3. September 2013

Etappe 2 - HAUTE ROUTE ALPS 2013 - Rennbericht Megeve-Val d´Isere

"Aaaaah, wie herrlich!", stöhne ich, lasse mich ächzend in einen der Stühle fallen, pelle die schweißdurchtränkten Radschuhe von meinen heiß brennenden Füßen und atme genüsslich durch.

"Das war ... krass!", stöhnt auch Heiko, fast fällt ihm sein Teller aus der Hand, kaum sitzt er, fummelt auch er an seinen Schuhen und Klamotten herum: Nur alles ausziehen!


Muss ich mir erst noch verdienen: 1.000 Kcal vom Rider´s Meal.

Diese zweite Etappe hatte es mehr als in sich - kaum gehen kann ich mehr. Und fast schon kommt es mir vermessen vor, wenn ich auf meine 1,9 Kilo Pasta starre, die ich gekonnt zu einem waghalsigen Bauwerk auf meinem Teller aufgetürmt habe, das selbst babylonische Baumeister neidvoll erblassen lassen würde.

Wir hauen rein. verdient haben wir es uns.

Aber ach - vorher stehen  6 Stunden harte Arbeit ...

Alles nur ein Traum - Kältebibbernd am Start


Ich kann nicht sagen, dass ich wahnsinnig gut geschlafen hätte. Obschon unser Hotel ein eher komisch anmutendes ist (unser Zimmer ist an allen Wänden, der Decke und dem Fußboden in ungehobeltes oder geschliffenes Holz gehüllt, so als sagte damals der Handwerker: "Chef, das ganze Blut und so bekommen wir aus dem Beton nicht mehr raus ...", "Joa, dann mach´ halt was davor ...")
Ich meine, in einer finnischen Sauna zu schlafen ...

So sitzen wir etwas zerschossen am Frühstück - ich bekomme außer Kaffee und ein, zwei Croissants natürlich nichts herunter. Es gäbe allerdings auch nicht viel Anderes.


Gedämpfte Stimmung am Start - der Schon von Etappe 1 sitzt noch.

Sehr motiviert sind wir denn dann ehrlicherweise auch nicht, als wir - es ist 7:30 Uhr - zum Start rollen. Noch recht frisch (wie halten die das in kurz/kurz nur aus?!?) ist es, ich bin kaum richtig wach. Fragen quälen mich: Hat die Regeneration ausgereicht? Werden mich heute wieder diese fiesen Muskelkrämpfe peinigen?

Gestern hatte es mich bei der letzten Verpflegung im Endanstieg nach Megeve dermaßen erwischt, dass ich ganze 10 Minuten dort herum sitzen musste, fast eine ganze Flasche Wasser kühlend auf mein Bein gegossen hatte und nicht wusste, ob ich die letzten 10 Kilometer überhaupt würde treten können. Heute noch einmal sowas ... das wäre Katastrophe!


Im Startblock: Heute wird es hart!

Die heutige Etappe wird laut Roadbook der gestrigen denn dann auch in nichts nachstehen. Zwar mit 116 Gesamt-Kilometern knappe 35 Kilometer kürzer - dafür aber mit einem Kategorie 1 -Berg, dem Col du Cormet de Roselend und zwei Kat 2-Anstiegen auf den Col des Saisies und dem Endanstieg (yeah. wieder eine Bergankunft!) hinauf nach Val d´Isere.

3.500 Höhenmeter, verspricht die Etappenvorschau. Es werden "nur" 3.200 werden. Aber die werden auch weh tun.

Und wieder: Im Konvoi zum offiziellen Start


Wir vertreiben uns die Zeit im Startblock, vorne kommen ein paar Interviews und die obligatorischen letzten Sicherheitshinweise, pünktlich 8:00 Uhr dann der Countdown und langsam rollen wir los.


Im Konvoi zum offiziellen Timed Start - sicher, aber frostig.

Die ersten Kilometer geht es leicht bergab auf einer großen Bundesstraße. Da sie das Rennen hier nicht freigeben können, müssen wir diese 8 Kilometer durch einige Dörfer im Konvoi fahren. Immer wieder überholen uns die Security-Motorräder, ermahnen das Peloton, sich rechts zu halten.

Wir sind nicht schnell - maximal 35 km/h stehen auf meinem Garmin - ballern könnte man hier im Feld locker mit 55, 60 Sachen. Aber Massenstürze am Morgen ... muss nicht sein.

Kaum versehen wir es uns, bremsen alle unvermittelt ab. Vorne brüllen sie "Sloooowing!", alles drängelt an die rechte Seite, die Timing Matte, über die keine zwei Rennräder nebeneinander gleichzeitig passen. Kleiner Stau, lautes "Pieeeep!", die Zeit rennt, und schon beschleunigen sie vorne.

