1. Juli 2012

Der Alpenklassiker - beim Dreiländergiro 2012

Es war ein weiter Weg. Ein beschwerlicher Weg. Ein Weg hinauf an die Unterkante des Himmels. Ein Weg bis zum Horizont und darüber hinaus. Der Dreiländergiro 2012 - vom Tiroler Nauders nach Italien, durch die Schweiz und wieder zurück nach Österreich. 

164 Kilometer werden am Ende auf dem Garmin stehen - und viele tausend Kurbelumdrehungen in meinen Beinen, ehe ich über die Norbertshöhe kommend, an den wehenden Flaggen vorbei, endlich die letzten 1.000 Meter ins Ziel sprinten werde können.

Über die Norbertshöhe - nach fast 7 Stunden im Sattel kurz vor dem Ziel.

Wir, das sind Heiko, Swantje und ich, fahren wieder für unseren Sponsor SunClass Solarmodule. Dank ihm können wir uns den Traum von der Teilnahme an diesem Alpenklassiker erfüllen: Flug bis München - es geht am Samstagmorgen los.

Die Anreise nach Nauders

Jeder Flug ist Stress für unsere Rennräder und ich weiß nicht, was mich mehr aufregt: Das Wissen darum, wie einige Flughafenangestellte mit den Rennrad-Koffern umgehen oder die Chance, diesen Vorgang durchs Fenster beobachten zu können. Bisher ist - bis auf den Rückflug aus Portugal von einer Tour von Lissabon nach Porto - immer alles gut gegangen. Bisher ...

Ob die Jungs gut mit meinem Baby umgehen?

Aber als wir am Fluhafen München unsere Rennräder aus der Sperrgepäckausgabe abholen, werfe ich mit Lob nur so um mich. Begeistert: Auf keinem Airport habe ich die Gepäckverlader so vorsichtig und respektvoll mit den Rädern umgehen sehen, wie in MUC. Wunderbar! So kann ein Rennwochenende starten.

Im Flughafen erwartet uns ein Mietwagenfirmenmitarbeiter, alles sehr zackig, pünktlich und doch entspannt, der uns einen nagelneuen T5 Multivan übergibt. Als wir die Verstauung abgeschlossen haben, freuen sich nicht nur Heiko und Swantje über bequemste Ledersitze, sondern auch unsere 2 Cervélos und das Canyon über genug Stauraum. Warum läuft das heute so stressfrei und problemlos? Kenne ich ja gar nicht so ...

Perfekter Rennradtransporter: Der VW Multivan T5

Schnell sind wir durch München gegurkt und auf der Autobahn nach Garmisch, als wenige Minuten, nachdem wir auf die Reisegeschwindigkeit beschleunigt haben, wie eine Wand vor uns die Alpen auftauchen.

Für Flachland-Fischköppe wie uns drei Hamburger immer wieder ein toller Anblick: Bei den schneebedeckten Berggraten fangen sofort meine Waden an zu zucken: Ich bin halt auf Höhenmeter gepolt. Und davon sollte es ja morgen so Einige geben ...

Die Alpen beeindrucken mich immer wieder

Nach knapp 3 Stunden sind wir im kleinen Skiort Nauders angekommen. Dieser liegt auf halber Höhe zum Reschenpass, der hinüber nach Italien führt. Ein sauberer, ein netter kleiner Ort - unzählige Rennradler und Freizeit-Armstrongs bevölkern die Wege, wir brauchen nicht lange, um den großen Festplatz mit dem Riesenzelt und dem Start/Zielbereich zu finden: Akkreditierung!

Vor dem Rennen - Startplatzakkreditierung und Nummernverwirrung

Wir gehen über die Festwiese und ich bin ein wenig gedämpfter Stimmung: Das soll alles gewesen sein?

Endlich angekommen - hier fahre ich morgen 2 mal durch

Man hat ja viel gelesen im Vorfeld. Viel Gutes. Und viel weniger Gutes. Weniger Gutes habe ich lesen müssen von der Startnummernausgabe, den Starterbeuteln und der Art, wie sie das Renn-Umfeld hier organisieren. Und tatsächlich, als ich auf der großen Festwiese lediglich ein einziges Zelt von Power-Bar entdecke (das soll die Messe gewesen sein?) bin ich schon etwas enttäuscht: Da war ja selbst beim 400 Mann-Gran Fondo in Saint Tropez mehr los!

Tolle Kulisse - dürftige Messe. Nur ein Zelt.

Wir stellen uns bei der Startnummernausgabe an und was ich dann in meinen Händen halte, verstärkt diesen Eindruck: Wir bekommen - lose, nicht im Beutel - eine in Leitz-Folie eingeschobene DIN A4-große Startnummer ("Nicht knicken!!!") und einen Transponder.

Das wars.

Keinen Beutel mit den üblichen - ja klar, irgendwie sinnlosen aber doch lieb gewonnenen - Zugaben wie Gel, Broschüren, einer Zeitschrift oder Ähnlichem. Kein Streckenprofil. Keine Karte mit den Distanzen, Höhenmetern oder Standorten der Labestationen. Nichts. Keine Info. Nichts. Nur das Startnummern-Plakat, Kabelbinder, die sie anscheinend direkt bei der österreichischen Polizei gekauft haben (kann man damit Leute fesseln?) und dem Transponder.

Mäßig lecker - mäßig der Preis. Kloß im Hals.

Oh, halt! Klar, wir bekommen noch einen 4 €-Gutschein! "Geil!", denken wir uns, denn wir haben mächtig Kohldampf und wollen den Gutschein gleich mal bei der Pastaparty einlösen. Doch wir staunen nicht schlechht, als wir sehen, dass ein Plastikteller mit Plastikpenne und Plastikbolognese 5 € kosten soll!

Leute, bei aller Liebe - aber das ist doch lächerlich! Bei jedem kleinen Provinzrennen des German Cycling Cup bekommen die Teilnehmer den Pastateller kostenlos (was wird der Warenwert eines Tellers Plastikpasta sein? 60 Cent?) und hier veranstealten sie einen Gutscheinfeixtanz, dass ich nur den Kopf schütteln kann.

Aber lassen wir uns nicht die Laune verderben ...

Im Festzelt: Gut besetzte Bänke mit großen und kleinen Rennrad-Helden

Wir sitzen im großen Festzelt, aus den Boxen hämmert die obligatorische Rennrad-Startmusik-Compilation, es sind hier ungefähr 300 Leute am Essen und Schnacken. Ich sehe einige Faher vom RSC Kattenberg, der eine der schönsten RTFs im Hamburger Umland organisiert, viele Österreicher natürlich und einige Exoten von weiter her.

Schweden, einen Norweger.

"Langsam steigt das Rennfieber!", freut sich Swantje wie ein kleines Kind und ich muss ihr Recht geben: Ach, lass doch den Groll über die miese Startpaket-Geschichte und die 1 + 4 € Bolognese. Hier ist eine super Umgebung, super Wetter und morgen wirds sicher ein geniales Rennen!

Den Reschensee werden wir morgen auch umrunden

Als wir in Nauders fertig sind, besteigen wir wieder den Bus und gehen auf die Piste: Unser Hotel befindet sich hinter dem Reschenpass auf der italienischen Seite, etwa 15 Kilometer vom Start entfernt. So können wir schon einmal Einblick in die ersten Kilometer des Dreiländergiro bekommen - denn schon unmittelbar nach dem Start wird das Peloton den Reschenpass überqueren und genau an unserem Hotel vorbei zum Stelvio fahren.

Den allerdings besuchen wir heute nicht mehr.

Vor dem wohlverdienten Feierabendbier noch das Rennrad fit machen

In unserem Hotel angekommen werden wir von der wundervollen Martina herzlich begrüßt, staunen über urig eingerichtete, holzvertäfelte Einzelzimmer und gehen sogleich an den Zusammenbau unserer Rennmaschinen. Mehr als 10 Stunden Anreise stecken uns in den Knochen, und mir selbst fallen die Augen zu. Ich muss mich zusammen reißen, die richtigen Drehmomente einzustellen und selbst der Einbau des Vorderrades in Laufrichtung stellt eine nicht unerhebliche Denkleistung dar: Wir sind einfach fertig!

