz ganz weit hoch oben - hier hat man den besten Überblick. Die Halle ist rund 200 Meter lang, unten innen drin ein nagelneues Lattenoval: Und hier gleich ein Superlativ. Dem Stadionsprecher ist es wichtig, mehrmals zu betonen, dass normale Ovale bis zu 45 Grad steile Kurven haben.

Das in Bremen hat 50.


Enttäuschend wenig Zuschauer sind in der Halle: Ist der Innenraum noch dicht besucht, schätzen wir auf den Rängen keine 150 Leute. Gähnende Leere - ist das Programm für heute schon durch?

"So, liebe Sixdays-Fans ... noch ein letztes Lied, dann haben die Sportler wieder das sagen!" ruft der Sänger der Band Marquess ins Mike und schon schmettern sie ihren Hit Vayamos Companeros ins Oval.

Auf den Rängen steht einer und klatscht mit.


Während Flow auf die Suche nach Bier geht, stelle ich mich an die Strecke: Hinter der Bühne, ganz versteckt, fast, als schäme man sich, laufen kleine Männchen umher, ziehen sich ihre Lycra-Anzüge an, stellen ihre Räder auf freie Rollen und beginnen sich langsam warmzufahren.

Während vorne die betrunkene Masse wogt, treten sie hinten stoisch ihre Aufwärmübungen.


Wie jung sind die? 15? 16?

Die großen Namen kommen erst morgenl, heute sind die Amateure dran. Allerdings, als ich die Schenkelumfänge sehe, muss ich mich in Gedanken verneigen: Klaro, die Bahn gilt als Profischmiede, sie schult Fahrsicherheit, strategisches Können und Radbeherrschung und führt die jungen Talente ans große Radfahrgeschäft heran.


"Berühmtheiten" aus dem Radsport kann ich keine entdecken: Das Programm besagt, dass ein Großteil des Sports heute schon ab 13 Uhr gezeigt wurde - ein großer Teil kommt aber noch. Heute ist Amateur-Tag, die Profis und Damen kommen erst morgen.

Aber das dürfte nicht minder spannend sein: Immerhin stehen noch 9 Wettbewerbe an.

Dann packt Marquess ein. Endlich. Nach und nach gehen sie auf die Bahn, 15, 20 Fahrer. Sie beginnen, ihre Runden zu drehen. Der Stadionsprecher nudelt alle Sponsoren herunter. Dann brüllt er "LAOLA-SPRIIIIIINT!" ins Mikrofon und es schallen "De Höhner" mit Die Karawane zieht weiter aus den Lautsprechern ... ich schaue verwirrt zu Flow.



Die Fahrer sind wie an einer Perlenschnur aufgereiht: 3 von ihnen haben das britische Nationaldress des Teams Sky an, der Rest in bunten Lokaltrikots. Der Führende an Position 1 beginnt irgendwann, die Laola vorzumachen - nach Runde 10 ist der ganze Sprinterzug am laolieren und unten im Oval klatschen sich die VIPs auf die Schenkel.

Und dann, ein Knall, die Musik geht aus, odeer zumindest über in treibende Beats, ist der Sprint eröffnet.


Wie verrückt geben sie Gas, Laola vorbei, anziehen, kämpfen, rempeln, treten - Oberschenkel so dick wie ich hauen in die starre Nabe, dann das Glockegeläut für die letzte Runde, 9 Sekunden später geht einer über die Ziellinie.

That´s it. Laola-Sprint.


"Wow, das war spannend!", muss ich zugeben.

Flow bringt keinen Ton raus: De Höhner sitzen ihm als Schock noch zu tief in den Gliedern.

Als nächstes folgt die Keirin-Ausscheidung. Diese aus Japan stammende Form des Bahnradsports ist dort dermaßen beliebt, dass es zeitweise der Sport mit den höchsten Wettumsätzen im Land der aufgehenden Sonne war. Immerhin, seit 2008 ist diese Disziplin olympisch.

Die Jungs - noch pumpend vom Sprint - reihen sich auf.


Der britische Sprinter-Coach des Nationalteams, Jan van Eijden, gibt seinen Schützlingen letzte Tipps. Immerhin haben sie mit Kian Emadi eines der größten Bahnradtalente der Insel am Start.

Der Startschuss fällt, sie gehen auf die Strecke. Ein Schrittmacher-Derny zieht die Jungs an, dann gibt ein Startschuss den Wettbewerb frei. Es gilt nun, sich in ein, zwei Runden in eine möglichst gute Position zu bringen, dann läutet die Glocke - wer jetzt als Letzter über die Ziellinie geht, scheidet aus.