Ab geht es!


Jetzt zählt es - die HAUTE ROUTE erklimmt den dritten Col des Rennens.

Wir stecken sofort im Anstieg zum Col des Saisies - die Perlenkette zieht sich auseinander. Da ich keinerlei Anzeichen für Krämpfe verspüre und mir ehrlich gesagt etwas kalt ist, ziehe ich auch das Tempo mit an - warm werden!

Ich drücke mir mein "Anstiegs-Gel" rein, schalte auf das kleine Blatt und kurbele los. "Bis oben dann ...", ruft mir Heiko hinterher, zurückbleibend - und ich weiß, dass er mich eh bald wieder einholen wird.

Auf den Col des Saisies: Ich gebe Gas!


Ich komme sehr gut voran. Anders als gestern, wo mich am ersten Berg gefühlt das ganze Feld abgezockt hatte, kann ich gut mithalten. Zwar schießen noch immer die obligatorischen "ich kanns auch auf dem großen Blatt"-Typen an uns vorbei, aber die sind eh andere Liga.


Nicht hart, aber auch hier: Recht schnell gewinnen wir an Höhe.

Der Col des Saisies hat im 14,5 Kilometer langen Kernanstieg einen durchschnittlichen Gradienten von rund 5 bis 6%, ist also kein Ehrfurcht gebietender Hammer - aber er ist sehr lang, es ist sehr früh - und wie ich es einigen Gesprächen entnehmen kann: Das Feld ist müde.

Sie haben alle - und ich ja auch - gestern viel zu viel Gas gegeben. Sind die Cols viel zu schnell hochgestürmt, sind nicht konservierend, ja geradezu verschwenderisch und unvorsichtig mit ihren Ressourcen umgegangen. Heute sehen sie, dass diese Ressourcen für noch 6 weitere harte Etappen zu reichen haben.

Auch ein Grund, warum ich heute mithalten kann - man fährt mal locker 1-2 km/h langsamer.


Flott und kompakt - am ersten Berg bleiben wir zusammen.

Der Anstieg hat auf den ersten 6 Kilometern keine Pausenabschnitte - es fällt nicht unter 5 % Steigung, gern auch mal kleinere Abschnitte mit 8, 9 %, kurze Antritte bei 10 bis 11. Alles sehr gut machbar - doch ich schaue immer wieder etwas besorgt nach unten - bis wann machen die Muskeln mit?

Aber eigentlich müsste es heute gut gehen: Der Schock von gestern ist abgeheilt, ich habe massiv Elektrolyte und Mineralien nachgeführt und für meine Verhältnisse literweise getrunken. "Haltet durch, Legs", feuere ich meine Beine einmal etwas an ...


Private Begleitfahrzeuge - eigentlich ungern gesehen bei der HAUTE ROUTE.

Die ersten Kilometer kann ich so bei 12, 13 km/h sehr flott fahren. Vorn sehe ich in einiger Entfernung sogar Iain und Stu, unsere beiden UK-Teammitglieder. Komme ich da ran? Langsam, ja.

Zwei, drei Teams haben ihre eigenen Fahrzeuge dabei. Aus Fairnisgründen ist es durch das HAUTE ROUTE-Management untersagt, dass die Fahrzeuge Verpflegung und Getränke reichen, sie dürfen nur 100 Meter innerhalb der offiziellen Verpflegungsstationen Hilfe leisten - trotzdem wird es Beschwerden geben darüber, dass diese "Elite"-Teammitglieder nur eine kleine Flasche zu tragen hätten, wo wir mit zwei großen fahren müssen, und dass sie Support bekämen, wo andere teilweise 30 Minuten auf das Mavic-Fahrzeug zu warten hätten.

Mir ist das ehrlich gesagt egal. Mich wundert nur, dass diese "Elite"-Fahrer hier hinten bei mir herummeukeln. Sollten solche Leute nicht ganz vorn sein?


Hinter Stu und Iain - gleich wird es flacher zum Gipfel hin.

Nach 6 Kilometern folgt eine kleine, recht flotte Abfahrt, dann geht es noch einmal für 2,5 Kilometer bei 8 % nach oben, dann eine mit 1,5 Kilometer lange Zwischen-Abfahrt, bevor es dann zum Gipfel hin die letzten 4,5 Kilometer sehr arhythmisch zwischen 2 und 10 % manchmal nur sehr leicht, manchmal sehr schwer bergan geht.

Ich kann auf den letzten 2 Kilometern sogar meine beiden britischen Freunde überholen. Sie grüßen schön - aber ich weiß, dass sie oben keine Pause machen werden, und so wird es denn auch sein. Als ich oben ankomme und meine erste leere Flasche auffülle und - endlich! - frühstücke, schießen Iain und Stu an mir vorbei, gehen sofort in die Abfahrt.