Unser Team für den Dreiländergiro 2012

Wir, das ist erst einmal Swantje. Sie fährt schon seit 2011 bei uns im SunClass-Team mit, bestreitet morgen aber ihr erstes Rennen, seit dem sie in einem Horror-Trainingsunfall von hinten von einem Auto überrollt worden war und sich die Wirbelsäule gebrochen hatte. "Ein Titankäfig hält ein paar Wirbel zusammen - es zwickt nur noch ein bisschen", kommentiert sie den Vorgang lässig.

Mir macht das mehr Unbehagen, als ihr, wie mir scheint.

Swantje an ihrem Cervélo S2

Und dann wäre da noch Heiko, mein Kollege aus der Agentur, mit dem ich die meisten Rennen der Equipe SunClass aber auch privat die RTFs bestreite. Heiko ist Routinier, eher der ruhigere Part im Team - als Programmierer stets korrekt, pünktlich, zielorientiert und immer up to date. Er hat sein Canyon in Nullkommanichts aufgebaut.

Irgendwann lehnt auch mein blitzeblank geputztes Cervélo R3 am Van: Und so schick ich das Rennrad immer wieder finde, wenn ich es mir besehe - diese Startnummern gehen gar nicht!

Nach 19 Auflagen des 3LG noch immer ein Provisorium: Die Startnummern

Wieviel Watt kostet dieses Segel? Eine Vorsichtsmaßnahme des Veranstalters, dass die Leute auf den rasanten Abfahrten auch ja innerhalb vertretbarer Geschwindigkeitsbereiche bleiben? Leute, echt, das geht doch - selbst mit Leitz-Folie - ein bisschen eleganter!

Allerdings, wenn ich mich an das Foto-Desaster beim Velothon erinnere: DIESE Startnummern wird der Sportograf nicht übersehen können! "Also, wir werden massig Fotos zur Verfügung haben!", prophezeie ich Heiko. Unmöglich, dass diese Segel übersehen werden.

Moin, moin - ein mal Dreiländergiro, bitte.

Ich schlafe erstaunlich ruhig. Immer wieder knackt es in meinem Zimmer hinter der Tiroler Holzvertäfelung, aber anders als sonst wälze ich mich nicht, von Traumfetzen geplagt, in schweißnassem Bettzeug herum. Ich nutze die 5 Stunden Schlaf fast vollkommen aus und fühle mich sogar recht frisch, als mich um 4:30 Uhr - draußen ist es noch stockdunkel - das Handy weckt.

Renntag!

"Endlich!", raune ich in die kalte Morgenluft - ich liege schon seit einer Stunde wach. Aber anders als sonst, konnte ich heute wirklich erholsamen Schlaf finden, stehe ausgeruht auf und bin als erster beim Frühstück. Wenige Minuten später gesellen sich Swantje und Heiko dazu: Wir scherzen. Aber das tun wir gedämpft - wohlwissend, was heute hier auf uns wartet.

Wir parken 4 Kilometer oberhalb Nauders - kurz vor dem Reschenpass.

Da der kleine Ort Nauders vor Rennradfahrern nur so wimmelt, entscheiden wir uns, einige Kilometer vor dem Ort nahe der Seilbahn unseren Transporter zu parken: Etliche andere Teams und Teilnehmer haben den Platz schon fast gefüllt. Ruhiger Hand setze ich mein Vorderrad in die Gabel, justiere noch ein mal die Bremsen - sie werde ich vor allem in den rasanten Abfahrten gebrauchen - und zupfe mir das Trikot zurecht.

Es ist frisch heute morgen, und doch entscheiden wir uns, die Beinlinge sofort wieder auszuziehen: Ich gehe heute mit langem Unterhemd, Kurzarm- und Langarmtrikot ins Rennen.

Verwirrung beim Start

Der Startblock ist schon gut gefüllt, als wir nach kurzer, schneller Abfahrt (genau richtig, um sich kurz aufwärmend auf Touren zu bringen) unten ankommen. Wir drängeln uns an den Wartenden vorbei und finden einen Platz, an dem wir die 30 Minuten bis zum Start gut warten können.

Blick nach vorn: Da ganz hinten müssen wir gleich durch.

Aus den Lautsprechern hämmert die gewohnte Sportevent-Mucke, ein übermotivierter Sprecher gibt noch einmal Streckendetails und Verhaltensregeln zum Besten: Die sei kein Rennen, sondern eine RTF; wir mögen doch bitte keinen Abfall in die Natur werfen (ist doch selbstverständlich! Schlimm, dass das immer noch Leute tun!); die Straßenverkerhsordnung - insbesondere in der Schweiz - beachten und, dann kommts: "Tja, liebe Sportfreunde, und dann noch ein mal ganz wichtig: Nehmt Euren Reisepass mit!"

Hä? Wie bitte? Reisepass?!?

"Wir haben es mehrmals schon gesagt und wiederholen es noch einmal hier: Für die Einreise in die Schweiz solltet Ihr einen Reisepass dabei haben - falls Ihr kontrolliert werdet ...." Musik geht wieder los. Ratlos gucken wir uns an - ratlos guckt sich auch das Fahrerfeld an. War das ein Scherz? Manche lachen. Die meisten zucken mit den Achseln.

Reisepass? Scheint hier keiner dabei zu haben.

Kurz vor dem Startschuss: Spannung und Kribbeln steigen

Die Verwirrung hält nicht lange vor: Bald schon zählen sie die Minuten herunter, wenig später die Sekunden. Und dann, dann endlich, schießt einer vorne, sie reißen die Boxen auf, treibende Beats spucken Bässe auf uns herab ... und eine Weile passiert erst einmal gar nichts.

RTF-Feeling zum Reschenpass

Als sich der behäbige Lindwurm der Rennradjünger dann endlich in Bewegung setzt, sind etliche Minuten vergangen. Erst nach dem Rennen, schon längst zu Hause, werde ich erfahren, dass sie für jeden die offizielle Zeit ab Startschuss messen, unabhängig davon, wann der Transponder die Induktionsschleifen nach dem Start überquert hat. Eine Regelung, die ich bis heute nicht verstehe.

Auf den ersten Metern freilich weiß ich das noch nicht: Wir ordnen uns im Feld und schwimmen mit.

Die ersten Meter: Sofort bergan

Neben uns scheint auch Mütterchen Sonne das Licht anzuknipsen und scheinbar von einer Sekunde auf die andere wird es schlagartig hell.

Ich fahre heute zum ersten mal mit dem Pulsgurt für mein Garmin Edge 800 und verfolge gespannt die Werte. Früher habe ich in der Wintersaison nach Puls trainiert, kenne daher meinen Maximalwert, die bei 194 liegt. Heute, so sage ich mir, will ich nicht über 170 kommen. Es soll ja eine Weile reichen ...

Aber nicht einmal diese 170 werde ich schaffen, die Speed ist anfangs sehr moderat. Das dichte Feld benützt die gesamte Straßenbreite, es herrscht wenig Dynamik im Peloton und bei seichten 3 bis 4 % Steigung schieben wir uns dem Reschenpass entgegen.

Keine Hektik: Anfangs geht es mit weniger als 30 km/h los

Swantje lässt sofort abreißen. Wir wissen, dass sie heute ihr erstes Rennen langsam angehen wirll und lassen sie ziehen: Sie wird heute ganz ruhig und auf ankommen fahren.

Heiko und ich überholen zwar hier und dort einige Rennradler, merken aber bald, dass in diesem Rennen anscheinend die obligatorische, hektische Anfangsphase, bei der jeder auf Biegen und Brechen versucht, nach vorn zu kommen, ausbleibt. Eigentlich logisch, angesichts der Höhenmeter und der Streckenlänge, die vor uns liegen.

Ich entdecke einen Hintern, der mir bekannt vorkommt: "Hey, bist Du nicht vor 2 Wochen die RTF in Nortorf mitgefahren?", rufe ich einem Mädel zu. Sie guckt und freut sich: "Jau, bin ich!"
"Ja, gute Fahrt dann und viel Spaß!"

Wir Nordlichter ...

Kein Blick zurück: Nauders sehe ich erst in 8 Stunden wieder.

