6. März 2013

Shalom Running: Beim Jerusalem Marathon 2013

Kaum zu glauben: Noch vor weniger als 30 Stunden liege ich kichernd mit hundert anderen Touristen im Toten Meer, meine geschundenen Knochen in konzentrierter Salzlake einweichend, hoffend, sie möge Knie-, Gelenks-, Muskel- und Sehnenschmerzen in Beinen, Armen, Rücken und der Bauchregion heilen - und nun hocke ich am Rechner und versuche, einen Bericht zu schreiben, der annähernd das wiedergeben könnte, was ich beim Jerusalem Marathon 2013 erlebt habe.

Jerusalem - Klischee und Wirklichkeit

Keine andere Stadt wie Jerusalem, kein anderes Land wie Israel bietet mir, bevor ich es besuchte, so viele Klischees, so viele vorgefertigte Bilder und Meinungen. Viele von denen erlebe ich als wahr. Viele als vollkommen unwahr.


Ja, ich habe eine Menge Militär, ja wahrscheinlich die meisten Maschinenpistolen meines Lebens seit der letzten Truppenparade der NVA in Berlin 1989 gesehen. Ja, ich habe den riesigen Betonwall gesehen, der die West Bank von den israelischen Gebieten abzutrennen versucht. Und ja, ich habe die Blicke von Arabern und Ultra-Orthodoxen Juden bemerkt.

Aber: Ich habe keine brennenden Busse, keine Steine werfenden Jugendbanden, keine Kassam-Angriffe oder offene Ausschreitungen gesehen. Im Gegenteil - überschwängliche Gastfreundschaft - aller Ethnien - viel Lächeln und Lachen, viel Nebeneinander und viel Miteinander anschauen können.

Fassungslos, ob dieses Anblickes, dass nur wenige Kilometer entfernt im Gazastreifen viel Leid produziert wird. Es ständig Tote gibt.

Viel haben wir diskutiert, ob man "dorthin überhaupt reisen kann". Ja man kann. Man soll sogar.

Dies ist ein Sport-Blog, kein Reise-Blog. Deshalb nur so viel: Israel ist eines der überraschend modernsten, spannendsten, angenehmsten, abwechslungsreichsten Länder, das ich je bereist habe. Und ich habe weiß Gott nicht einmal ein Tausendstel von dem gesehen, was es dort zu entdecken gibt!

Wenn Ihr also demnächst einmal eine sportliche Herausforderung mit einem tollen Urlaub verbinden wollt: Kommt nach Israel!

Zum Start: Wie im Souk

Womit wir auch beim eigentlichen Thema sind: Der Marathon. Meine Freundin und ich holen uns am Vortag des Laufes den Startbeutel ab. Die Anmeldung ist sehr dünn besucht, keine Schlangen, kein Gedränge, sehr angenehm. Die Messe mit der in Barcelona an Größe und Umfang durchaus zu vergleichen: Keine Riesenveranstaltung, aber definitiv auch kein Provinz-Event.

Am Tage des Starts bin ich spät: Zwar ist mein Hotel nur knapp 3 Kilometer vom Start entfernt, ich kann aber kein Taxi mehr bekommen, da alles schon komplett abgesperrt ist. So hetze ich mit 2 Israelis aus Eilat und später einem dritten Amerikaner und noch später einem Deutschen - Hamburger - in 15 Minuten in den Sacher Park südlich der Knesset (dem israelischen Parlament).


"Beste Erwärmung", sagt der Hamburger Kollege, klopft mir auf die Schulter und wünscht mir einen tollen Lauf. Keine 2 Minuten nach meiner Ankunft im Startblock B (für Läufer zwischen 4 und 4,5 Stunden) wird mit "Ehat, Staijm, Shalosh!" auch schon der Startschuss gegeben.

Na, wenigstens ist mein Puls schon oben!


Wir sind schon zwei Tage in Jerusalem und sind gleich am ersten Tag zu Fuß zur Holocaust-Gedänkstätte Yad Vasheem gelaufen: Etwa 10 Kilometer marschieren wir am ersten Tag durch die Metropole, am zweiten Tag noch mal so viel. Ich kenne die Geographie der Stadt schon recht genau: Bergig!

Schleppe einen stattlichen Muskelkater mit zum Rennen.