Wohl dem, der morgens etwas essen kann!

Dann ziehe ich mir die Jacke aus, es ist hier oben auf fast 1.700 Metern Höhe zwar nicht warm - aber gleich wird es das.


Hart: 14 Cols bei der HAUTE ROUTE. Genial: 14 rasante Abfahrten aber auch!

15 Kilometer wird es nun bergab gehen. Ich genieße es - zwar, bedingt durch kurze Serpentinen und technisch anspruchsvolle, teilweise uneinsehbare Kurven, komme ich kaum über 60 km/h, aber das reicht mir auch. Es ist die Belohnung für den Anstieg, es treibt mir freudiges Grinsen auf die Wangen, kalter Wind knallt in den Ohren - ein Träumchen!

Das Cervélo S5 liegt fantastisch, auch in der Abfahrt. Ich genieße jeden Meter.

Krysztof Skupke wird den Saisies mit 39 Minuten als Schnellster erklommen haben. Ich selbst brauche hierfür 55 Minuten und belege mit Platz 330 von 490 Männern einen Rang, der in etwa meinem gestrigen Abschneiden leicht unter der Mitte entspricht.

Heiko kommt nach 58 min auf Rang 378 ins Ziel. Da bin ich allerdings schon in der Abfahrt.

Ob das so klug war? Herzstechen im Anstieg zum Col du Cormet de Roseland.


Es gibt keine Verschnaufpause: Direkt am Ende der Abfahrt vom Col des Saisies biegen wir ab - und fahren in die Senkrechte. Es geht auf den Kat 1-Berg des Tages, den Cormet de Roselend.


Unten im Roselend: Wald und leckerer Harzduft.

Ein Name, der mir im Zusammenhang mit Paris-Nizza und der Tour de France noch im Gedächtnis ist. Kein Monsterberg, auch dieser nicht, aber ein gewichtiger Name im Reigen der mythischen französischen TDF-Anstiege. Ich freue mich auf ihn!

Da mich heute anscheinend keine Muskelkrämpfe plagen, entscheide ich mich, das Tempo hoch zu halten. Kleinster Gang und ab dafür: 20 Kilometer ist der Anstieg ab Beaufort lang, dabei bis Kilometer 12 unerbittlich steil. Der Roselend ist nicht umsonst ein Kat 1-Berg!


Der Roselend ist kein Kuschelberg ...

Ohne Verschnaufpause geht es sofort in die Steile - 7 bis 10 % durchgängig, dabei keine Flachstücke oder Abschnitte, in denen es mal etwas abflacht. Man muss hier konstant die Kadenz hochhalten, verschnaufen gibt es nicht.

Vielleicht verkrampfe ich mich selbst zu sehr, vielleicht ist mein Bestreben, an diesem Berg endlich einmal meine Kletterqualitäten zeigen zu können, doch zu viel des Guten, aber irgendwo hier in den ersten Kilometern des Roselend passiert es: Ein Nerv wird sich irgendwo im Rücken verklemmen.

Und mir bei jedem einzelnen Atemzug einen Stich in mein Herz jagen.


Herzschmerz vom Allerfeinsten - blöder Moment!

Schon muss ich raus nehmen - meine Gruppe fährt mir davon. Es ist wirklich jeder einzelne Atemzug - tief einatmen geht schon mal gar nicht - bei dem es mir ins Herz zu fahren scheint, dass ich das Gefühl habe, jemand hätte eine dicke Stricknadel im Herzbeutel und zuckele immer daran.

Es tut fast unerträglich weh - kaum kann ich vernünftig treten.
Kaum atmen.
Aus dem Sattel zu gehen, verdoppelt den Schmerz.

Fotos zu machen - und dabei den Oberkörper zu verdrehen, ist die dümmste Idee (ich mache trotzdem weiter Fotos) und zum Genießen der Landschaft fehlt mir einfach ... die Luft.

Scheiße! Was soll das denn jetzt?!?


Ganz tolle Natur hier.

Die Aussicht vom Roselend ist traumhaft. Nicht umsonst vergibt Quäldich.de diesem Anstieg volle Punktezahl bei der Schönheits-Wertung. Zwar komme ich mir hier gerade ziemlich Roselend vor, aber ich versuche trotzdem, auch einmal ganz bewusst, eine Prise dieses unvergleichlichen Harzduftes zu nehmen, zu schmecken, zu fühlen. Oder die Ausblicke in tief geschnittene Täler zu genießen - allem Schmerz und aller Renn-Hektik zum Trotz. Es ist einfach überwältigend schön hier!


Bis Kilometer 12,5 nur steil.