Nauders liegt lang schon hinter uns, als wir auf dem Pass die Grenze nach Italien passieren. Der Reschenpass ist anders, als jeder Pass, den ich kenne: Kein schmaler Grat, dessen Scheitelpunkt die definitiv höchste Stelle markieren würde, keine atemberaubenden Serpentinen - der Reschen ist eher ein Hochplateau. Wenig spektakulär, kaum merklich. Wäre da kein Schild und die Gebäude der alten Grenzstation, der kleine Reschenpass würde keinem auffallen.

Als wir über die Kuppe schießen, zerreißt es plötzlich das Feld.

Die Geschwindigkeit steigt, sobald die Ebene erreicht ist.

Zu erst werden wir lang gezogen wie handgemachte italienische Pasta: Aus den Zehnerreihen werden Zweierreihen, die Speed steigt - bald schon schießen wir mit über 40 km/h über die Ebene - hinten taucht der Reschensee auf und mein Puls nähert sich der 160.

Rasante Perlenschnur 

Ich bin vor Heiko, halte das Hinterrad meines Vordermannes und trete rein, so gut es geht. Bald schon brennen mir die Lungen: Ist das jetzt das Renntempo des Dreiländergiro? Dann Helm ab zum Gebet! Immer wieder verschärft sich das Tempo, hinter jeder Kurve treten sie rein, als sei das hier ein kurzes Kriterium.

Und dann passiert es: Ich verpasse einen Antritt, vor mir reißt die Perlenschnur und sie ziehen mir davon. Ich bin nun Führender und merke - das Loch jetzt zu bridgen wäre schaffbar, aber idiotisch. In Untenlenkerhaltung ziehe ich die Meute bis ins nächste Dorf, dort gabeln wir ein paar andere Abgehängte auf, hinter der nächsten Kurve haben wir das Feld wieder ein.

Ich ruhe im Windschatten etwas aus. Warnschuss verstanden.

Der Reschensee - endlich haben wir unser Feld wieder.

Wir erreichen den Reschensee, an dessen Ende wir an unserem Hotel vorbeischießend schon wieder in die Abfahrt gehen. Es ist noch recht feucht auf dem Asphalt und ich muss staunen: So langweilig die Anfahrt auf den Pass ab Nauders auch war - umso krasser ist die Abfahrt auf der italienischen Seite!

Sofort reißt es uns wieder in Zweier- und Dreiergruppen auseinander, acht lang gezogene Abfahrten, die bis auf über 60 km/h beschleunigen, verlangen höchste Konzentration und Radbeherrschung. Die Überholvorgänge meiner Mitstreiter sind teilweise haarsträubend, einige schneiden die - ungesperrte - Gegenfahrbahn. Richtig interessant wird es, wenn wir uns hart in die engen, feuchten Haarnadelkurven bremsen müssen.

Rasante Abfahrten mag ich - aber nicht im nervösen Pulk.

Ich mache drei Kreuze, als ich die achte und letzte Serpentine meistere und wir uns wieder zu einem homogenen Feld zusammenfügen - der erste Pass ist geschafft, ich erlaube meinem Puls, wieder auf 150 abzukühlen.

Sturm vor der Ruhe

Wir haben keine 10 Kilometer vor uns, bis es ab dem Dörfchen Prato allo Stelvio in die Hauptattraktion des Dreiländergiro gehen wird - den Stelvio. Spätestens seit dem Höllenritt den Reschen hinunter, als uns die kalte Morgenluft kräftig Lunge und Ohren durchgepustet hat, sollte nun jeder Teilnehmer warm gefahren und hellwach sein.

Wind spielt noch keine Rolle, die Gruppe aber sucht jeder.

Wir sammeln uns wieder in Gruppen und treten durch das Tal. Die Speed ist nicht sehr hoch, aber eben auch nicht niedrig. Gesprochen wird kaum, ich wechsle kein einziges Wort mit Heiko, denn uns allen geht nur ein Gedanke durch den Kopf: Stilfser Joch!

Heiko ist kein Bergfahrer - und ich mir sind noch seine Flüche von Rad am Ring 2011 im Kopf, als er die 18 %-Rampe der Hohen Acht das erste mal abgeritten hatte. Hier und heute erwarten ihn zwar keine 18 %, dafür gleich aber ein Anstieg, der ihm nicht weniger als 24 Kilometer lang harte Aufstiegsarbeit abverlangen wird. Ehrfurcht steht in seinem Gesicht.

Ich selbst freue mich auf das Joch - zweithöchste Passstraße Europas, übertroffen nur vom Cime de la Bonette, mit dem ich bei meiner Tour de France im letzten Jahr schon Bekanntschaft schließen durfte.


Trockene Kehle vom D-Zug durchs Tal

Wir trinken, einige werfen die ersten Gele ein, das Tempo zieht auch langsam wieder an: Die Leute sammeln ihre Kräfte. Mehrmals finde ich mich jetzt wieder in der Führungsposition wieder, die ich aber nur wenige Minuten behalte, denn auch ich will mich möglichst schonen für den bevorstehenden Anstieg.

Noch weit weg: Die beeindruckende Felsenkulisse

Wir heizen nicht schnell. Können sogar Anschluss an das Hauptfeld finden und verweilen dann wieder im Windschatten. So rasant das Stück auf dem Reschenplateau auch war: Jetzt nehmen sie raus. Oder ist das nur der Rückstau vom Stelvio da ganz vorne?

Immer wieder blicke ich zu den imposanten Bergen, die sich vor uns auftürmen: Welche Kerbe ist denn nun das Tal, das tief im Inneren dann zum Pass wird?

Das Maß aller Dinge: Der Abstand zum Vordermann

Immer wieder staut sich das Feld auf, dann weichen wir aus, so gut es eben bei Gegenverkehr geht und lassen rollen - um dann, wenig später, hart in die Pedale steigen zu müssen, wenn sie vorne wieder Gas geben. Eine Kreuzung? Eine Ampel? So weit, wie sich das Fahrerfeld des Giro da vorn auseinander gezogen hat, kann ich aber nicht sehen. Dranbleiben ist jetzt die Devise.

Und dann, urplötzlich, reißt das Feld wieder auf und wir finden uns im Wind wieder. Wer fährt das Loch diesmal zu?

Gerade mal 40 Minuten gefahren und schon Löcher stopfen?

Ich entscheide mich, vorne zu bleiben - aber ohne zu überdrehen. Meist reite ich bei 37 bis maximal 40 km/h herum. Wenn einer schneller sein will, dann soll er das gerne tun und sich vor mich setzen. Es dauert nur wenige hundert Meter, dann findet sich einer, der auch mal die Jens Vogt-Erfahrung machen möchte.

Heiko hält sich vornehm im Hintergrund: Nicht gerade heldenhaft, dafür aber umso cleverer.

Sie warten lauernd ab, wer sich findet, um sie zu ziehen

Dann, irgendwann, erreichen wir Prad. Das Ortsschild kennt jeder. Freiläufe surren, viele halten rechts an und beginnen, sich auzuziehen, sich umzuziehen, sich zu erfrischen, sich zu dehnen, sich auszuruhen.
Denn ab hier geht es los.
Ab hier zählt es.

Ab hier ist Stelvio angesagt.

Heiteres Vorspiel

Direkt Ortsausgangsschild starte ich die Rundenzeit an meinem Garmin: Wie lange werde ich für den Aufsteig brauchen? Sicher: Volle Kanne kann ich heute nicht gehen, immerhin steht mit dem Ofenpass noch ein weiterer Berg auf dem Programm, interessant ists trotzdem.

Noch ist das Feld dicht beieinander

Schnell sinkt die Geschwindigkeit auf unter 20, dann 15 und wenig später, als es wirklich anfängt steil zu werden, kraxeln wir mit 10 bis 13 km/h die Rampen hinauf. Heiko bleibt zunächst bei mir, als ich dann aber zum ersten mal eine 11 oder 12 % auf meinem Garmin stehen habe, lässt er abreißen: "Ich fahre hier ganz ruhig hoch!", meint er.
"Ich auch", sage ich und entferne mich langsam aber sicher von meinem Teamkollegen.

Im Anstieg muss jeder sein eigenes Tempo gehen. Und so arbeite ich mich allein nach oben.