Und ich meine jetzt keine Hügel im Sinne von Barcelona. Oder die - schon steileren - Berge wie in Lissabon. Jerusalem ist steil. Es gibt eigentlich keine Ebenen in dieser Stadt. Man ist entweder nach oben hin unterwegs, oder nach unten.

Und schmerzlich sticht es in meine Seiten, als ich die ersten Kilometer bereits einen mindestens 7 Prozent steilen Abhang hinter der Knesset hinabpoltern muss, um in dann - vollkommen außer Puste! - wieder zu erklimmen. Alter!


Noch ist das Feld dich beieinander. Kaum Bewegung. Wenige überholen mich. Ich überhole wenige. Im Feld ist keine Dynamik zu verspüren, nur Einzelne versuchen, Plätze gut zu machen. Noch weniger lassen sich durchsacken.

Die ersten Kilometer - Vorboten der Hölle

Hinter der Knesset - wir laufen zunächst durch ein mit Stacheldraht und hohen Zäunen gesicherten, wohl normalerweise nicht öffentlichen Bereich - geht es mehrmals sehr krass bergab und noch krasser bergauf. "Gut, dass ich in meinen Trainings immer mal noch den Waseberg eingebaut hatte!", denke ich mir so, als ich wie ein Schwein schwitzend die Schrägen hinauf keuche.


Relativ schnell - eigentlich schon gestern beim Spazieren - ist mir klar, dass ich in dieser Stadt auf keinen Fall meine Barcelona-Zeit werde schlagen können. Und wenn ja, dann wäre ich ein Supersportler!

Als die Berg-und-Tal-fahrt hinter dem Parlament endlich vorbei ist und wir wieder auf die große Magistrale, der schönen Seite der Knesset, einbiegen, zieht sich das Feld spontan auseinander. Sie ziehen wohl an, denke ich mir.

Ich genieße aber erstmal den Anblick des Regierungsviertels hier, und freue mich, dass die nächsten 1, 2 Kilometer seicht bergab gehen.


Hinter der Knesset können wir schon mal einen Blick auf einen der kleineren Hügel der "Neustadt" Jerusalems werfen, den wir gleich in diversen Schleifen zu erklimmen haben. Ich justiere meine Ohrhörer, schalte das Depeche Mode Konzert von - na klaro! - Barcelona auf volle Pulle und versuche, meinen Takt zu finden.


Von der Jitzak Rabin-Straße biegen wir nun rechts auf die Start/Ziel-Gerade für die Halbmarathon-Läufer ein. Ich muss an meine Süße finden, die hier in wenigen Minuten starten wird - sie läuft hier heute ihren ersten Halbmarathon. Ausmachen kann ich sie leider nicht.


Viel Zeit zum Ausschauhalten habe ich aber nicht - wenn ich hier heute eine halbwegs anständige Zeit hinlegen möchte, muss ich mich ranhalten. Ich entdecke einen drahtigen Mid-50er, der schon am Start in meiner Nähe stand. Er scheint meine Pace zu laufen. Ich beschließe, mich an ihm zu orientieren.

Steigungen? Kletterwände!

Als wir den Stadtteil Rehavia passiert haben, biegen wir - auf eine Wand zuhaltend - in den Gohen Katamon genannten Stadtteil ein. Kaum mehr Zuschauer. Nur ab und zu steht eine Familie (auffällig viele Kleinkinder gibt es hier) und applaudiert. Hier im Häusermeer sind wir allein mit unseren Leiden.

Ich kämpfe mich die ersten Rampen hinauf. Wie viel Prozent mögen das sein? 7, 8? 


Es ist hier wirklich teilweise so steil, dass sich am Fuße der Rampen kurzzeitig kleine Staus bilden. Schon hier, noch nicht mal 9 Kilometer gelaufen, sehe ich die Ersten im Gehen die Serpentinen angehen. Noch laufe ich - aber bald schon werde ich entdecken, dass bei diesen Startrampen das Gehen die klügere Alternative ist.


Es geht nur bergauf, nur bergab. Oftmals wechseln An- und Aussichten auf die Stadt mit jedem Straßenzug: Ich muss nur meinen Kopf drehen, schon sehe mal hier in den Abgrund, mal dort über einen weiten Park oder dann wieder erhasche ich einen Blick auf die mächtige Stadtmauer der Old City - oder den grauen Betonzaun der Palästinenser-Viertel.