Langsam lerne ich, mit den Schmerzen zu leben. Ich finde heraus, dass ich mich nicht zu tief herunterbeugen darf - dann klemmt es wohl noch mehr. Ich zwinge mich, kürzer, dafür stoßweise zu atmen, die Lungen nicht komplett zu füllen und ich versuche, ruhiger, runder zu treten und dabei nicht so oft aus dem Sattel zu gehen.

Freilich geht das nicht immer: Ab und zu muss ich die Rampen wegtreten, dann schmerzt es höllisch im Herzbereich!

Die Hamburg-Connection


Kurz bevor ich bei 12,5 Kilometern ein etwa 2.000 Meter langes Flachstück erreiche, wird es noch einmal richtig steil. Mittlerweile bin ich einige Zeit schon im Anstieg und ganz gedankenversunken in die Analyse meiner "Schmerzen des Tages", als mich eine deutsche Stimme von hinten aus meiner Trance weckt: "Ey, HAAAAMBUUURCHHH!", ruft es.


RG Uni Hamburg holt auf!

Ich drehe mich um - es ist Christian. Er fährt mit seinem Freund und Teamkollegen Carsten in den Farben der RG Uni Hamburg, kurz hatten wir uns gestern im Peloton getroffen und geschnackt, auch in Genf hatten wir die beiden in den unverwechselbaren Trikots auf einer Trainingsrunde angequatscht.

Ich freue mich über ihn, auch wenn er ziemlich fluggs an mir vorbeizieht - einen Hamburger zu treffen, das ist immer gut.


Ganz schönes Stück Arbeit, dieser Cormet de Roselend.

Die letzten Kilometer wird der Roselend noch einmal richtig giftig. Mittlerweile mit weniger Baumbewuchs - daher mehr Wind oder Sonne, je nachdem, wo man fährt, geht es ganz schön in die Beine. Immerhin sind wir jetzt schon länger in der Senkrechten, als am Saisies gerade - und das steiler.

Christian ist schon außer Sichtweite einige Serpentinen weiter - ich versuche, mein springendes Herz zu bändigen. Aber hey - wenigstens keine Krämpfe heute ...


Endlich, eine Rampe, eine enge Kurve - dann geht es flach. Ein Prozent. Neben mir rasseln Ketten auf das Große. Auch ich mache das, gehe aus dem Sattel, ziehe an, Stiche im Herz - egal - treten, treten!

Großes WOW auf dem Cormet de Roselend


Das Flachstück im letzten Drittel des Anstieges auf den Roselend ist eine Straße, die sie um einen wunderbar türkis leuchtenden Stausee gebaut haben. Der Ausblick ist fantastisch.

"Hey!", ruft es vertraut von hinten: "Hätte nicht gedacht, Dich heute noch einmal zu sehen!", ruft Heiko und schließt auf. Ich aber, ich wusste das.


Lac de Roselend - tolle Ausblicke auf den See..
Mir sehr willkommen, setzt er sich neben mich und wir fahren gemeinsam um den See. Ich kann Heiko von meinen Herzschmerzen berichten - er selbst fühle sich gut, wie er sagt, sei nur etwas müde von gestern und wolle nicht übertreiben, denn "der Endanstieg, das wird richtig Scheiße!", versichert er mir.

Der Endanstieg? Da habe ich vorher aber noch ein paar andere Probleme ...


Paarflug der Equipe SunClass.

Für den Race-Fotografen mache ich im Vorbeifahen ein nettes Gesicht, in Wahrheit aber mache ich mir Sorgen. Bin ich jetzt hier die Memme des Pelotons, oder was? Was ist nur los mit mir? Gestern massive Krämpfe, wie ich sie selbst in meiner Anfängerzeit nicht hatte, heute dieser beschissene Herz-Stich, der mich fast kirre macht. Nicht mehr befreit atmen zu können - ein Graus!

Wie soll das weiter gehen? Roselend, dann der Scheiß-Endanstieg - und noch 5 weitere Etappen Vollgas? Ich werde alt. Oder so.


Da drüben - die Felswand. Die letzten 7 Kilometer muss es da rauf.

Den See muss man ganz umrunden - zum Schluss geht es sogar einige hundert Meter richtig schnell bergab. Doch gegenüber erkennen wir schon die steile Felswand, die die fast 7 Kilometer Endanstieg hinauf zum Col markiert - und diese End-Kilometer sind noch einmal ein richtig harter Brocken.

Als es anzieht, kurbelt Heiko locker neben mir: Er hat es gut, denn unter ihm dreht sich seine Kompaktkurbel. Ich habe es ausfgegeben, darüber nachzudenken, ob das R3 nicht doch vielleicht besser gewesen wäre. Ja, wäre es, aber das macht es jetzt ja auch nicht einfacher ...


