8. September 2013

Etappe 3 - HAUTE ROUTE ALPS 2013 - Rennbericht Val d´Isere-Serre Chevalier - die Marathon-Stage

"Boah! Scheiße!", fluche ich, als ich endlich über die Ziellienie in Serre Chevalier komme - augenblicklich, quasi noch auf der Zeitmatte, klicke ich aus, bremse, halte an und bleibe stehen: Alles, nur keinen einzigen Zentimeter mehr auf dem Rennrad sitzen!

Kurz hinter mir  bremst der Schweizer, ich klopfe ihm auf die Schulter: "Gut gemacht", will ich sagen, aber ich bringe keinen Ton raus vor lauter Seitenstechen - er weiß, was ich meine, und nickt - Schweiß steht ihm auf der Stirn.

Wir haben gerade die "Marathon-Etappe" der HAUTE ROUTE ALPS gemeistert. Mir fehlen die Worte, so sehr schmerzen mir die Glieder, so sehr drückt es in der Seite - vom Herzstechen mal ganz abgesehen ...

Was wir heute geschafft haben, hatte mich im Vorfeld des Rennens am meisten beschäftigt: "Wir müssen nur Tag 3 überleben ...", hatte ich immer gesagt: "... dann wird alles gut."



Etappe 3 - eine Zitterpartie, nicht nur vom Höhenprofil her.

Ich versuche, beim Absteigen von meinem Rennrad, keinen Krampf zu bekommen, als ich das S5 in den Bike Park schiebe. Ich staune: Wieder sind schon massig Rennräder im bewachten Parkplatz angekommen - ist meine Zeit ähnlich wie gestern wieder knapp am Zeitlimit?

Ich schaue auf das Höhenprofil von heute und schüttele meinen Kopf: 165 Kilometer, das über drei Berge. 3.400 Höhenmeter - und das während dieses Tages, der uns so unerbittlich gefordert hat. fast krampft meine Wade, als ich zurück denke.

Im Endspurt: Vom Col de l´Echelle über Briancon ins Ziel


Als Heiko 3 Minuten nach mir im Ziel ist, ist er stinksauer auf mich.

Ich bin etwas mehr als 6 Stunden unterwegs, als ich mit Heiko zusammen den letzten Berg, den Col de l´Echelle überfahre, auf der Kuppe bin und weiß, es sind "nur" noch etwas mehr als 30 verdammte Kilometer bis ins Ziel. 30 Kilometer - es sollte halbwegs nur bergab gehen (was macht dieser Gegenwind hier?!?) - das kann man in einer Stunde schaffen.

Neue Energie durchströmt mich.
Ich schalte auf dem Col aufs große Blatt und trete rein - die Abfahrt ist nicht besonders schwer, auch nicht technisch oder kurvig, man kann lange geradeaus rollen lassen.


Speed-Express nach Briancon. Ohne Heiko.

Bis kurz vor das Ziel, nach Briancon, werde ich mit einer Gruppe von 10 bis 15 Rennradlern fahren, die richtig Stoff geben. Es geht tatsächlich nur leicht bergab, wir bekommen sogar ein eigenes Security-Motorrad, wir geben richtig Stoff, schießen teilweise mit über 40 Sachen durch die Natur. Heiko ist nicht mit in der Gruppe.

Ich muss zusammen mit einem Schweizer abreißen lassen, denn ab Briancon geht es bergauf, und das im Gegenwind, wir sind zu platt, um mit der Gruppe mitzugehen. Auch hinter uns: Niemand zu sehen. Auch kein Heiko.

Der lässt schon in der Abfahrt vom Echelle abreißen, wird ohne zu treten den Berg hinab gefahren sein, als ich mich in der Abfahrt befinde, drehe ich mich mehrmals um, sehe keinen Heiko. Die Straße ist schnurgerade, ich kann etwa 2.000 Meter hinter mir sehen, wer da kommt.

Aber eben keinen Heiko.


Schnurgerade geht es abwärts nach Briancon - Stoff geben oder umkehren?

Sturz? Panne? Was ist da passiert?
Hat er angehalten und pinkelt?
Macht eine kleine Pause - immerhin war der Anstieg hier hoch doch sehr schwer?

Ich schaue einige Male, bis ich wirklich niemanden mehr sehe. Was soll ich tun? Anhalten und warten? Umkehren? Nein, beschließe ich, das ist ein Rennen - und hier kommt es auf Ergebnisse an. Ich selbst würde auch nicht von ihm erwarten, dass er am Berg umdrehen und mir beim Reifenwechsel helfen solle, wenn ich einen Platten habe.