Aber niemals. Niemals laufe ich in der Ebene.


Bei der Ze´ev Jabotinsky Straße bin ich meinem Hotel kurz ganz nah. Noch weiß ich nicht, ob meine Süße überhaupt zum Start gegangen ist. Wie einfach wäre das, jetzt hier kurz abzubiegen und wieder ins warme Bett zu kuscheln ... aber ich verdränge die Gedanken schnell. Drehe "Personal Jesus" ganz laut und reiße mich zusammen.

Schon wenige Straßenzüge und Steigungen später bin ich wieder auf der King George Street, einer der Fußgängerzonen Jerusalems. Und erkenne das Restaurant, in dem wir gestern Abend noch so lecker gegessen haben. Jetzt schwitze ich mich hier auf den unbefahrenen Straßenbahnschienen und wundere mich: Gerade einmal knapp 15 Kilometer gelaufen - und das kompakte Feld ist zerstäubt.


Nur ab und zu - und jetzt geht es los - werde ich von kleineren Trauben von 5 bis 8 Läufern überholt. Ansonsten liegen oftmals viele Dutzend Meter zwischen mir und dem nächsten gleich schnellen Runner.

Halbmarathon: Ohne Puste auf den Mount Scopus

Ekelig wird es auf dem Schlenker zum Mount Scopus. Auf diesem Gipfel, auf dem sich die Hebrew University befindet, werden wir einen Schlenker um den Berg machen - direkt durch Ost-Jerusalem, das von den Arabern beansprucht wird - laufen und viele böse Höhenmeter erleiden müssen.

Schon die Anreise auf dem nicht enden wollenden Sderot Harlim Barlev - einer lang gezogenen, vierspurigen Magistrale, geht an die Substanz.


An der Stadtmauer zur Old City entlang laufend, geht es zunächst einige Kilometer sehr steil bergab (und nachher genau auf diesem Wege auch wieder bergan!) Hier kommen mir einige der Elite-Runner entgegen - sie sind bei Kilometer 27. Ich noch bei 17.


Die Magistrale macht eine Rechtskurve und steigt wieder an. Wir sind am Fuße des Mount Scopus. Immer höher geht es, nun durch dichte Viertel, Straßenschluchten, viele 90-Grad-Kurven.

Immer mehr Full-Marathon-Runner kommen mir entgegen, sie sehen ausgelaugt aus. Wie werde ich hier nachher wohl aussehen? Eine kleine Wasserstation nehme ich mit, dann kommt der Endspurt auf den Scopus-Berg, die Universität, wie eine Enklave hinter hohen Stacheldraht-Zäunen verbunkert, hat uns ihre Tore geöffnet (schwer bewaffnete Soldaten sichern das Gelände).

Endlich oben! Der Himmel zieht zu, es weht merklich ein scharfer, kalter Wind.


Als ich die Runde um das Uni-Gelände zur Hälfte fertig habe, kann ich rechts von mir auf Jerusalem blicken. Da unten sind ganz viele kleine Häuser. Da unten, da ganz unten. Menschen wie Ameisen klein. Irgendwo da unten werde ich nachher auch wieder laufen. Nachdem ich hier oben aber die Runde erst einmal habe fertig laufen müssen.

Ein Wahnsinn, diese Achterbahn hier!


Irgendwo da ganz hinten rechts schimmert wieder bedrückend der Palästinenser-Zaun, holt mich kurz zurück ins Hier und Jetzt: Klar, die Leute haben hier andere Sorgen, als mir am Straßenrand zuzujubeln.

Und doch, auch mit all den Problemen - diese Stadt ist eine Perle. Eine Schönheit. Was sicher auch daran liegt, dass hier alle Häuser - so erklärt uns der Taxifahrer auf der Hinfahrt - mit einem einzigen, ganz bestimmten Stein verkleidet sein müssen. So schimmert die ganze Stadt in einem Sandstein-Ton, der diese wunderbare Homogenität erzeugt.


Allzuviel Zeit habe ich für meine architektonischen Schwärmereien allerdings nicht. Irgendwo hier laufe ich die Halbmarathon-Distanz, bei all der drückenden Schwüle unterm Laufshirt und dem beißenden, kalten Wind hier oben vergesse ich, die "Lap"-Tast zu drücken. Na, später bekomme ich ja die offiziellen Zeiten.