Wir haben das Gefühl, bald oben zu sein: Eine Täuschung am Roselend.

Mal vor ihm, mal hinter ihm, ich probiere einige Positionen aus: Wenn ich mich vor Heiko setze, dann kann ich mein eigenes Tempo fahren und werde nicht so sehr von seiner Kadenz und seinen Spitzen abgelenkt. Heiko geht deutlich öfter als ich aus dem Sattel, beschleunigt dann naturgemäß und kann so - je nachdem, wie lange er das macht - einige Dutzend Meter Abstand zwischen uns bringen.

Dann muss ich nachziehen, wollte ich nicht abgehängt werden.


Mal ist Heiko vorn, mal ich: Abwechslung im Anstieg.

Und wenn ich hinter ihm fahre, dann komme ich in Zugzwang - ich muss seine Antritte mitgehen, ob ich kann, oder nicht. Eigentlich Blödsinn - soll er doch fahren, wie er will. Soll ich ihn doch ziehen lassen. Und doch, etwas in mir will das nicht. Teamgeist? Konkurrenz? Wer weiß.

Wenigstens lenkt mich das Überholspiel etwas von meinem Herzen ab. Pokert er? Fahre ich neben ihm, schnackt er mit mir so locker, als seien wir hier gerade beim Einkaufsbummel unter Männern in der Bohrhammer-Abteilung bei Obi unterwegs - fährt er vorn, habe ich das Gefühl, dass er das Tempo anzieht, fährt er hinten, sehe ich in meinen Augenwinkeln, dass auch Heiko ganz schön pusten muss.

Oder bilde ich mir die Lance Armstrong.-Mätzchen nur ein?

Ein Stich holt mich ins Hier und Jetzt.


Auch Heiko geht das hier an die Substanz.

Wieder zieht eine Gruppe von 3, 4 Fahrer an uns vorbei. Heiko hängt sich an sie - und zieht langsam davon. Ich habe dafür keine Kraft mehr, kann hier, bei 6 bis 9 % das Tempo nicht mehr nachhaltig forcieren, zudem knurrt mein Magen. Ich schalte auf Konservierung, drücke mir noch ein Gel rein und freue mich auf die nächste Labe, bei der ich mir, ich schwöre es, wieder eine dicke, vierfache Schinken-Käserolle reinschieben werde!


Letzte Kurve, dann wird es flacher.

Die letzten 2 Kilometer flacht es merklich ab, nur noch maximal 5 Prozent Steigung. Dann das rettende Schild "Sommet 1 km" und darunter das Refreshment-Zeichen. Noch einmal hochschalten, noch einmal aus dem Sattel, noch einmal ziehen - "Piiieeep!", macht die Matte. Ich bin da.

Als ich ankomme, muss ich mich vor Schmerzen krümmen, als ich absteige - so sehr sticht es mir ins Herz. Ich atme bewusst mehrmals tief ein, unerträglich diese Messer im Herzbeutel! Schinken und Käse gibt es auch nicht. Verdammt!

Ich esse 4 Bananen und pinkle irgendwo hinter ein Auto.

Selbst beim Abschütteln schmerzt das Herz.


Auf dem Col. Kalt.

Meine Zeiten auf dem Roselend sprechen das ihre: Mit Ruhm habe ich mich hier nicht gerade bekleckert: Während Heiko diesen 21,5 Kilometer langen Anstieg in 1:36 h auf Platz (wieder mal!) 360 hinter sich bringt, kann er auf den letzten Kilometern noch 36 andere Rennradfahrer zwischen uns bringen, denn ich komme als 397ter nach 1:40 h auf dem Gipfel an.

Der Berggewinner, Peter Pouly, meistert den Roselend in schnuffigen 55 Minuten. Großes Blatt wahrscheinlich. Okay, der Langsamste wird 2:30 h gebraucht haben. Aber wer weiß, der hatte vielleicht auch eine Panne ...

Im Märchenwald: Cut-off Panik!


An die Abfahrt - immerhin 20 Kilometer Serpentinenvergnügen pur - kann ich mich kaum noch erinnern. Ich weiß nur, dass ich getrieben bin vom Wunsch, den Endanstieg mit Heiko gemeinsam zu meistern. Er kann nicht allzu weit vor mir sein und ich weiß, dass Heiko nicht besonders viel Wert auf eine superschnelle Abfahrt legt. Es müsste zu machen sein.

Und siehe da: Kaum ist die Abfahrt beendet und ich schlängle mich durch ein Dorf, entlang eines Flusses, da entdecke ich das Solartrikot, hole ihn - Herzstiche inklusive - ein und setze mich neben ihn. Gottseidank, denn was nun folgt, ist Panik pur ...


Wir fahren im Märchenwald. Zauberhaft.