Heiko geht sein eigenes Tempo

Schnell ziehen streut der Stelvio die ersten Hammerrampen ein. Langsam und kraftvoll kurbele ich hinan, versuche dabei, meinen Puls um die 155 Schläge zu halten - gehe ab und zu in die Wiegetritt, um meine Gelenke zu lockern, erreicht mein Puls die 160er-Marke, setze ich mich wieder hin: So gerate ich nicht außer Puste, komme kaum in den roten Bereich und halte mich unter Kontrolle.

Meiner Erfahrung nach bin ich am Berg schneller als die meisten Mitstreiter - ich wieger nur 63 Kilo, mein Körperfettanteil sollte bei knapp 4 % liegen und so müssen die Muskeln, die ich habe, nur wenig Gewicht die Hänge hinauf treiben. Dazu ein Rennrad - das Cervélo R3 - dass nur knapp 7 Kilogramm wiegt und damit wenig Gewicht beisteuert.

Ich beginne, die Leute zu überholen.

Heiß ist es - aber wenigstens im Schatten

Noch geht es durch den schattigen Wald auf der linken Seite eines immer tiefer eingeschnittenen Tales. Geradeaus können wir eine massive Bergwand sehen, Schnee glitzert auf den Gipfeln: Wir alle schauen immer wieder nach oben - da wollen wir hin, da, da ganz hoch oben, da müssen die 2.700 Meter Höhe sein.

"Noch 23 Kilometer ...", keucht einer neben mir.
"Na - dann hamwa´s doch bald geschafft", flöte ich fröhlich zurück - in Wahrheit wünsche ich mir, dass der Anstieg noch sehr sehr lange anhalten soll. Ich liebe die Berge!

Grandiose Ausblicke

Als die Strecke an die rechts Seite des Tales wechselt weiß ich, dass wir nun an der richtigen Flanke zum Stelvio sind. Immer größer werden die Lücken zwischen den Radrennfahrern, immer leiser werden die Gespräche, immer prägnanter das Schnaufen, das Nasehochziehen, das heiße Atmen aus den Tiefen brennender Lungen.
Verzerrte, ja, fast verkrampfte Gesichter, tief in den Augenhöhlen, kleine Schlitze, durch die dünne Augen starren.

In die Vertikale

Ich fühle mich frisch. Fühle mich stark. Fahre locker, im kleinsten Gang, aber locker - meine 155 halte ich und es gelingt mir mühelos, mit 1, 2 km/h Überschuss meine Mitstreiter zu überholen. Überpace ich? Kann aber gar nicht, ich fahre ja nach Puls.

Die Abhänge werden steiler

Wir lassen bald den dichten Wald hinter uns - noch weit unter der Baumgrenze zwar - sehen uns aber nun der prallen Sonne ausgesetzt. Mein Langarmtrikot habe ich längst schon ausgezogen, unter dem langen Unterhemd jedoch rinnt der Schweiß. Soll ich im Anstieg meinen Helm ausziehen? Das habe ich in Frankreich immer gemacht: Extra Erfrischung. Aber against the rules. Na, ich lasse es mal.

Das Gesicht täuscht: Es macht wirklich Spaß

Der Stelvio ist hier unten noch relativ harmlos. Im Schnitt sind die Rampen 8 % steil, nur wenige, kurze Abschnitte treiben die Digits in den niedrigen, zweistelligen Bereich.
Ich fahre meist im Sitzen, achte darauf, alle 10, 15 Minuten zu trinken und das Gel, das ich mir unten am Stilfser Joch eingeworfen habe, gibt mir Vertrauen. (Allerdings fühlt sich mein Magen zunehmend leer an)

Noch verdecken Bäume die Straßenzieharmonika

Neben mir taucht einer auf, der mein Tempo geht. Er trägt das grüne 3LG-Trikot, eine Rennradhose mit "Dubai"-Aufdruck und schnackt mich von der Seite an. Ich weiß nicht mehr wann und nicht mehr wo das Zweierteam mit Henning angefangen hat, den Stelvio gemeinsam aufzurollen, aber irgendwann sind wir nebeneinander und gehen in die ersten richtigen Serpentinen.

"Ich übe hier für die Haute Route.", sagt er. Mmh. Die Haute Route. Sollte bei mir nächstes Jahr auf dem Kalender stehen. Henning fährt ein nagelneues Scott CR1, hat kaum mehr Fett am Körper als ich und bewegt sich ebenso sprunghaft, fast katzenhaft-geschmeidig in der Vertikalen.

Die Luft wird dünner - Bäume werden weniger

Wir wechseln im Gespräch auf die linke Fahrbahnseite und beginnen, als Zweierteam immer mehr Teilnehmer zu überholen. Unsere Gesprächsthemen werden bis ganz oben zum Pass von Job, Politik, Rennrad, Rennen, Trainingstechniken, Frauen, (Brüste im Speziellen), Frauen im Job, Frauen auf Rennrädern und Rennräder mit Frauen und schönen Brüsten bewegen.

Der eine oder andere Seitenblick unserer Mitstreiter, die sich offensichtlich durch unser allzu laschen Gespräch belästigt fühlen, wird wahrgenommen, aber bald schon haben wir sowieso genug Abstand, sodass keiner unseren Trashtalk wirklich lange ertragen muss.

Angenehmer Nebeneffekt: Die Kilometer schmelzen nur so dahin. Henning ist wie ein Sedativum - er lenkt ab von den nun mittlerweile sehr häufig auftretenden 12 bis 14 %-Rampen. Einmal verschlägt es sogar uns die Sprache, als wir einen 20 %igen Absatz überwinden müssen (der keine 15 m lang war).

Grandioses Alpenpanorama.

Links neben mir gibt es schon keine Bäume mehr an den Berghängen, auch Gras oder Moos sucht das Auge vergebens: Hier dominiert karger, schroffer Bergbasalt. In den mächtigen Kerben sammelt sich Schnee und Eis, Wolkenfetzen treiben vorbei, als fände wenig weit vor uns ein Artillerieduell statt. Die Luft wird dünner, das merke ich an der Veränderung meiner Atmung, öfter mal muss ich Schlucken, um den Druckausgleich in meinen Ohren herzustellen - wahrlich, es geht bergauf!

Starke norddeutsche Fraktion: Pirate Bikes im Stelvio

Dann entdecken wir eine Gruppe mit bekannten Trikots: Pirate Bikes. Ich fahre neben sie und grüße: "Seid Ihr aus Hamburg?" Sie schauen mich wortlos an, vergessen kurz zu kurbeln. Einer schüttelt den Kopf. Starren wie Schafe. Was ist denn los? Keine Puste mehr? Fragte ich nach einer Geheiminformation?
Pirate Bikes ist mein liebster Rennrad-Shop in Hamburg - könnte ja sein, dann Robert hier heute mitfährt. Wäre interessant gewesen. Aber ich lasse die wortlosen Piraten mal allein - nicht, dass die hier kurz vor dem Höhenkoller sind und ich will bestimmt nicht schuld sein, wenn wegen mir einer ... was komisches veranstaltet.

"What´s your Height-Cal, Mate?"

Mr. Dubai und ich setzen unseren Talk-Climb fort. Die Ablenkung ist willkommen, wenn auch nervig für unsere Mitstreiter.

Schnackerei verkürzt mir das anstrengende Kurbeln

"Wow, 17 % Steigung!", sage ich ein mal mit Blick auf mein Edge.
"Nee, ich hab nur 14 %!", entgegnet er.
Daraufhin entspinnt ein leidenschaftlicher Dialog pro Garmin - oder Contra Sigma. Für Henning steht fest, dass die Amerikaner in ihr Gerät eine falsche Gradientenmessung eingebaut haben - "weil die Amis auf Helden stehen", argumentiert er.

Ich nehme das zum Anlass, um einen Schritt weiter zu gehen: "Ja, die Amis: What´s your Gradient?", frage ich in übertrieben texanischem Style. Er lacht. "Weißte was?", spinne ich weiter: "Eigentlich könnte man doch noch viel geilere Werte erfinden ... sowas wie: Höhenmeter pro Kalorie ... also: wie gut kann man die Energie in Höhenmetergewinn umwandeln?", sinniere ich.