Mein 20-km-Split wird mit 1:59:32 Stunden angegeben. Für diesen Berg-Run eine passable Zeit, wie ich finde.


Hier ist es dann auch, da ich beschließe, auch einer der Klugen zu sein und zumindest die harten Steigungen, die 7, 8 ja sogar 10 Prozent-Rampen lieber zu gehen, anstatt mir die Sprunggelenke im Dribbelschritt zu versauen. Selbst im Gehen bin ich teilweise schneller als mancher Läufer.

Ein witziges Spielchen entwickelt sich mit einer Mitläuferin und meinem drahtigen Pace-Maker: Bergauf überhole ich beide. Bergab galoppieren beide wiederum an mir vorbei. Vielleicht sind es die mehr als 20 Kilometer Spaziergang, die mir schon in den Knochen stecken, vielleicht der überhastete Erwärmungslauf zum Start: Mein rechtes Hüftgelenk und das linke Knie machen sich sehr unangenehm bemerkbar.

Ein unverhoffter Blick auf den Ölberg links und der Felsendom im Hintergrund macht die Schmerzen kurz vergessen ...


Doch alles Träumen nützt nichts - immer wieder muss ich mich zu einer neuen Rampe aufraffen, immer wieder mich zusammenreißen, immer wieder bewusst die sich ankündigenden Seitenstechen wegatmen zu versuchen. Oh man, Jerusalem ist echt mal ein Kreuzweg!

Wetterkapriolen und Versorgungsengpässe

Das Wetter macht mir zu schaffen, obwohl ich nach dem Lauf sagen werde, dass ich ein unfassbares Glück gehabt habe: Am Tag nach dem Marathon wird ein wolkenfreier, blauer Himmel das Theromometer auf 24 Grad treiben, mir einen feinen Sonnenbrand verbraten und uns den Ausflug nach Massada zur Sommerglut-Hölle werden lassen.

Heute aber kann mich das Wetter nicht erfreuen: Mal beißend kalt, mal höllisch schwitzend.


Als dann noch auf dem Rückweg vom Mount Scopus ein Regenschauer meine Klamotten beginnt zu durchweichen, ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Kilometer 27: Ich bin am Ende!

Wahnsinn - nur eine Woche vor dem Marathon laufe ich die 30 Kilometer mit knapp 400 Höhenmetern in wenig mehr als 3 Stunden. Heute weiß ich nach nur 27 Kilometern, dass das hier ein Lauf ums Überleben werden wird, nicht der Triumph-Durchmarsch zu einer neuen persönlichen Bestmarke.

Trotzdem, der 30-km-Split mit 3:05:44 Stunden ist mehr als genial, wie ich finde.


Nervig und unschön allerdings finde ich die Versorgung der Läufer bei diesem Marathon. Verglichen mit den Wasser- und Iso-Ständen beim Barcelona-Marathon, können mich die wenigen - jeweils nur mit reinem Wasser - ausgestatteten Getränkestände hier nicht überzeugen.

Sie liegen teilweise 8, 9 Kilometer auseinander. Viel zu wenig, wie ich finde. Nur das doch eher kühle Wetter macht diese prekäre Versorgungslage erträglich. Kaum auszudenken welche Wassernot hier bei einem heißen Sonnen-Marathon herrschen würde!


Zu Essen gibt es außer ein mal (!) Bananen und zwei mal (!) Datteln nichts. Auch Energy Gels gibt es auf der ganzen Strecke nur ein einziges Mal. Viel, viel, viel zu wenig und mithin mein einziger, aber dafür umso größerer Kritikpunkt an der Organisation dieses Events.


Meinen Draht-Typen und die Bergauf-Frau habe ich längst schon verloren. So hefte ich mich an ein Pärchen, wo er sie immer wieder motiviert, weiterzumachen, als es vom Mount Scopus die elend lange Magistrale zurück hoch zur Altstadt geht.

Running out of Water.
Running out of Willpower.

Oh my, Jerusalem ...