Ich ordne mich hinter Heiko ein, der recht flott, wie ich finde, tritt. Ab und zu noch passieren uns einzelne Fahrer, wir überholen kaum noch welche. "Sag mal, was haust Du denn so rein?", frage ich außer Puste nach vorn.

"Wir müssen halt schauen, dass wir im Zeitlimit bleiben, nech? Wird langsam knapp ...", meint er. Echt? Ich schaue auf die Uhr meines Handy: Wir sind bis hierher knapp viereinhalb Stunden unterwegs, es ist 12:45 Uhr - noch 2:30 Stunden bis zum Cutoff. Ich fand das bis hierher eigentlich ziemlich bequem.

"Äh, sind doch noch mehr als Stundennochwas Zeit ...", stammle ich fragend.
Heiko nur so: "Schau mal auf die Höhenmeter ..."

Garmin hat bis hier her 2.200 Höhenmeter gesammelt.
Es fehlen noch 1.000.

Okay. Stoff geben!


Es geht sofort steil: Endanstieg mit Zeitlimit!

Den Märchenwald durchfahren wir relativ flux. Ich bin noch ganz gut aufgefüllt mit Wasser, muss daher eigentlich nicht an der letzten Verpflegung anhalten. Heiko will dies kurz tun - Wasser horten für den Endanstieg. "Ich fahre vor und pinkle schon mal", meine ich und fahre durch.

Ich nehme etwas heraus, meistere eine kleine Abfahrt und biege auf eine viel befahrene Straße ein. Augenblicklich zieht es an - ein Schild lässt meine Kinnlade herunter fallen: "Col d´Iseran - Ouvert". Oh, richtig - Val d´Isere ist am Fuße dieses Berges gelegen, den wir morgen zum Frühstück bekommen werden.

"Am Fuße" - das sind noch 1.000 Höhenmeter bis zum Fuß!


Mein australischer Begleiter - mit ihm trete ich fast 10 Kilometer bei +10 km/h.

Irgendwie erfasst mich jetzt, da ich diesen elend steilen und - wie lange geht das noch? 16 Kilometer? - auch distanztechnisch nicht zu unterschätzenden Endanstieg sehe, die Panik. Eigentlich war der Cutoff, so hatten wir das mal errechnet, nie ein Problem. Aber heute scheint es eng zu werden.

Von hinten schnauft einer heran, als sprinte er 100 Meter gegen Usain Bolt. Er saugt die Luft wie eine Turbine hastig ein, stößt sie geräuschvoll aus ... alter Schwede! "Man, you´re ´kay?", frage ich ihn, als er an mir vorbeizieht. Er nickt - dabei fallen Spuckefäden aus Nase und Mund: "... gotta keep ... steadily over 10 K - Cutoff - near ...", sprichts´ und schnauft davon.

Okay. Frauen und Kinder zu erst!

Lunge, halte Dich fest.

Blase, bleib ruhig - wir haben hier ein Cuoff zu meistern!

Ich trete dann auch mal lieber rein.

Der Endanstieg - Lungenflügel pflastern seinen Weg ...


Zwar haben sie das End of Timing vorverlegt - etwa 9 Kilometer vor dem eigentlich Ziel in Val d´Isere scheint es eine große Baustelle zu geben. Viel LKW-Verkehr, viel Dreck und Steine auf der Straße und einspuriger Verkehr, mit Ampeln geregelt. Also 9 Kilometer weniger treten.

Dafür aber auch das Cutoff vorverlegt. 14:45 Uhr ist es nun. Ich muss mich ranhalten.

Ich nehme den Schnauftypen zum Vorbild und bleibe bei 11, 12 km/h. Versuche es zumindest. Ein Australier, der locker neben mir herkurbelt, versüßt mir den Anstieg: Mit ihm schnacke ich über Familie, Australien, Radsport, Rennen und alles mögliche. Über ihn vergesse ich die Herzschmerzen, die jetzt wieder krass sind, meine volle Blase, die fast schon brennt und auch den Zeitdruck.

Fotos kann ich allerdings erst machen, als wir auf einem kleinen Flachstück vor der letzten Rampe ankommen.


Riesige Wand aus Beton: Auf diese Staumauer müssen wir noch!

Mir tut alles so weh, jeder Atemzug schneidet das gefühlte Loch in meiner Herzkammer weiter ein, habe ich das Gefühl. Es ist zwar nicht heiß, aber recht schwül - ich schwitze wie ein Tier! Schon habe ich meine erste Flasche leer, hänge an der zweiten.

Da taucht vor uns die letzte Rampe auf. Vor Schreck stichts mir gleich in beide Herzkammern gleichzeitig: Da rauf? Über uns türmt sich eine Staumauer am Horizont auf, umrahmt von fast ebenso senkrechten Felswänden. Ich schaue auf mein Garmin: Jo, da müssen wir rauf!