Henning darauf: "Hey, mate, what´s your Height-Cal?"
"Yeah, Height-Cal!", freue ich mich amerikanisch ...
"Aber", insistiere ich: "Man müsste doch noch die Steigung einbauen, denn sonst sind die height-cals ja aussagelos ..."
"You´re damn right, my friend!", nickt er.

"Also - that´s ... let´s say ... three height-cals ... with actually ... fourteen percent", zitiere ich wieder den aktuellen Gradienten.
Henning schüttelt nur den Kopf: "Hör mir auch mit Deinen Heldenwerten! 11 %, basta!"

Na, einig werden wir uns heute wohl nicht ...

Ab Kehre 24 wird es noch atemberaubender

Schon passieren wir die 24te Kehre - und befinden uns damit genau unterhalb der letzten - aber dafür weitaus beeindruckendsten - Hälfte des Anstieges. "Schon fast oben!", ruft Henning und stürmt demonstrativ nach vorn: "Los, Keule!"

Ich bin so doof und folge ihm. Schnell jedoch sind wir wieder bei Normalspeed.

Eine Karawane Cabrio-Smarts überholt uns. Knapp 20 der Kleinwagen drängen sich an uns Radfahrern vorbei - aus jedem der Lederfonds dröhnt mehr oder weniger schlimme Popmusik. "Gehören die zur Streckensicherung?", fragt einer. Ich zucke mit den Schultern - glauben tu ich das nicht, so schlechte Musik hören sie nur in Italien: Der Dreiländergiro ist ein österreichisches Produkt.

In mehreren Stockwerken übereinander kurbeln sie nach oben.

Jedes mal, wenn ich nun über die Steinmauer nach unten blicke, sehe ich, wie sich meine Mitstreiter die fast wie ein Gedärm wirkende, extrem schlängelnde Serpentinenstraße, die sich eng an den fast senkrechten Fels schmiegt, hinaufkämpfen. Wie eine endlose Schlange kleiner Insekten arbeiten wir uns den Verdauungstrakt der Alpen hinauf. Wo werden wir wieder ausgespuckt?

Den richtigen zu Rhythmus finden - das ist hier der Schlüssel

Meinen Puls kann ich konstant unter 160 halten. Fahre ich im Sitzen - kleinster Gang - kann ich mich bis auf 153 Schläge pro Minuten herunter regeln. Ich atme ruhig und besonnen, jeden Anflug von Anstrengung oder ablenkender Energieverschwendung unterbinde ich.
Wird es steiler, schalte ich einen Gang höher, gehe in den Wiegetritt und schraube mich kraftvoll nach oben - die Abschnitte nutze ich, um mich zu dehnen, meine Muskeln zu lockern und andere Gruppen zu nutzen.

Obschon der Wiegetritt anstrengender ist: Bis 160 Schläge pro Minute beschleunigt mein Herz etwas zeitversetzt. Erreiche ich diesen Wert, schalte ich zurück und trete ruhig im kleinsten Gang weiter.

Immer wieder kühlende Wolkenfetzen

Ausgehend von meiner maximalen Herzfrequenz von knapp 195 Schlägen, bewege ich mich laut meiner Rechnung damit stetig an der Grenze zwischen GA1 und GA2 - und sollte damit sogar noch einen Trainingseffekt erzielen. An meine maximale Herzfrequenz möchte ich heute nicht gehen - wozu auch?


Die pure Frische im Gesicht: Heute macht das Klettern Spaß!

Ich nehme mir vor, jetzt, da ich endlich einen Garmin-Pulsgurt habe, zuhause noch einmal genauer meine Trainingstagebücher und meine alten Conconi-Tests anzuschauen - und ggf. zu wiederholen - um noch mehr über das pulsgesteuerte Training (und damit auch die Wettkampfsteuerung) zu erfahren.

Nun sind es nicht mehr viele Kehren ... oder doch?

Immer wieder ziehen Fetzen von Nebel vorbei, kondensieren auf unseren heißen Lippen und schirmen etwas von der unbarmherzig daniederbrennenden Sonne ab. Ich nutzte diese Gelenheiten, um ausgiebig zu trinken, etwas rauszunehmen, auch mal das eine oder andere mal die Schenkel auszuschütteln: 24 Kilometer stetiger Anstieg sind nicht ohne.

Und doch: Ich fühle mich überraschend frisch. Besehe ich mir die Gesichter meiner Mitstreiter, fällt mir das eine oder andere mal fast schon kafkaesque verzerrte Schmerzmienen auf.

Könnte ich unendlich so weitermachen ...

Hach, ich könnte himmelhochjauchzend ins Tal jodeln, so sehr macht das heute Spaß: Das Wetter passt, die Stimmung im Feld ist super, ich habe einen angenehmen Gesprächspartner gefunden und meine körperliche Leistungsfähigkeit scheint heute makellos zu sein: Vergessen meine Magenkrämpfe, die mich beim Granfondo Saint Tropez so haben leiden lassen. Hier und heute bin ich in Topform.


Zeit zum Schnacken und Fotografieren - durch Fitness.

Ich bin schon recht gut trainiert in diese Saison gegangen: Sicher hat mein Lauftraining und der Barcelona Marathon zur Saisoneröffnung eine gute Grundlage zur allgemeinen Ausdauer gelegt. Dass ich vor diesem Rennen in nur wenigen Wochen - immerhin im Hamburger Flachland - schon 18.000 Höhenmeter gesammelt hatte, zahlt zusätzlich ein.

Und dabei lobe ich mir mein Höhentraining, das ich mir vor einer Woche an unserem Hamburger Waseberg verabreicht habe: 25 mal bei 15 % die Elb d´Huez-Runde gedreht. Das sind 2.000 Höhenmeter, die mir jetzt zu Gute kommen.

Da unten: Die Franzenshöhe

Irgendwann bin ich auf der letzten Serpentine vor der Franzenshöhe. Hier steht ein traditionsreiches Hotel - auf 2.100 Meter Höhe. Alle Fahrer wissen, dass es jetzt "nur" noch 500 Höhenmeter zu überwinden gilt, um den großen Stelvio zu bezwingen.

Wie viele Height-Cals das wohl sind?


Die Flanken des Stelvio fest in Rennradler-Hand

Es bleibt wenig Zeit, um zu verharren - obschon Einige absteigen und hier eine Runde Pause machen. Nur wenige Minuten später (und ich bin immer wieder fasziniert, wie schnell das bei 6 bis 11 km/h Aufstiegsgeschwindigkeit dann doch immer passiert) schaue ich von weiter Ferne auf die Franzenshöhe.


Fast oben ...

Das wirklich schöne an der Franzenshöhe aber ist, dass sich nun das Ziel direkt über uns befindet: Es ist jener finale Anstieg über dem fast senkrechten Berghang, der auf keinem Rennradlerfoto fehlen darf: 10 Kehren bis zum Sieg. 10 Rampen zum Glück. Der Countdown, den wir hier alle nun mehr oder weniger still vor uns hinsurren.

Noch vorübergehend im Nebel verschwunden: Das Ziel. Die Passhöhe.

Wenn das hier ein Bergzeitfahren wäre: Es wäre jetzt der Moment, an dem ich losstürmen würde. Noch ein Gel eingeworfen und all-out! Ich weiß, dass es bis oben nur noch wenige Kilometer sind. Und ich fühle, wie viel Reserve da noch in meinen Beinen steckt. Und doch - ich muss mich bremsen. Oben auf dem Pass angekommen wird der Kilometerzähler erst bei 38 stehen - und dann sind noch 120 vor mir.

Ich vertreibe schnell den Gedanken an die Restdistanz aus meinem Hirn: Das Hier und Jetzt genießen!

Alle Großen des Radrennsports fuhren auf diesen Kurven.

Wie mag das hier im Winter aussehen? Übervoll von Schneeverrückten? Skihascherl und Pistenrowdies? Ich fahre gern Ski, aber das hier - bei diesem grandiosen Sommertag - mit dem Rennrad und nur wenigen Lagen Lycra bekleidet auf dampfendem Asphalt hier hochzuschnaufen, das ist das Beste, was man machen kann.