Kurzes Zwischenspiel am Jaffa Gate

Eine kleine Schleife am nagelneuen Mamila-Einkaufszentrum drehend geht es wieder gen Norden - und auf das beeindruckende Jaffa-Tor in die Altstadt zu. Auch hier waren wir schon mehrere Mal spazieren, ich weiß um die Steilheit der Rampe in die Old City. Und die grobe Beschaffenheit der Pflastersteine im Innenbereich.


Dennoch: Dass die Organisatoren uns - auch wenn es nur wenige hundert Meter sind - durch diese von Geschichte und Geschichten so überbordende Altstadt laufen lassen, ist ein ganz besonderer Moment des Laufes. Immerhin haben sich hier der große Nebukadnezer, König Herodes, Pontius Pilatus, Jesus Christus, Sultan Suleiman oder die Kreuzfahrer und so viele andere - mehr oder weniger historisch belegte - Personen und Persönlichkeiten bewegt, dass jeder einzelne Quadratzentimeter dieser doch überraschend kleinen Altstadt abertausende Geschichten erzählen könnte.

Und nun ich. Hier.


Das Jaffa-Gate ist sehr steil. Auch ich gehe es mehr, als dass ich es laufe. Oben werden wenigstens ein paar Dutzend - wohl eher zufällig hier anwesende - Zuschauer Beifall klatschen. Wenn es dann durch die mit den leckersten Gerüchen all der Shawarma-Küchen und Gewürzstände der Händler geschwängerten Holzkohle-Luft innerhalb der dicken Mauern geht.


Wir zwängen uns durch die eher dunklen Gänge nahe der Stadtmauer, hier kann ich wieder einige Läufer überholen. An ihren andersfarbigen Startnummern erkenne ich die Halb-Marathonis. Ob ich meine Süße hier noch treffen werde?

Von oben, dem Rampage-Walk, winken kaugummikauende Amis, schnatternde Russen schauen irritiert.


Der Weg durch die Altstadt ist schnell vorbei: Über Via Dolorosa oder vorbei an der Grabeskirche Jesu, über den Kreuzweg oder gar vorbei am Felsendom können uns die Veranstalter natürlich nicht führen. Der Abstecher hier ist wenig spektakulär, wohl eher symbolischer Natur.

Angesichts des teilweise sehr krassen Bodenbelages aber doch auch eine weise Entscheidung.


Durch das Tor am Armenischen Patriarchat geht es wieder aus der Altstadt hinaus: Und sofort geht die Achterbahnfahrt wieder los.

Endspurt? Meine Kreuzigung am Mount Zion.

Zunächst krass bergab: Genau hinter mir kann ich, wenn ich mich kurz umdrehe, den Grabeshügel neben dem Ölberg sehen. Wie viele tausend Tote mögen hier mittlerweile begraben sein? Vor mir Mount Zion. Wieder so ein Mount. Wieder Schmerzen bergauf!


An Endspurt will ich gar nicht denken. Es scheint, als dass sie die Rampen immer steiler werden lassen. Ich kann zwar immer noch im Gehen mehr Leute einholen, als ich es im Laufen vermag - aber als dann irgendwann die 30 auf meinem Garmin steht, da  weiß ich endlich sicher, dass ich dieses scheinbar endlose Tal der 20er überlebt habe: Nun nur noch 2 Kilometer und dann der Countdown ab 10.

Schaffbar.


Ein Trauerspiel, die letzten Kilometer! Mount Zion zieht mir die letzten Kräfte aus den Fasern: Die Strecke zuckt nun wild durch diesen Teil Jerusalems, in North Talpiot - es geht etwa 2 Kilometer bergan, dann Wenden, dann bergab - kann ich dann sogar meine Freundin auf der Gegengeraden sehen. Aber sie hört mich nicht durch ihren MP3-Player, wird auch gleich auf ihre letzten 6 Kilometer einbiegen.

Ich habe noch 8 vor mir.

Letzte Zuckungen

Richtig ekelig wird es dann auf der Derech Hevron-Straße. Eine 3 Kilometer lange Strecke, die sie hier offensichtlich nur eingebaut haben, weil man hier "gut Kilometer ohne viel Aufwand schrubben kann". Ich bin total am Ende, schleppe mich an der vorletzten Wasserstation vorbei, kann kaum noch grinsen, selbst das Abklatschen der kleinen Kinder macht kaum noch Spaß.