Wir nähern uns der Staumauer mit einiger Speed, doch nur langsam wird sie über unseren Köpfen größer. Meine Mitstreiter scheinen guter Dinge zu sein - oder in Panik wegen des Damoklesschwertes der Cutoff-Time, und geben richtig Stoff. Ich drücke mir noch ein Gel rein. Helm ab zum Gebet.

"Piiieeep!", Timing Matte - jetzt gilt es!

Richtig Gas geben kann ich schon längst nicht mehr - es sticht hier einfach nur in meinem Herzen herum, dass jede Kopfbewegung Höllenschmerzen auslöst. Trotzdem kann ich den Australier hinter mir lassen - von Heiko keine Spur.

Der Anstieg ist einfach nur Hammer: Peter Pouly, wieder Sieger an diesem Berg, wird die Strecke in 52 Minuten schaffen - ich werde 1:35 Stunden dafür benötigen und am Ende, als ich in das provisorische Ziel komme, einfach nur an einer Straßenbegrenzung neben den anderen zusammensacken. Krasse Scheiße!


Die Gezeichneten beim End-of-Timing. Noch aber nicht im Ziel.

Ich habe es noch - recht komfortabel wie ich finde - fast 1:30 Stunde innerhalb des Limits geschafft. Heiko torkelt keine 4 Minuten nach mir über die Zielmatte. Klickt aus und spuckt angewidert in den Asphalt. Er bringt lediglich ein heiseres "Alter!" heraus, den Kopf lässt er über den Lenker hängen.

Rampen bis zu 13 % haben sie uns vorgesetzt, ansonsten rund um die 10 % hier noch einmal im Endanstieg. Dazu ein Straßenbelag, der dieses Substantives nicht würdig ist.

Ich bin nur froh, oben zu sein. Merke, dass ich noch immer pinkeln muss - als eine Gruppe von 10, 15 Fahrern aufbricht, die letzten 5, 6 Kilometer nach Val d´Isere - noch immer bergauf! - zu fahren, reihe ich mich schnell ein.

Ohne Druck ins Ziel


Wir könnten ohne Druck fahren. Ich aber kann es gar nicht erwarten, endlich zu pinkeln, zu essen und in mein Hotel zu kommen. Und noch länger mit diesem Herzschmerz - es macht mich einfach verrückt!


All das wäre noch Teil der regulären Strecke, wenn nicht gebaut würde.

Oben auf dem Risenstaudamm geht es wieder zurück auf die Passstraße hinauf auf den Col d´Iseran, leicht nur bergan, alles okay.

Ich trete rein, setze mich schnell vom Feld ab. Mich treibt der Schmerz - in Blase und Herz. Ein Scherz.


Einige Schneetunnel vor Val d´Isere

Schnell passieren wir den Tunnel, müssen an ein, zwei Baustellen-Ampeln warten, die Felder konsolidieren sich, dann geht es wieder los. Und auf einmal, wie entfesselt, als ich das Hinweisschild nach Val d´Isere sehe, trete ich rein - irgendwie reizt mich der Gedanke, Ausreißer zu spielen.

Verrückt, nach diesem Höllenritt.
Und noch verrückter angesichts der Schmerzen, die nicht nachlassen wollen.

Endlich kommt nur auch die Sonne raus. Die diesige Wolkendecke reißt auf, ich fahre in einem wunderschönen Tal, umrahmt von tollen Bergen. Noch immer Gas geben - da vorn schon, ein Kreisverkehr, dann Val d´Isere. Wann kommt die Flamme Rouge?


Val d´Isere liegt in einem wunderschönen Tal.

Dann endlich, der Ort. Noch keine Zuschauer, kein Zielbogen, keine Absperrungen. Erste HAUTE ROUTE-Teilnehmer radeln mir locker entgegen - die Glücklichen, die schon im Ziel sind. Wo ist denn nun das Ziel, verdammt!

Dann, 1 km to go, steht da. Ich reiße mich zusammen, schaue mich um: Keiner da! Nochmal reingetreten, ich allein über die Ziellinie. Ein Polizist winkt, bremsen, Kreisverkehr, dann - da! - der Zielbogen, eine Stimme nennt meine Startnummer und mein Team, dann endlich - "Piiep!", im Ziel, Garmin aus, ausklicken, durchatm...Scheiße, tut das weh! Absteigen. Alter Verwalter!

Das Rennergebnis: Ich kann zufrieden sein.


Heiko kommt einige Minuten nach mir, aber auch als "Ausreißerchen" über die Ziellinie, auch er grinst erleichtert. Wir waren fast 6 Stunden unterwegs. Ich schüttle meinen Kopf, als wir die Räder in den Bike-Park schieben.