Außerdem: Was kann ich schon helfen? Die Telefonnummer der Mavic-Fahrzeuge hat jeder, auch Heiko. Sollte etwas an seinem Rennrad sein, soll er lieber die Fachleute anrufen. Was kann ich tun?
Nichts.

Also gebe ich Gas. Lasse Heiko zurück.

Im Ziel braucht er ein, zwei Stunden, um sich zu beruhigen: Er musste 3 Minuten hinter mir die letzten 30 Kilometer allein im Wind fahren. Ist außer sich. Verständlich für den Moment - dennoch bin ich mir keiner Schuld bewusst.

Im letzten Berg - der Col de l´Echelle verlangt noch ein mal alles.


Im Ziel die Diskussion: Soll ich mich in der Abfahrt bremsen? Aber im Anstieg fährt jeder sein Tempo, ja? Ein Dilemma, wir sehen uns beide im Recht. Dabei war der Endanstieg noch so harmonisch: Den Echelle erklimmen wir zu zweit.


Nur noch durch den Tunnel, dann sind wir oben!

Kurz vor dem Gipfel durchfahren wir einen kleinen Tunnel, dann wird es endlich flach, wir atmen auf: Alter, das war eine Plackerei! Es geht nun etwa 2 Kilometer auf einer Art Hochplateau entlang, bevor die Abfahrt unter uns weg taucht: Dutzende Autos stehen am Straßenrand, das Plateau übersät mit Picknickdecken und Familien, die einen kleinen Ausflug machen.

Kinder stehen da und applaudieren uns frenetisch - etwas Abwechslung für die gelangweilten Racker.

Hier oben anzukommen, das mussten wir uns allerdings hart verdienen.


Ellenlanges Serpentinengeschlängel im Col de l´Echelle

Im Col de´l Echelle ist es einfach nur heiß - mein Garmin spuckt einen Durchschnitt von 30 Grad Celsius für die letzten 3 Stunden des Rennens aus, hier im Echelle erreichen wir bis zu 32 Grad. Ich nehme an, das Gerät misst "im Schatten", denn die der Sonne ausgesetzten Teile der Straße sind an manchen Stellen weich - Asphalt schmilzt ab wann ...?

Der Berg ist kurz, verglichen mit den beiden, die wir schon in den Knochen haben, aber giftig. Zwischen Kilometer 7 und 8 wird es nicht mehr einstellig, Rampen bis 15 % Gradient, im Schnitt 11 bis 13 % sorgen für knarzende Tretlager und selbiges bei den Knochen.


Gerade im oberen Teil ein Horror - dieser Col de l´Echelle.

Schweiß steht mir im Gesicht, ich kann schon längst weder kräftig antreten noch in irgend einer Form kontrolliert fahren - das hier ist nur noch purer Wille zum Ankommen. Mehr nicht.

Als wir uns noch im unteren Teil befinden, fällt mir die Schönheit dieses etwas abseits gelegenen Gipfels auf: Vorbei an einem kleinen, giftgrünen Stausee geht es zunächst durch Nadelwald, der herrlich trocken nach Harz duftet. Noch nicht sehr steil: Wir können uns bei 6 bis 7 Prozent locker unterhalten - nur ab und zu kündigen Rampen bis 11 Prozent an, was gleich kommen wird.


Schöner Berg, nettes, verlassenes Tal. Wenig Verkehr - eigentlich ganz nett hier.

Der letzte der 3 Cols unserer heutigen "Marathon-Stage" ist ein knapp 12 Kilometer langer Anstieg der Kategorie 2 - also nicht heftig.

Unsere Gedanken sind jedoch schon beim "oben" - beim Blick auf den kleinen Info-Aufkleber, den wir für jede der Etappen bekommen, sehen wir, wie weit es noch sein wird, selbst wenn wir diesen Kackberg geschafft haben. Heftig! Und ich kann schon nicht mehr. Heiko, eigentlich einer, der lange fahren kann, sieht auch schwer angeschlagen aus.


Vorbei an der Talsperre, dann geht es in den Anstieg.

Bevor wir in den Berg gehen, und dabei unter großem Buhei einen Teilnehmer überholen können (das ist schon seit 130 Kilometern nicht mehr passiert!), erfrischen wir uns an der letzten Labestation. Ich trinke fast eine ganze Flasche Wasser aus, drücke mir ein komplettes Bund Bananen rein und schiebe gleich zwei Gels hinterher.

Heiko gießt sich eine Flasche Wasser durch den Helm auf den Kopf - fast höre ich es zischen. Wir haben gerade das "Todestal" hinter uns.

Die Hitze ist einfach unerträglich!