Für mich reift hier oben in den Bergen der Rennrad-Sport zu seiner schönsten, seiner reinsten Form: Kraft und Anmut gehen Hand in Hand, Technik und Strategie wollen klug überlegt sein, sein Körper verstanden, die der anderen wollen gelesen werden - hier in den Bergen, hier in der Steigung finde ich diesen meinen Sport, den ich so liebe, am spannendsten. Nicht zuletzt, weil mir das hier liegt - aber auch, weil in der Steigung auch der Profisport für mich seine attraktivsten Geschichten erzählt.
Langsam aber sicher schält sich der Himmel hinterm Grat heraus

Durch den Nebel dringt auf einmal rhythmisches Geklatsche. Ab und zu hören wir Gejohle und Gegröhl: Ein Unfall? Nein, es klingt, als hätten sich hier genau über uns hunderte Zuschauer eingefunden, die jeden einzelnen Teilnehmer über die Passhöhe applaudieren.

Ein Blick nach oben aber ernüchtert: Wahrscheinlich trichtert der Berg das ferne Zelebrieren - denn die Höhe ist noch fern. Und doch: Motivieren tut es allemal!

Entrückte Welt. Ferne Realität.

Die Franzenshöhe liegt nun fast daumennagelklein in weiter Ferne - schon thronen wir, die Sportler, über den  Nebelbänken. Minuten um Minuten verrinnen. Nur das Surren meiner Schaltröllchen, nur das Klatschen des ferngetrichterten Beifalls in den Ohren.

Immer mal wieder zieht ein Motorrad vorbei. Und doch, bei aller Anstrengung, es ist ein Traum! Immer steiler geht es neben uns, immer gewagter bauen sie die Serpentinen in den Hang. Schon stehen die Asphaltstraßen wie auf Stelzen hervor, manches mal schwindelt es mir, blickte ich allzu unverzagt über die Brüstung aus Stein. Geht das etwa noch steiler?, frage ich mich ein ums andere mal.

Ja!, bestätigt mir ein nächster Seitenblick ein Stockwerk weiter oben.

Ein Anblick, den ich nie vergessen werde!

Immer näher nun das Klatschen und Gröhlen - nun kann ich ein steigendes Kribbeln in den Händen kaum mehr leugnen. In mir quillt Sieg hoch, obschon nur ein Teilsieg, aber doch immerhin: Der Traum vom Stilfser Joch, den ich nun schon so lange träume, er ist bald Wirklichkeit!

Es ist so steil, dass man die Spitze nicht sieht.

Es sind nur noch eine Handvoll Kurven. Nur noch wenige Umdrehungen - und dann endlich oben!

Ein leidenschaftliches Knurren meines Magens bestätigt dies: Unten nach der Abfahrt soll eine Labestation auf uns warten und die habe ich auch bitter nötig! Zwar führe ich heute nicht weniger als 8 Gels mit mir (Heiko wird bis Rennende 9 Power-Gels verspeisen!) aber nur von Gel allein kann man ja nicht leben ... wie sehr sehne ich mich auf einmal nach deftigem Schwarzbrot mit Salami ... sind wir hier nicht im Vinschgau?

Vinschgauer ... oh je ... Hunger!

Fahren in der Stratosphäre

Höhenluft macht hungrig, sagt man ja so.
Oder auch: Wer viel arbeitet, darf viel essen.
Alles sone Sprüche ...

Ich werde den Stelvio mit 2:03 Stunden ab Prad am Ende bezwungen haben. Knapp 2 Stunden bei konstantem Power-Output (mir kommt kurz in den Sinn, dass eine SRM-Kurbel ganz interessant wäre ...) und ich frage mich, wie viele Kalorien mich dieser Aufstieg wohl kosten wird. 2.000 Kalorien?

Wie viele Cheesburger müssten dann oben auf mich warten?
Genau acht Stück.
Oh je, noch mehr Hunger!


Seilbahn in Sicht: Gleich geschafft!

Die fünf letzten Rampen liegen vor uns. Henning versucht schon seit einer halben Stunde, uns beiden das Schnacken zu verbieten - mehrmals muss er kurzzeitig vor Lachkrämpfen fast anhalten, lässt sich zurückfallen, um wenig später wieder neben mir zu erscheinenn. Mal was anderes, als immer so verbissen die Berge hochzukrampfen.

Warum sie kurz unter dem Gipfel staubtrockene Manner-Waffeln verteilen, bleibt mir ein Rätsel. Eigentlich saulecker, sind die bröseligen Gepäcktafeln hier irgendwie absolut das Gegenteil von dem, was ein Rennradfahrer nach so einem Anstieg jetzt brauchen würde ... aber ich nehm es dankbar an. Und huste Schokostaubwolken vor mir her.


Henning und der Cervelover - zwei gar lustige Alpziegen

Der Sportograf macht unser Stelvio-Foto. Ich vergesse zu grinsen, Henning schaut auch etwas bedröppelt drein. Ob er auch von 8 Cheeseburgern träumt?

"Nee Du", sagt er, "ich muss dann sofort weiter - muss heute noch nach Stuttgart, morgen wichtiger Termin. Ich versuche, unter 6 Stunden zu bleiben ... will ja pünktlich sein." Oha, unter 6 Stunden - das ist mehr als sportlich.
Für mich ist klar, dass ich oben auf Heiko warten werde. Nicht, um eine schöne lange Pause zu haben, sondern um gemeinsam, als Team, die Abfahrt zu meistern - und die immerhin noch 120 Kilometer lange Strecke zu zweit in Angriff zu nehmen.

Der Pass - von da hinten kam ich her

Endlich komme ich an den Klatschenden vorbei: enige Meter vor dem offiziellen Gipfel stehen sie. Es sind Supporter eines Teilnehmers aus Sachsen. Keine 10 Mann und Damen stehen da - und die machen so viel Krach?
"Ihr seid Spitze!", ruft Henning ihnen als Dank für die Motivation zu.

Ich genieße den Jubel, winke ihnen atemlos vor Freude zu, ehe ich mich umsehe und mir das Erreichte beschaue: 2.700 Meter Höhe - und da hinten, dort, wo es senkrecht hinab geht, schaut es aus, als befände ich mich hier mitten in den Wolken.

Unbeschreiblich, dieses Gefühl!

Heute tausendfach fotografiert: Das Gipfelschild

Ich stelle mein Rennrad ab und schreite zum Gipfelschild. Nur auf dem Col de la Bonette war ich höher - und den habe ich leider im Schneeregen nicht ganz allein bewzingen können. Aber diesen hier, den Stelvio, die Königin aller Pässe, den habe ich im Sack!

Bye bye und Hello!

Henning hat es eilig: Als Unternehmensberater immer im Auftrag des Kunden unterwegs. Wir schießen ein Andenkenfoto und dann saust er auch schon talwärts. Henning: Geiler Sport, mein Lieber. Jederzeit wieder! Bye bye und gute Fahrt, mein Freund!

Kameraden der Senkrechten

Allzu lange möchte ich hier aber nicht warten: Es weht trotz strahleblauem Himmel ein eiskalter Wind und schnell habe ich das Langarm-Trikot übergezogen. Ich beobachte das geschäftige Treiben auf dem Gipfel - die obligatorischen Devotionalienhändler bieten T-Shirts, Postkarten und Sonderpoststempel an, ein Verkäufer lockt mit riesigen Bratwürsten ... wo bist du, Heiko?!? Ich will meine 8 Cheeseburger!

Heiko auf dem Gipfel

Es ist 9:45 Uhr, als ich auf dem Gipfel mein erstes Foto schieße.
Und es ist 9:57, als ich Heikos unverkennbares SunClass-Dress in einer Gruppe Ankommender entdecke. Ich juble ihm zu und winke: Er wirkt sichtlich erfreut und enthusiastisch.

"Na?", rufe ich ihm zu, als wir uns per Handschlag begrüßen: "Haste Deine Bergphobie überwunden?"
Er grinst nur. Scheinbar hat er.

Tief durchatmen - Trinken - Banane essen!

Wir verschnaufen noch einige Minuten, ehe wir uns in die Abfahrt wagen. Und ich rechne: Auf 24 Kilometer Anstieg habe ich 12 Minuten Vorsprung auf Heiko herausgefahren. Wahnsinn, welche Unterschiede man am Berg machen kann, wenn man nur ein wenig bessere Beine hat - Sport zum Anfassen: Und jetzt verstehe ich auch, wie eng und hart umkämpft die Abstände bei den Alpenetappen der Tour de France-Profis sind. Ein erfolgreicher Angriff kann die Tour entscheiden.