Auch Heiko im Ziel. Etappe 2 hat uns nicht mürbe bekommen!

Stolz und glücklich liegen wir uns kurz in den Armen. Nein, nein, wahrlich, diese HAUTE ROUTE ist nichts für Warmduscher. 

Für die 106 im Timing gezählten Kilometer benötigt der Etappensieger - Peter Pouly - unfassbar schnelle 3:22 Stunden. Unglaublich, wie dieser Mann, und mit ihm die Spitze des Feldes, diese 3.200 Höhenmeter einfach so wegtreten kann. Und das nach einem Tag, wie gestern!

Ich selbst ordne mich auf Rang 361 ein - das ist eine überraschende Verbesserung meines Etappenergebnisses von gestern um immerhin 4 Plätze. Und das mit Herzkasper. Nach 5:26 Stunden stoppt für mich die Uhr. Hammer: 2:06 h mehr gebraucht, als der Etappensieger!
Heiko wird als Platz 372 nach 5:29 Stunden gewertet.

Wir essen und trotten in unser Hotel.


Das Höhenprofil der zweiten Etappe: Wahnsinnshammer! 

Als ich mir das Höhenprofil ansehe, muss ich wieder schlucken: Col des Saisies geht ja noch, Roselend auch, der kleine Märchenwald fast spöttisch klein - aber der Endanstieg. Mein lieber Scholli. Den hatten sie beim Briefing gestern Abend als "keep some energy left for the end" umschrieben.

Some energy ... nee, ist klar!

Nach 2 Etappen habe ich bereits 4:18 Stunden Rückstand auf den Mann im Gelben Trikot, liege auf Platz 363 und habe mich somit um real zwei Plätze in der Gesamtwertung verbessert. Heiko auf 360.

Von 490 gestarteten Männern befinden sich nach 2 Etappen nur noch 465 in der Wertung.
5 Prozent schon raus nach 2 Etappen.

Briefing bei der HAUTE ROUTE - Professionelle Informationen zur den anstehenden Etappen


Unser Hotel ist 20 Minuten Fußmarsch etwas außerhalb von Val d´Isere - dafür nagelneu. Ein richtig schnuckeliges Zimmer - ich muss allerdings zuerst mit zwei Rezeptionisten diskutieren, denn ich will auf keinen Fall mein Rennrad in den Skikeller stellen.

Ich werde hierfür bestätigt werden.

Pünktlich 18:30 Uhr finden wir uns im Kino von Val d´Isere wieder: Allabendliches Briefing.


Super mach sie das: Umfassend zu allen Etappen informieren.

Wie immer beginnt es mit dem Video des Tages (könnt Ihr gleich unten sehen). Immer wieder überholen uns während des Rennens Motorräder mit Kamerafrauen - irgendwann sieht man dann immer einen TV-Uplink-Wagen herumstehen. Wahrscheinlich streamen sie das Material nach Indien oder so, lassen es in 2 Stunden schneiden, damit sie es uns jetzt zeigen können. Nach dem Film - Applaus.

Dann besteht die Slideshow, die zu erst den Tag Revue passieren lässt: Dinge, die den Kommissären aufgefallen sind. leute, die Müll wegwerfen, werden gerügt (wer zwei mal erwischt wird, bekommt Zeitstrafen), unfaires Verhalten, zu riskante Manöver beim Abfahren.

Es scheint heute zwei schwere Stürze gegeben zu haben.

Dann die Vorschau auf die nächste Etappe. Die Dritte. "Marathon-Stage", nennen sie diesen Karwenzmann. Profil, Steigungen, jeder einzelne Berg wird kurz erklärt. Dann die Gefahrenstellen - alles sehr sorgsam. "Let us get you to Nice in one piece. Please.", das sagt Matt jeden Abend.

An morgen?
Denken?
165 Kilometer, 3 Cols und 3.400 Höhenmeter?

Versuche ich zu vermeiden.

Wieder im Hotelzimmer google ich erst mal "Herzstechen beim Einatmen". Ich lese was von Herz-Fehlern, Schlag- und Herzanfällen, "Geht ja zum Arzt!" und solchen Dingen. Die Geschichte mit dem eingeklemmten Nerv, der abstrahlt, gefällt mir am besten. Ich beschließe, dass es daran liegt.

Und schicke ein kleines Stoßgebet zum Himmel, dass sich im Schlaf der Nerv entknotet ...


Hier geht es zu den Garmin-Daten der zweiten Etappe der HAUTE ROUTE ALPS.




Und wieder gibt es ein Video der heutigen zweiten Etappe, das die HAUTE ROUTE TV-Crew produziert hat:






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