Tal des Todes


Bevor wir den letzten Berg erreichen konnten, müssen wir allerdings eine Prüfung bestehen, die nicht minder hart ist: Die Durchquerung des "Todestals". Naja, das ist kein offizieller Name - der lautet "SS24" und ist die Bezeichnung der Straße, wie vom italienischen Susa aus nach Westen verläuft.

Hier sterben wir den Hitzetod. Fast.

Als wir diesen Abschnitt beendet haben, ist Heikos Stimmung auf dem Nullpunkt (meine bessert sich komischerweise, vielleicht, weil ich weiß, dass diese Scheiße hier nun endlich vorbei ist). Es war die Hölle. Unangenehm heiß, windstill. Wir sind gekocht, als wir bei der Verpflegung ankommen.


Elend lang, bergauf, windstill und trockene Hitze. 34 km nicht enden wollende Plackerei.

Wir müssen in sängender Mittagshitze - es sind 30 Grad im Schatten, Windstille - etwa 35 Kilometer bei 3 bis 6 % Steigung machen. Wir müssen alleine fahren, nur ab und zu ziehen Zweier- oder Dreiergruppen an uns vorbei. Ranhängen impossible: Woher nehmen die nur diese Kraft?

Ich schwitze wie eine Sau. Hinten im Trikot habe ich die Klamotten von heute morgen. Sie sind nass geschwitzt und schwer, ziehen das Trikot hinten nach unten. Meine Beinlinge, die ich mir hinten in die Hose gestopft hatte, sind mittlerweile in meine Kimme gerutscht: "Falls ich stürzen sollte, muss ich auf den Rücken fallen: Das wird schön weich ...", scherze ich.

Heikos Schweiß getränktes Gesicht verzieht sich beim milde Lächeln kaum.


Die SS24 ist sehr unrhythmisch: Mal steil, mal flacher. Aber immer bergan.

Heiko geht es ähnlich: Auch er versucht, seine Klamotten irgendwo unterzubringen oder zu befestigen: Er wirkt mit seiner umgebundenen Jacke eher wie ein Grundschullehrer auf ADFC-Tour. Und doch: wir treten rein. Versuchen es zumindest.

Die Sonne brennt so unerbittlich herunter, dass jegliche Ambition, hier einen auf Leistung zu machen, sofort ausgebrannt wird. Ich sehe, wie sich meine Oberarme rot verfärben: Nach dem Kaltstart heute morgen und dem Wetterbericht zu urteilen, hatten wir eher mit einem kühlen, ja kalten Tag gerechnet. Also ohne Sunblocker.

Und nun? Schwimme ich im Schweiß. Ich fühle mich elend.


Recht steil am Anfang. Es wird aber nicht wirklich besser danach.

Oberhalb von Susa, wo diese Tortur beginnt, sind wir noch ganz guter Dinge. Ich habe zwar den Zettel nicht mit, glaube mich aber zu erinnern, dass es erst "etwas steiler" hochgehen würde, dann eher flach zum letzten Anstieg. Und so kurbeln wir noch etwas zuversichtlich die Rampen hoch, die sich hinter und über Susa erheben. Heiko, der nach der Abfahrt vom Mont Cenis voller Endorfine steckt, vorneweg.

Mir hängt schon die Zunge raus: Trinken, trinken!

Apropos: Wo ist denn die nächste Erfrischungsstation? Meine beiden Bidons sind fast leer. Ah. Am Ende dieses Stückes: 34 Kilometer to go. Verdammt!


Die Sonne - zunächst willkommen, dann einfach nur Hölle!

Noch ganz von der Abfahrt beseelt kurbeln wir langsam die ersten Rampen hoch. Noch genießen wir auch die Wärme - noch. Wir werden für dieses Stück ziemlich genau 2 Stunden benötigen. 15er Schnitt. Wahnsinnig langsam kommt einem das vor, wenn man bedenkt, dass wir soeben über 30 Kilometer Abfahrt in gerade einmal unter 30 Minuten gemacht haben. Aber so ist das.

Unterwegs werden wir ein mal anhalten, und uns komplett ausziehen. Ich werde fluchend in einen Busch pinkeln, Heiko auch noch die letzte Socke von der klebenden Haut abpellen, irgendwo hinstopfen. Wenn es sie gäbe, wir würden uns heute nur die Sitzpolster zwischen die Backen klemmen und ansonsten nackt fahren - es ist unerträglich!

Kopfschmerzen zeichnen sich ab.
Und ich habe wenig zu trinken.


Direkt hinter Susa wird es kurz richtig steil!