Aber so einen Ritt halte erst einmal durch - 2 Stunden Schwerstarbeit! Und wir machen jetzt Pause - ein Contador, Schleck und Co würde nun schon längst in der Abfahrt sein!

Nur nicht den Hals brechen!

Die Abfahrt ist Wahnsinn. Ist Horror. Ist Genuss. Abenteuer. Ist Irre und wahnwitzig. Wir werden nicht schnell - bei 70 km/h ist Schluss - aber wir werden beschleunigt, dass es fast wie Lichtgeschwindigkeit anmutet. Die ersten Kilometer der Abfahrt (ich friere wie ein Hund!) rauschen nur so an uns vorbei. Heiko fährt vor, aber schon in der zweiten Kurve habe ich ihn überholt. Ich lasse rollen, bis ich den Anbremspunkt erhalte, bremse hart in die Kurve, gehe dabei nach außen und steuere auf den kurveninneren Scheitelpunkt zu. Halb durchfahren - Gas geben!

Solange die Straße gut ist, geht das auch ohne Probleme, wobei mich die Kälte dermaßen schlottern lässt, dass das Rennrad gefährlich schlenkert. Ich muss öfter schlucken - die hart erarbeiteten Höhenmeter klackern wie ein irre gewordener Stromzähler herunter.

Rasante Abfahrt vor toller Kulisse

Den Umbailpass - ein kleiner Gegenanstieg mit nur wenig Höhenmetergewinn - merke ich gar nicht. Fast fühlt es sich an, als ginge diese Schussfahrt bergab nurmehr in ein kurzes, ebenes Stückchen über, schon bald darauf schrauben wir uns sehr viel gefährlicher in den Berg gegrabene Serpentinen hinab. Immer wieder blicke ich mich um: Ist denn auch die Ideallinie frei oder zischt hier gleich ein Irregewordener an mir vorbei?

Jedes mal, wenn ich auf eine der engen Haarnadelkurven zuschieße, muss ich mich zwingen, mir nicht vorzustellen wir es wäre, wenn jetzt ein Bremszug reißen oder ein Schlauch platzen würde ...
"Mein Papa ist Jagdflieger, mein Papa ist Jagdflieger", bete ich das Mantra herunter in der Hoffnung, seine Speedgene geerbt zu haben.

Als wir auf die zwei, drei Kilometer "Naturstraße" kommen, lasse ich es sehr ruhig angehen. Der Untergrund ist fester Schotter, aber eben Schotter, der bei einer harten Bremsung ebenso ins Rutschen gerät, wie loser Sand: Höchste Sturzgefahr! Die großen und kleinen spitzen Kieselsteinen, die mir gegen das Unterrohr knallen, machen mir Magenschmerzen - als ich den ersten Teilnehmer am Rand beim Schlauchwechsel sehe, mache ich noch langsamer.

Selbst bei nur 40 km/h ruckelt es dermaßen hart die Buckelpiste hinab, dass mir schon nach kurzer Zeit die Handgelenke vom Bremsen schmerzen. Es ist wahrlich eine Tortur, sich hier konzentriert herunter zu bremsen - Hut ab vor denen, die Paris-Roubaix meistern!

Endlich ist die Schotterstraße überwunden und wir schießen die letzten Kilometer auf gutem Asphalt ins Tal. Ein Krankenwagen, der mit Martinshorn und Vollgas bergauf an uns vorbeistürmt lässt Schlimmes ahnen ...

Wie froh bin ich, nach knapp 17 Kilometern die Labestation zu erreichen ... her mit den Cheeseburgern!

An der ersten Labestation

Ein wenig enttäuscht bin ich schon: Wieder nur Süßkram! Und trotzdem stopfe ich mir wild zwei Bananen rein und mache mich über die Käsestullen her. Aber: Bei aller Liebe - Leute, bitte! Wir sind hier bei einem Radrennen, bei einem harten noch dazu, und da könnt ihr doch keine Weißbrot-Toasts anbieten! Ich meine, wie viel Kalorien stecken in einer Scheibe Weißbrot? Zwei?

Und dann nur mit Scheiblikäse belegt. Nicht einmal für ja!-Salami hat es gereicht? Und sonst nichts weiter? Keine Nüsse? Keine Riegel? Gurkenscheiben oder so etwas?

Vom Büffet bin ich sehr enttäuscht, mein Magen quittiert die zweite Banane mit einem Essstreik. Aber was soll ich machen? Etwas essen muss ich ja! Auch Heiko hat zu kämpfen und versucht, sich so gut es eben geht, wieder auf Vordermann zu bringen.

Die Hitze ist fast unerträglich. Viel trinken!

Wenn ich gewusst hätte, was uns als nächste blühen würde, hätte ich sogar noch eine dritte Banane zusätzlich gegessen, aber da die Veranstalter auch kein Höhenprofil mitgegeben haben, war uns natürlich nicht klar, was da gleich auf uns warten würde ...

Zum zweiten Anstieg

Direkt nach der Labestation geht es los. Wir haben gar keine Zeit, uns zu ordnen - es geht sofort wieder bergan. Aber nicht steil: Der Ofenpass, der nun folgt, lullt uns zunächst mit optischer Täuschung ein. Er gaukelt Ebene vor.

Tour de France-Feeling selbst beim Pinkeln

Vorbei an einem Feld aus Pinkelnden geht es zunächst mit wenigen Prozenten bergauf. Sofort schwitze ich wieder wie ein Tiger und ziehe mich, freihändig balancierend, aus. Die Landschaft um uns herum ist klassich Bilderbuch-alpin: Saftig grüne Wiesen, Muh-Kühe, die uns anblöken und das eine oder andere schick herausgeputzte Bauerndörfchen. Immer mal ein kleines Wäldchen, ein Flussläufchen, alles sehr niedlich - und dabei merke ich nur an den Digits meines Garmin, dass wir hier schon 6 % haben.

Ein wunderschönes Hochtal

Die Sonne scheint, die Wiesen blühen, und es könnte durchaus sein, dass um die nächste Kurve herum Heidi mit ihrem Großvater am Streckenrand steht und uns anfeuert.

Schnell ist das einst kompakte Feld wieder zersplittert - Rückenwind treibt die einen an, mehr in Kurbelarbeit zu investieren. Die, die es wissen (wie gehören nicht dazu), lassen es langsamer angehen.
Ich halte meine Nase in die Sonne und genieße diese Schönheit - Ach, die Alpen ...

Heiko am Fuße des Ofenpass

Plötzlich zieht es an. Eine lang gezogene Rechtskurve schraubt sich merklich bergan, 8, 9 dann 10 % steil. Heiko flucht: "Alter, ich komme hier gar nicht voran!" Beine wie Gummi, meint er, oder bildet er sich das nur ein? Nach einer Schussfahrt mit 70 km/h kommen mir 10 km/h auch vor wie Stehenbleiben.
Aber er hat wohl wirklich echte Probleme: "Ich mach mal ganz langsam ...", meint er und nimmt raus.

Bei mir ist noch alles in Ordnung, und ich beschließe, auch diesen Pass in meinem eigenen Tempo zu fahren und oben auf ihn zu warten. Langsam fällt Heiko hinter mir zurück.


Grenzstraße in die Schweiz - wir merkens auch am Verkehr

Der Verkehr wird auf einen Schlag dichter, ein kurzes Stück, einige, wenige Kilometer nur, und es wird flacher. Ich merke irgendwie, dass ich noch mehr Kraft habe, schalte auf das große Blatt und beginne, die anderen Mitstreiter zu überholen. Bald erreiche ich 27 km/h - und als da eine 1,5 % auf meinem Display steht - es geht leicht, aber doch immerhin bergan - traue ich meinen Augen nicht.

"Was ist hier nur los?", frage ich mich bei jedem, den ich überhole.