Es ist ein Trauerspiel. Die letzten 4 Kilometer. Es folgen noch einige extreme Rampen. Mich ficht das alles nicht mehr an. Beim 40sten Kilometer gibt mir der offizielle Computer einen Split von 4:15:44 Stunden raus.

Ich wundere mich, dass ich so gut bin - habe ich meine Kondition doch schon irgendwo bei Kilometer 24 auf dem Mount Scopus verloren, habe ich meine Gelenkknorpel an irgend einer Rampe im Talpiot durchgeschrubbt.

Meine Füße brennen, später, im Hotel werde ich mir - trotz sorgfältig abgeklebter Zehen - zwei riesige Blasen aufstechen. Meine Oberschenkelmuskeln sind quasi inexistent. Sobald es bergauf geht, sind Fasern in einem neuen Aggregatzustand: Muskelpudding.

Ich falle mehr, als dass ich laufe. Den Rotz lasse ich schon seit einigen Kilometern einfach aus der Nase laufen - zum anständigen Ausprusten ist längst schon keine Kraft mehr da.


Und doch: Als ich die 2.000 Meter-Marke erreiche, erwacht neue Energie. Ich ziehe an. Mich überholt der Drahtige vom Start (Nanu? Habe ich den etwa überholt zwischendurch?) und zieht davon. Na, ich lasse ihn. Bin ja froh, jetzt meinen Laufstil wieder einigermaßen als "Laufen" bezeichnen zu können.

Die letzten 100 Meter sind blauer Teppich. Ich laufe allein über die Ziellinie. Wenige Zuschauer. Und doch - ich bin überglücklich. Als ich mich mit einer Orangenhälfte nach dem Ziel bewaffnet einfach ins Gras fallen lasse.

Alter Verwalter - Jerusalem Marathon - das war ein Biblisches Ausmaß!

Geschafft: Die Daten meines Jerusalem Marathon 2013

Mein Garmin stoppt nach 42,48 Kilometern und 4 Stunden, 29 Minuten und 30 Sekunden. Ganze 30 Sekunden schneller, als Barcelona 2012. Meine offizielle Zeit wird von der Zeitnahme mit überraschend guten 4:30:37 Stunden angegeben.

Das ist nach offizieller Zeitnahme also nur 24 Sekunden langsamer als noch vor einem Jahr. Langsam realisiere ich, was ich geleistet habe, als ich mich im Eventbereich in die Sonne fallen lasse.


Jerusalem war hart. Sehr hart. Und doch schaffe ich es, meine bisherige Zeit zu halten - immerhin, am Ende stehen 805 positive Höhenmeter auf meinem Garmin, das ist das vierfache der spanischen Kletterleistung und angesichts der extremen Steilheit vieler der Rampen, die wir erklimmen mussten, eine Wahnsinnsleistung, wie ich finde.

Mein rechtes Hüftgelenk singt bei jedem Schritt ein ächzendes Lied dazu ...

Die Höhenkurve der Jerusalemer Strecke zackt wild wie die Messkurve eines Erdbebens hin und her - selbst in den größeren Anstiegen verstecken sich unzählige kleine Rampen. Die Serpentinen dieser Wahnsinnstadt:


Und so fluche ich etwas über mich selbst, ob dieser bescheuerten 24 Sekunden - wenigstens symbolisch hätte ich schneller sein können! Und dann diese 3-minütige Pinkelpause irgendwo bei Kilometer 30 - war die wirklich nötig? Kann man doch laufen lassen ...

Na, alles Rechenspiele, die eh egal sind. Marathons sind nicht miteinander zu vergleichen. Und wenn noch bei einer meiner Laufseiten im Internet Jerusalem als ein "sehr anspruchsvoller" Marathon beschrieben wird, so muss ich sagen: Im Vergleich zu meiner Premiere in Spanien war das hier echt ein paar Nummern härter.

Und aber auch leichter. Irgendwie.


Als meine Süße - hochrot und durchgeschwitzt - mich zwischen den halbtot herumliegenden Laufleichen findet, ist sie mindestens ebenso stolz und glücklich, wie ich: Immerhin hat sie ihren allerersten Halbmarathon gerade mit einer für diese Berg-und-Tal-Achterbahnhölle tollen Zeit von 2:36 Stunden absolviert.