Als wir direkt hinter Susa in die zwei, drei Serpentinen gehen, die uns in das "Tal des Todes" bringen, ahnen wir noch nicht, was uns gleich blühen wird. Mir kommen sowieso die ersten Kilometer - sehr steil! - die Endorfine literweise aus den Ohren, so krass war die Abfahrt gerade, noch stürme ich Heiko scheinbar davon, noch bin ich zu begeistert im Kopf, um an das zu denken, was sie uns gestern bei dem Briefing gesagt haben über diesen Abschnitt.

Über den Col du Mont Cenis nach Bella Italia


Ich halte an. Susa. Italien. Zeigefinger raus, das Heiko weiß, dass ich diese Busparkbucht nutzen will. Stehen. Ausklicken. Ich zittere. "Whoooohaaaa!", brülle ich, einige Passanten schauen uns an. Neben uns rauschen andere HAUTE ROUTE-Teilnehmer vorbei, viele treten durch, viele halten an.

Wir haben gerade die Abfahrt unseres Lebens hinter uns, ich grinse, als hätte man mir gerade einen Millionengewinn überreicht - so etwas hatte ich noch nie!

Die Abfahrt vom Mont Cenis (vorher nie gehört von diesem Berg) war einfach nur ein einziger Rausch! Oben, auf 2.035 Metern Höhe unscheinbar. Es ist sehr windig, der Ausblick okay. Kein Wunder, dass mir dieser Berg nichts sagt: Kein genialer Ausblick, wie etwa vom Stelvio oder so.

Aber dafür die Abfahrt ... oh la la.

Ich kann keine Fotos machen.
Will nicht anhalten.
Bin so im Rauschzustand.

Mehr als 30 Kilometer Fullspeed!

Die Straße: Breit. Neu. Perfekter Asphalt!
Kein Verkehr, nichts. Oben noch recht komplizierte, enge Haarnadelkurven - dazwischen dann aber ellenlange Abschnitte, auf denen man schön rollen lassen kann. Rasant, Hammer! Weiter unten dann ein Traum: Leichtes Geschlängel, gut einsehbare Kurven und breite Fahrbahnen.

Ich komme mir vor, wie Luke Skywalker im Sternenjäger, ich schieße um die Kurven, lege mich richtig rein, genieße jeden Meter. Es knallt der Wind mir um die Ohren, ich könnte brüllen, so geil ist das! Und es hört nicht auf. Es geht immer weiter. Hinter jeder Kurve taucht es wieder ab, hinter jeder Rampe eine neue.

Garmin wird später hier eine Max-Speed von 96 km/h ausgeben, was ich allerdings anzweifle. Aber im Schnitt kann ich diesen Berg mit 45 km/h fahren, Andere werden hier in diesem Strava-Segment einen 53er-Schnitt aufstellen.

Zwei werden stürzen. Mir unerklärlich.

Leute: Wenn Ihr in der Nähe seid, fahrt auf den Mont Cenis, nehmt die Abfahrt nach Susa. Ich habe schon viele Pässe geritten und viele Abfahrten genossen: Keine ist wie diese!


Nicht übermäßig lang, nicht übermäßig steil. Es geht auf den Mont Cenis.

Freilich - man muss erst einmal oben ankommen. Als wir unten in Lanslebourg abbiegen, um die 10 Kilometer Anstieg zu meistern, liege ich vor Heiko und einer größeren Gruppe, die ich einige Kilometer vor dem Anstieg verlassen habe. Jens Voigt lässt grüßen ...

Oben schließt sich eine kleine Abfahrt und ein - sehr steiler! - Gegenanstieg um einen Stausee an. Bei der Staumauer wiederum beginnt dann diese unglaublich lange, wunderbare Abfahrt, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen würde, wäre sie in Deutschland.



Heiko holt auf - und überholt mich. Das Tier.

Ich bin im Anstieg. Langsam wird es wärmer. Was heißt "wärmer"? Naja, wir bekommen langsam mehr als 10 Grad Celsius, weiter oben wird das Garmin 13 Grad anzeigen. Die Ersten beginnen, sich auszuziehen. Ich lasse das mal noch: Frostbeule!

Weiter oben wird der Berg dann mit 8 bis 10, manchmal auch 11 % recht nervig, und da ich nicht weiß, wie lange das noch anhalten würde, nehme ich erst einmal raus. Ich werde von vielen Bekannten - unter anderem auch unsere RG Uni Hamburg-Spezis Carsten und Christian - überholt, irgendwann hat dann auch Heiko aufgeschlossen.

Eine Weile fahren wir zusammen, dann zieht er davon. Ich werde ihn erst in der Abfahrt wieder einholen.


Au Revoir, France - Ciao, Italia! Bis Italien sind es 1:40 h.