Wir sitzen - Gott segne die leere Halle - auf den Coaching-Bänken direkt an der Ziellinie und keine 20 Zentimeter von den Fahrern entfernt. Jedes mal, wenn sie vorbei kommen, faucht ein unheimlicher Windstoß an uns vorbei - die mächtigen Schenkel stampfen die Bahnräder durch das Oval - keine 15 Minuten dauert das Keirin aber es steigert sich in seiner Spannung ungemein. Am Ende siegt einer - wir stehen auf und applaudieren.

Einige andere, die schon länger hier sind, schlafen über uns ihren Rausch aus.


Insgesamt deutet die doch sehr ... RTL2-lastige Musikauswahl und das nicht unbedingt sportorientierte Kommentieren der Wettbewerbe darauf hin, dass bei den Sixdays dann doch nicht der Sport, sondern die Party im Vordergrund steht.

Schade, dass die Jungs hier anscheinend nur Beiwerk sind - für viele eher der Vorwand, um es heute mal richtig krachen zu lassen. Flow und mich kann das nicht abschrecken.


Die Mannschaftsausscheidung und der Teamsprint sind zwei der spannendsten Wettbewerbe, die ich heute auf der Bahn gesehen habe.

Beim Ersteren geht es eigentlich zu wie beim Keirin, nur dass sich die Teams von jeweils 2 Fahrern alle 2 Runden an den Händen greifen - einer schleudert den anderen dann nach vorn. So platzieren sie sich möglichst strategisch günstig, um bei Glockengeläut unglaublich hart in die Kurbeln zu hauen - wer als Letzter über die Linie kommt, dessen Team fliegt raus.

"Wow, superspannend!", ruft Flow begeistert.


Als dann das 500m-Zeitfahren gestartet wird, ist die Spannung greifbar: Unten sind die Jungs genug warmgefahren, sie schauen dieser prestigeträchtigen Wertung ebenso gebannt entgegen, wie wir - leider viel zu wenigen - Zuschauer. Die Helfer, unter ihnen auch der Sprinter-Coach der Briten, der hier seine Rohdiamanten für Olympia in London schleifen will, gehen in Wartestellung.

Eines um das andere Team gehen auf die harten, einsamen Runden: Zunächst vom Teamkollegen angezogen, geht es nach 2 Runden in den Einzelsprint. Gleich das erste Team legt eine Zeit von 29 Sekunden hin.

"29 Sekunden auf 500 Meter!", rufe ich zu Flow: "Das sind 60 km/h Schnitt!" Wahnsinn!


Einer der Teamsprinter fährt auf einem Bahnrad von Cervélo und ich wünsche ihm alles Glück der Welt auf den Sieg. Es wird ein schöner zweiter Platz: Das Siegerteam legt mit unter 29 Sekunden einen neuen Bahnrekord ins Oval.

Wir applaudieren und winken den - teilweise erst 17 Jahre alten - Jungs zu, als sie auf ihrer verdienten Ehrenrunde grinsend die Blumensträuße ins Publikum werfen. Hier wird toller Sport geboten - kaum auszudenken, wie es hier abgehen könnte, wenn die Halle voll wäre!


Der Abend klingt aus bei zwei Derny-Wettbewerben, die ich allerdings recht uninteressant finde. Zu verstehen ist es: Nachdem die Fahrer hier seit 19 Uhr volle Leistung geben und wir nun stramm auf 2 Uhr nachts zugehen, ist der Windschatten anscheinend sehr willkommen. Aber der Schein trügt: Auch wenn die beleibten Schrittmacher für ordentlich Saugkraft sorgen - treten müssen die Jungs trotzdem, und das nicht wenig!

Die Wettbewerbe enden kurz nach Viertel nach zwei - leider wird bei der Siegerehrung schon allzu auffällig im Innenraum abgebaut und saubergemacht: Neben den wenigen Zuschauern sorgt das für zusätzliches Kopfschütteln.


Was dann folgt ist ein Ausflug in die wahre Welt der Sixdays: Traditionell aus den Kirmesrennen hervorgegangen, sehen wir bei unserem anschließenden Bummel durch die "Eventzone" nicht nur, zu welchen Leistungen die Evolution alles in der Lage ist, wir setzen unsere Lungen seit Einführung des Rauchverbotes nicht mehr gesehenen Belastungen aus und bekommen die ganze Breitseite der schlimmsten Ballermannmusik um die Ohren gehauen.

Betrunkene torkeln lallend.
Damen, deren Schminke unter der Last des Abends zur Unkenntlichkeit verstümmelt wird, schieben ihre mehr oder weniger schlecht sitzenden Anbahnungsgewande durchs Stroboskop. Micky Krauses Hit-Medley strapaziert unsere Trommelfelle noch lange nachdem wir wieder vollkommen übermüdet im Metronom nach Hamburg sitzen.

Nach 13 Stunden Bremer Sixdays-Abenteuer komme ich bei Sonnenaufgang wieder in meiner Wohnung an. Und falle sofort in den Schlaf.

Bahnradsport? Extrem fesselnd, superspannend.

Mehr davon!



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