Lieb umarmt und glücklich geküsst. Mehr wird heute aber nicht drin sein ...

Was noch so geht - Israel Crash-Urlaub in 5 Tagen

Wir verdauen den Marathon - ein tolles Erlebnis und immer wieder erhebend - bei einem fürstlichen Mahl in einem versteckten armenischen Restaurant in der Altstadt. Zur Völkerverständigung beitragend genehmigen wir uns (nachdem wir ein kosheres Frühstück hatten) einen riesigen, knackfrischen Arabic Salad und die überbordende Mixed Grill-Platte.

Herrlich!


Am nächsten Tag wuchten wir uns stöhnend in einen Bus und besichtigen Massada, die legendäre Felsenfestung (beeindruckend!) des König Herodes, Ort heroischen Widerstandes der Zeloten gegen eine mächtige Römer-Legion und mithin neben Yad Vasheem der Staats-definierende Ort Israels.

Ein ausgiebiges Bad im Toten Meer (das witzigste und beeindruckendste, was ich jemals im Element Wasser getan habe) lindert den Schmerz in Knochen und Muskeln und das anschließende Baden im En Gedi-Spa tut das seine.

Wir erklimmen am Tag 2 nach dem Marathon den Ölberg, besichtigen die Klagemauer, umrunden die Altstadt, klettern in die Felsengrotte und schauen, wo Jesus gefangen genommen wurde.

Ein epischer Lauf - in einer epischen Stadt.

Als wir am Flughafen Tel Aviv ankommen und etwas Zeit dort zu überbrücken haben, spricht uns ein amerikanisches Ehepaar auf unsere Jerusalem-Marathon-Starterbeutel an, die wir umhaben. Es stellt sich heraus, dass er hier am 15.3. den Tel Aviv-Marathon absolvieren wird. Es wird sein 57er Marathon sein. "You did Jerusalem? You know what? I did this one time - and believe me, I am a frequent Marathon-Runner - this is one of the hardest Marathons in the world. I now prefer the flat one in Tel Aviv."

Na siehste, denken wir uns und klopfen uns auf die Schulter: Alles richtig gemacht. Nun kann endlich die Rennrad-Saison beginnen, ich bin hungrig. Und habe, wie schon 2012, mein Sportjahr 2013 mit einem absoluten Sensationsknaller begonnen. Israel? Kann ich uneingeschränkt empfehlen!


Hier geht es zu meinen Garmin-Daten des Marathons.

10 Kommentare:

  1. Hi Larsi,

    super geschrieben (wie immer). Und Glückwunsch zu deiner wirklich beeindruckenden Leistung!

    Viele Grüße Lars

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    1. hi larsi,

      lieben dank für die glückwünsche und das lob. 2014 biste dann aber mit dabei, ja?

      liebe grüße,
      L

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    2. Wenn meine Sehne mir nicht wieder einen Strich durch die Rechnung macht, dann würde ich schon gern mal einen Marathon laufen, ja :)

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  2. Krasse Location, krasser Lauf, toller Bericht und ich komme gar nicht über dieses Höhenprofil hinweg... Stark!

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    1. hi thorsten, danke für dein comment. und das lob :-)

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  3. Moin,
    Glückwunsch zur Leistung!
    Soll das in der Höhenmetergrafik unten nicht eigentlich "Barcelona Marathon 2012" heißen?
    Grüße
    Jay

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    1. hi jay,
      oops, das stimmt! adlerauge... :-)
      das ändere ich morgen.
      liebe grüße, lars

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  4. Wunderbarer Bericht Lars - wo hast Du bloss die ganzen Details her, Respekt.
    Und dann noch diese Zeit.
    Kenne die Gegend etwas, war dort long time ago aber so habe ich Jerusalem nicht gesehen, danke dafür.
    Gute Erholung und Gruß Axel

    PS Wir waren beim ADFC und haben Deinen Film angeschaut (damit Du weißt wer schreibt...)

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    1. hi axel,

      ah, ich erinnere mich... :-)

      danke fürs lob: ich blogge seit 2008 über meine reisen und bin eigentlich gelernter redakteur... geschichten liegen mir sozusagen im blut...

      liebe grüße,
      lars

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  5. Toller und informativer Bericht. Habe ich mit Interesse gelesen. Vielen Dank dafür...

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