Noch geht es ganz gut diesen Mont Cenis hoch: Von ganz unten in Lanslebourg bis Kilometer 3 sind die Serpentinen, die sich zunächst in einem halbwegs bewaldeten Almgebiet schlängeln, nur 5 bis 7 % steil. Viele zucken hier mit dicken Gängen an mir vorbei, da ich warm werden will - ich zittere noch - trete ich mit hoher Kadenz.

Ich finde es faszinierend, wie schnell man dann doch sichtbar an Höhe gewinnt, wenn man mit dem Rennrad unterwegs ist. Schon sehe ich das französische Dörfchen nur noch ganz klein unter mir: Auf der anderen Seite ist schon Italien.



Es geht los: Zweiter Col des Tages!

Als ich am Fuße des Col du Mont Cenis ankomme, sind die Meisten meiner Gruppe recht weit hinter mir. Trotz Pinkelpause hat mein kleiner, rasanter Ausreißversuch vorhin doch erheblich Abstand zwischen uns bringen können. Warum hier den Helden machen? Weil mir kalt ist - nur mit heftig treten kann ich mich halbwegs warm bekommen.

Immer wieder puste ich Atem durch die Handschuhe.

Mir klappern noch immer die Zähne. Col d´Iseran war die Hölle!

Windchill-Effekt im Col d´Iseran


Als ich die Abfahrt vom Iseran beende, bin ich so durchgefroren, wie lange nicht mehr. Mir klappern die Zähne, ich kann vor lauter Schüttel-Attacken meinen Lenker nicht gerade halten. Die Finger spüre ich kaum noch - Bremsen wird zur Glückssache. Auch wenn ich es wollte - langsam dieses Monster abzufahren ist irgendwie auch nicht drin.

Die Temperaturmessung ergibt 1 Grad Plus für den Gipfel. In der Abfahrt dann schon 2 Grad.

Ich schaue nach: Durch den Windchill-Effekt sollte ich bei 60 km/h, die ich hier mühelos erreiche, gefühlte  -15 Grad empfinden. Na bitte.

Ich hatte mich auf den Iseran gefreut, heute morgen. Auch wenn wir dick eingepackt am Start schon bibbern, wie Espenlaub. Aber jetzt, in dieser immerhin doch auch 13 Kilometer langen Kernabfahrt und dem weiteren, 20 Kilometer langen Stück bis Lanslebourg, kann ich keinen klaren Gedanken fassen, so kalt ist mir.


In der Abfahrt des Iseran: Gefühlt -15 Grad Celsius.

Meine Zehen spüre ich schon ab Start nicht mehr. Nur eine Schicht Socken - das ist zu wenig! Ich mache mir Gedanken und Vorwürfe. Die Handschuhe - nagelneu von Gore - halten nicht einmal annähernd das, was ich mir von ihnen versprochen habe: Der eiskalte Wind findet seinen Weg durch die Nähte und die Dämmung genau auf meine Fingerkuppen - es ist so verdammt kalt, dass ich schon gar nicht mehr in Untenlenkerhaltung abfahren und bremsen kann. Fehlt nur noch Schnee ...

Ich wundere mich, als ich den Gipfel des Iseran erreicht habe. Ja, es scheint die Sonne und ich stehe ein, zwei Minuten wie viele andere Teilnehmer auch einfach nur da und halte meinen Rücken in die Strahlen. Bringen tut das freilich wenig: Hier oben, auf über 2.700 Metern Höhe zieht ein eiskalter Wind über das Plateau. Ich frage mich, wie einige das hier in kurzen Hosen und kurzen Handschuhen aushalten.

Alter!


Der muss doch Eiswürfel pinkeln!

Ich erreiche den Gipfel des Col d´Iseran nach 1:14 Stunde - 26 Minuten hinter dem Ersten, wieder einmal der Gesamtführende Peter Pouly. Der wird hier wahrscheinlich auf dem großen Blatt in kurz/kurz hochgeschossen sein.

Ich bin aber recht zufrieden mit meiner Leistung, als ich etwas außer Atem dastehe, wie ein Sonnenanbeter meine schwarze Rückseite zum Auftanken in die Sonne halte und mir eine schockgefrostete Banane versuche zu zerkauen. Platz 293 (von 478) finde ich okay, Heiko kommt 3 Minuten nach mir rein - Platz 349.

Der Ausblick ist grandios: Seltsam abgekoppelt von der übrigen Welt stehen wir hier oben, die Sicht nach unten durch eine dicke Nebelsuppe verbaut. Romantisch - auf dem Foto.

Arschkalt, in Wirklichkeit. Vor der Abfahrt habe ich Respekt.


Gleich ganz oben: Col d´Iseran zum Frühstück.

Noch auf den letzten Metern vor dem Col ist meine Stimmung ganz gut: Ich kann mich halbwegs warm halten, obschon meine Zehen permanent um Hilfe schreien und auch die Hände nicht optimal durchblutet sind. Doch die letzten 2.000 Meter können wir endlich in halbwegs sonnigen Konditionen fahren, es ist auch schon heller geworden - kein Grund, miesepetrig zu sein.

Zum Frühstück mal nen harten Brocken ...


Weiter unten im Anstieg sieht das etwas anders aus: Zwar wird es langsam heller, doch die sonnigen Flecken erscheinen unerreichbar weit weg. Noch immer kraxeln wir im Schatten, und der Iseran ist auf alle Fälle mal keiner der Berge, die man "einfach so" wegsteckt. Hier muss richtig geackert werden!


Die meiste Zeit im Schatten: Es geht auf +2.700 Meter Höhe.

Ziemlich genau 17 Kilometer sind es von Val d´Isere, unserem Startort, bis auf den Gipfel. Siebzehn Kilometer, von denen wir 14 in Dämmerung, die ersten Kilometer in fast kompletter Dunkelheit fahren. Wie sehr genießen wir es - es geht ein großes "Ahhhh!" und "Ohhhh!" durchs Feld - wenn wir Flecken erwischen, bei denen wir - wenigstens für wenige Meter nur - von den Strahlen der sich schüchtern anschickenden aufgehenden Sonne erfasst werden.

Instinktiv machen wir etwas langsamer: Sonne! Soleil! Sun! Babylonisches Sprachgeschnatter, das internationale Peloton freut sich über ihre Präsenz.


Ganzjährig mit Schneewehen.

Ab und zu fahren wir an Eisfeldern vorbei. Schnee, halb gefroren, der sich widerspenstig dem gesamten Sommer widersetzen konnte, sich weigerte, zu schmelzen. Da liegt, drohend, scheinbar verhöhnend, uns sagen will: "Kannst Dich schon mal auf was gefasst machen, Du kleines Licht!"

Schön sieht es aus, faszinierend. Und doch, in seiner brutalen Ehrlichkeit auch einschüchternd. Das hier sind die Hochalpen - und wir haben Glück, dass über uns nur leichte Nebelschwaden wabern, und hier kein Schneefall, Wolkenbruch oder sonstwas uns den Aufstieg zur Hölle macht!


Reisende ins Licht: Anstieg auf den Iseran am frühen Morgen.

Ich fahre diesen ersten Anstieg des heutigen Tages nie allein. Obschon Heiko vom Start weg etwas langsamer macht (er weiß, was kommt), kann ich immer wieder mit anderen Teilnehmern schnacken, die mich überholen, oder die ich überhole.

Da wäre der Japaner, den, wenn er mich überholt, ich mit "Ganbatte!" anfeuere, der aber nie was sagt. Dann die beiden RG Uni-Jungs, die scheinbar immer hinter uns starten, nur, um uns dann grinsend zu überholen, das Team "Maggi" (nicht mit der Soße verwechseln) aus Russland, mit denen ich kurz auf russisch rede und viele Amis, viele Engländer.

Es lenkt mich von der Kälte ab.


Der Iseran ist einer der schönsten Aufstiege.

Die Ausblicke sind genial. Abenteuerlich schlängelt sich Hochnebel an den steilen Felsflanken auf, so, als habe der Berggott höchstpersönlich sein Lametta rausgeholt und die Gipfel festlich geschmückt. Der Fels schimmert - Eiskristalle? - wenn er von der Sonne getroffen wird, zartes Grün feinsten Grasbewuchses, den wahrscheinlich nur Bergziegen je betreten werden, bilden einen samtenen Teppich.

Wir fahren im Schatten. Wirken wie Eindringlinge. Die dunkle Seite.

Ich liebe diese Kontraste. Erhabene Natur, vollkommen unbeeindruckt von uns.


Warm bleiben bei der Kälte: Mein größtes Problem.

Dennoch muss ich hart arbeiten. Zunächst ist mir sehr kalt - und mein Körper nicht warm gefahren. Es kostet viel Mühe, die Betriebstemperatur auch nur annähernd zu erreichen. Start war 7 Uhr - sehr früh heute Morgen. Und Ende wird (Cutoff-Time) um 18:00 Uhr sein.

Marathon-Etappe!

Heute soll es über 164 Kilometer und 3 Berge gehen. Aber das versuche ich weit weg zu schieben. Jetzt stecke ich erst einmal mitten im Iseran.


Es wird hell - nur nicht für uns.

Der erste Kilometer ist noch recht flach, wirt können ihn auf dem großen Blatt fahren. Dann, die erste richtige Rampe, geht es gleich mal mit 8 bis 11 % zur Sache. Hier rasseln die Ketten aufs kleine Blatt, hier gehen die Ersten aus dem Sattel.

Der Anstieg selbst ist ab Val d´Isere 17 Kilometer lang, von denen dann 4 Kilometer Hardcore folgen, dann 200 Meter "Abfahrt" - in der Sonne, viele bremsen absichtlich - und dann die letzten 8 Kilometer der Gradient nie unter 5 Prozent fällt, sich im Schnitt bei 7, 8 % bewegt.

Schöne fiese Rampen im mittleren zweistelligen Bereich inbegriffen.


Aus dem Power-Gel wird Stangen-Eis. Es ist bibberkalt!

Die ersten Kilometer habe ich Probleme, meinen Rhythmus zu finden. Zu früh klingelte heute der Wecker, zu wenig "salzig" wieder das französische Frühstück. Dazu meine ständigen Zweifel: Habe ich genug an? Gestern hatten sie 1 bis 0 Grad auf dem Gipfel angekündigt, dazu "Windchill" in der Abfahrt.

Verdammt! Ich hätte doch das lange Unterhemd anziehen soll! Ach, Scheiß was - ich hätte das lange UND das kurze Unterhemd anziehen sollen!

Gefrorener Atem hängt uns in Fetzen vor unseren Mündern: Frostiger Anstieg hier im klirrekalten Schatten. Spaß macht das nur, weil die anderen Teilnehmer auch da durch müssen. Ginge es nach mir, wir wären hier erst gegen 9 losgefahren ...


So lang ist unser Tross?

Pünktlich um 7 startet das Feld, wie immer, preschen viele schon vom Start weg nach vorn - anders als sonst aber kann ich, als ich die erste Rampe fahren, den gesamten Tross einmal sehen: Schon habe ich die ersten 2, 3 Kilometer geschafft, da sehe ich die HAUTE ROUTE-Schlange noch unten in Val d´Isere. Die Radfahrer, ihre neon leuchtenden Windwesten, die Begleitfahrzeuge. Wahnsinn, wenn ich bedenke, dass ich etwa in der Mitte gestartet war: Wie weit geht unsere Schlange noch vor mir in den Berg?



Die ersten zarten Serpentinen: Noch nicht sehr steil.

Als wir endlich losrollen freut es mich, dass das Leiden endlich los geht: Denn noch schlimmer, als das Fahren in der Senkrechten ist das Dummherumstehen und einfach nur frieren. Es geht schnurgerade aus dem Ort raus, seicht geht es nach oben, ich kann die lange Schlange der Rennrad-Fahrer sehen, bis sie ganz weit vorn nach rechts hinter einem Felsvorsprung verschwindet. Wo mögen die Führenden jetzt sein?

Jeden Morgen dürfen die Top 75 Fahrer in einem eigenen Block etwa 30 Sekunden vor uns "Normalos" starten. Sie haben ihr eigenes Mavic-Fahrzeug und auch eigene Begleit-Motorräder. Jedoch, das betonen sie jeden Abend beim Briefing: "Wenn hier jemand Ambitionen auf eine Top 75-Platzierung hat, dann kann er sich gern mit in den Block stellen ..."

Äh. Nee. Lass mal.


Endlich geht es los!

So starte ich gewohnt irgendwo in der Mitte. Neben mir und um mich herum die bekannten Gesichter - man nickt sich zu, wünscht sich alles Gute und ist sich sicher, dass wir uns nach dem Rennen beim Rider´s Meal oder dem Briefing sehen werden, uns auf die Schulter klopfen und auf die Frage "How´s it goin´?" ganz betont beiläufig antworten: "Yeah ... fine."

Im Startblock: Katastrophe für 12, Schock im Peloton


Als wir im Startblock stehen, und wir zittern, fällt er mir wieder auf: Vor mir steht ein mindestens 70 Jahre alter (er ist 71!) Mann auf. Nur Haut und Knochen, dicke Sehnen an den Waden, keine Muskulatur. Er hat eine kurze Hose an - keine Beinlinge oder so. Er steht da, und bibbert so herzerweichend, dass ich ihn am liebsten in eine Kuscheldecke hüllen und vor einen Kamin setzen möchte. Und mich selbst auch.

Ich zeige ihn Heiko.

"Das ist Startnummer 94.", sagt er. Blaue Startnummer - das sind die ganz Harten. Die Eisernen. "Ein Iron-Rider, der die HAUTE ROUTE ALPS und die 2 Wochen später stattfindende PYRENEES fährt." Ich nicke anerkennend. Und zweifelnd.

Und taufe ihn "Iron Opa".


Der Tag beginnt unschön.

Die übliche langweilige "Ihr seid die Besten Rennradfahrer der Welt"-Ansprache wird diesmal ausfallen. Statt dessen eine Durchsage: Aus einem Code-geschützten Ski-Verschlag eines der Hotels sind in der Nacht von einer professionellen Bande 12 Rennräder gestohlen worden. (Wie war das? Das Average HOUTE ROUTE-Bike ist 7.700 € wert?)

Einer der Bestohlenen sagt: "Wie soll ich meiner Frau erklären, dass wir einen Refund für ein Rennrad bekommen, von dem sie gar nichts wusste?", ein zweiter sagt: "Hätten sie doch meine Frau genommen!" und ein dritter: "Ich bin nicht bestohlen worden - mein Bike haben sie zurück gelassen. Ich dachte immer, ich hätte gutes Material."

Wir lachen - und sind wütend. Von den 12 bekommen einige Ersatzräder von Mavic. Ohne Klickpedale. Sie werden in Turnschuhen mit Käfigen diese Kack-Etappe fahren. Die Anderen werden zum Zielort gebracht und bekommen dann dort morgen nagelneue Wiliers.

"Immer mit aufs Zimmer nehmen!", sagte ich wieder zu Heiko - auch wenn man sich mit dem Manager streiten muss.

Dann der Startschuss.

Es geht los. Marathon-Stage. Tag 3.

Renninformationen bei der HAUTE ROUTE - Kleine Gimmicks bei dem Etappenrennen


Ich beende diese Etappe, die mir so unglaublich in die Knochen fahren wird, auf einem tollen 353en Platz, 2:43 Stunden hinter dem Tagessieger. Heiko, den ich in der Abfahrt vom Col de l´Echelle abhänge, wird diese Hammer-Etappe in 7:46 Stunden auf Rang 362 beenden.

Wir haben 164 Kilometer mit 3.444 Höhenmetern gemacht.

Wir sind von -15 bis +32 Grad gefahren. Es war episch.


Praktisches Gimmick: Die Etappenaufkleber.

Abends, nach dem Briefing, schaue ich mir die Aufkleber an. Im Starterset haben sie uns von jeder Etappe jeweils einen Aufkleber gemacht. Dort verzeichnet - neben dem abenteuerlichen Profil - sind die Refreshment-Points und die Cutoff-Zeiten.

Die Lenkernummer, die jeder an seinem Rennrad befestigen muss, ist so gestaltet, dass man oben ein kleines Stück Pappe um den Lenker klappen kann, sodass man draufschauen kann. Dort klebt man sich den Aufkleber hin und hat so die Etappe im Blick.

Nette Idee - für Garmin-Fahrer nicht umsetzbar.

Ich schaue mir das Höhenprofil an und denke zurück, an den Iseran, die antarktische Kälte bei der Abfahrt, den Mont Cenis in der Sonne und die geilste Abfahrt aller Zeiten, das Tal des Todes, das uns gegrillt hat (zum Glück hatte ich nicht noch mehr Klamotten mit!) und den extrasteilen Endanstieg den Echelle hinauf, die Schussfahrt nach Briancon und das Endstück im Gegenwind.

Wow, was für ein Tag!

"Iron Opa", mit Namen Francois Le Maut, beendet diese extreme Marathon-Etappe übrigens nach 6:24 Stunden auf Platz 145.

Er ist eineinhalb Stunden schneller als ich.




Hier gibt es die ganzen Garmin-Daten der Marathon-Stage der HAUTE ROUTE 2013.


Und wieder gibts natürlich auch einen kleinen Film, diesmal haben sie eines der Teams begleitet:








4 Kommentare:

  1. Danke fürs Aufschreiben. Bis jetzt jeden Teil gerne gelesen :-)

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    1. hi clemes,

      danke fürs treue lesen & loben.

      ich gebe mir mühe, die etappen immer etwas unterschiedlich darzustellen, damit nicht immer das gleiche "berg hoch, berg runter" kommt. bei 7 etappen eine ... herausforderung :)

      grüße,
      L

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  2. Super spannende Berichte. Du scheinst echt durch die Hölle gegangen zu sein, und doch war es einfach unfassbar schön. Ich freue mich schon auf den nächsten Etappenbericht. Langsam aber sicher machst Du mir die Haute Route auch schmackhaft:-).

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    1. hi christof,

      danke :)

      ja, zu dem zeitpunkt wars die hölle. jetzt, mit +2 wochen abstand - ein TRAUM.

      kann ich nur empfehlen!

      etappe 4 ist halb fertig, sollte heute abend on sein.

      grüße,
      L

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