Sie werde ich bis ins Ziel immer mal wieder sehen

Ich hole eine Dame ein, die hier auch als Einzelfahrerin unterwegs ist: Sie wird mir bis ins Ziel immer mal wieder begegnen. Riesenwaden, sehr tiefe Haltung. Ich setze mich vor sie und versuche, mit ihr im Zweier weiterzufahren - doch auch sie lässt abreißen. Komisch.

Was ist nur in diesen italienischen Bananen drin?
Und: Kann ich heute Abend ruhigen Gewissens ein Steak essen ... wer weiß?!?

Und mal ne andere Frage: Warum kommen mir ständig Leute mit Startnummern entgegen?


Schon kann man hinter uns kaum noch das Tal erkennen

Nach dem schnellen Flachstück geht es dann wieder merklich in die Vertikale. Schon schalte ich aufs kleine Blatt und finde mich am Ende einer kleinen Gruppe wieder. Der Blick zurück verdeutlicht, dass wir hier wirklich in einem Anstieg sind - nicht zu vergleichen mit dem wilden Design eines Stelvio. Aber auf das Höhenmeterkonto zahlt das hier auch alles ein.

Langsam arbeite ich mich durchs Feld. Als ich eine Stelle finde, an der ich es eine Weile aushalten kann.

Vor mir fahren zwei wunderschön schlanke Damen-Popos mit tollen, ausdefinierten Rennradwaden. Ein blonder und ein brünetter Zopf lugen keck unterm Rennradhelm hervor: Die Leightweight-Damen, wie ich sie taufe, sind eine Augenweide. Es gibt doch nichts tolleres, als Rennrad-Mademoiselles!


Sie werden rund 10 min nach mir im Ziel in Nauders sein

Als ich (verschämten Blickes) das Beweisfoto geschossen und mich einige Minuten im sonnigen Anblick der in ihrem wunderschönen Windschatten genug gesonnt habe, gehe ich an ihnen vorbei, sende ein Zwinkern und konzentriere mich wieder auf den Dreiländergiro: Ne Dame zum Heiraten werde ich hier heute sicher nicht finden ... oder?

Nach diesem Dörfchen wird Tacheles geredet

Vor uns wird das Tal immer enger. Das letzte Dorf ist auch bald durchquert. Leichter Rückenwind schafft Speedvorteile - verhindert aber auch genügend Kühlung. Neben mir muschelt einer: "Ofenpass ..." und schaltet gleich mal einen Gang zurück.

Ein Pass, der seinem Namen alle Ehren mach

Nach dem Rennen und wieder zu Hause werde ich den Ofenpass bei Quäldich.de checken: Ab Tschierv sind es knapp 5 Kilometer auf die 2.150 Meter hohe Passhöhe. Von ganz unten sind 770 Höhenmeter zu überbrücken, von denen ich hinter Tschierv schon die Hälfte im Sack - aber noch das Schlimste vor mir - habe.

Da hinten wird es senkrecht

Nachdem wir bei mäßigen Prozenten ans Ende des Tales angekommen sind, geht es scharf rechts in die Serpentinen. Und hier haben die Architekten und Straßenbauer nicht mit Gradienten gespart: Durchgängig im zweistelligen Bereich, ab und zu auch mal 16 %, selten 9 und weniger. Der Ofenpass ist im oberen Teil wesentlich steiler, als der Stelvio.

Viele der Rampen fahre ich komplett im Stehen. Reihenweise sehe ich Mitstreiter schieben. Viele sitzen im Wald am Straßenrand und schwitzen hart atmend ihre Seitenstechen heraus.

Diese eine steile Schleife - und 80 hm höher!

Die Hitze ist der Hammer! Unter meinem Helm läuft es in Strömen, aber es ist so steil, dass ich beide Hände immer am Lenker behalten muss. Anhalten kommt nicht infrage, und so kämpfe ich mich tropfend nach oben.
Ich überhole einen anderen Cervélo R3-Fahrer - an seinem Rad knarzt das Tretlager, als habe ihm jemand eine Perlenkette ins Gewinne gelegt. Immer mehr Leute überhole ich, schmerzverzerrte Gesichter hängen tief auf schlaffen Schultern. Mir läuft es die Waden herab - wo bleibt der Krampf? - frage ich mich und auch, wie lange ich das hier durchhalte.

Ah, trinken nicht vergessen!

Pizzagefühl: 200 Grad Umluft am Ofenpass

Wir kleben uns an die nackte Felswand neben uns, schleichen wie Lämmer zur Schlachtbank. Kein Schatten, der schützt, kein Baum, der milde seine Äste über uns ausbreiten würde, auch keine Nebelbänke, die uns kühlende Nässe auf die Lippen kondensieren: Flimmert es hier über dem Asphalt? Und was, wenn wir im weichen Bitumen stecken blieben?

Eine Kette des Leidens

Doch damit nicht genug: Als ich die lang gezogene Linkskurve, die sich mindestens zwei Kilometer am glutheiß abstahlenden nackten Felsen entlang windet beendet habe, blicke ich nach rechts und sehe wilde Serpentinen - steil! - die sich wie eine extravagante Stufentorte einer Promihochzeit über meinem Kopf auftürmen.

Alter! Ich will zurück auf den Stelvio!

Haben es mehr als in sich: Steil, steiler, Ofenpass

Der Verkehr ist so dicht, dass sich die Autos und Caravans bis zum Stillstand neben uns aufstauen. Mehr als ein mal muss ich durch dichten Dieselruß eines mit 9.000 Umdrehungen anfahrenden Wohnmobils hindurch treten - und das bei 12 % Steigung!

Es bleibt wenig Platz zum manövrieren - oftmals kann ich lange keinen Überholen, weil nichts mehr zwischen Rennrad, Caravan und Gegenverkehr passt. So schön der Ofen auch ist - hier im Verkehrsstau bei zweistelligen Prozenten und Grad-Celsius macht das ... eher wenig Spaß.

Einer der flacheren Abschnitte, wo man mal fotografieren konnte

Immer öfter gehe ich aus dem Sattel. Wo ich noch vor ein, zwei Stunden meine 160-Schläge-Regel hatte, geht es jetzt darum, nur ja keinen Krampf zu provozieren. Nicht, dass sich da was ankündigen würde, aber ich kann mir meinen Geschwindigkeitsüberschuss am Berg nur damit erklären, dass ich hier überpace. Und damit früher oder später krampfen würde. Aber rausnehmen ist noch schwerer ...

So fahre ich die eine Rampe im Sitzen.
Die nächste im Stehen.
Ich muss das nicht lange durchziehen: 5 mal geht es um steile Kurven, dann habe ich die Passhöhe erreicht. Schweiz, here I am! Und hey, Ofenpass? Gemeistert.

Auf dem Ofenpass in 2.100 m Höhe. Die Schweiz ist erreicht.

Es ist 11:43 Uhr, als ich das Passfoto mache. Eine knappe halbe Stunde brauche ich für den harten Teil des Anstieges - und bin sehr zufrieden, als ich mich unter der schweizerischen Nationalflagge auf das Oberrohr meines Rennrades setze, einen langen Zug aus meiner Trinkflasche nehme, und mir die Labestation beschaue.

Hunger habe ich. Aber erst mal warte ich auf Heiko. Zusammen speist es sich doch gleich viel angenehmer ...

Grüezi!

Polizisten regeln hier den Verkehr. Freundlich weisen sie die Radler an, nicht in die Gegenfahrbahn zu den Autos zu geraten, bestimmt halten sie die Autos davon ab, in die wankenden Höhen-Helden des Ofenpasses zu rauschen.

Heiko kommt etwa 10 Minuten nach mir oben an. Ich rechne: Am 24 Kilometer langen Anstieg gewinne ich 12 Minuten zu ihm. Am nur 17 Kilometer langen Anstieg zum Ofenpass wieder 10 Minuten: Heiko ust entweder sehr viel langsamer geworden, oder ich schneller. Ich nehme an, letzteres trifft nicht zu.

Immer mehr Gegrillte treffen auf dem Ofenpass ein

So wie er das Büffet stürmt, ist er wohl richtig platt. Er stopft sich die dargebotenen Kuchen rein, als wäre heute die letzte Speisung vorm Herrn. Ich selbst kann wieder nur eine Banane essen - dieser ganze süße Kram verursacht mittlerweile schon beim bloßen Hinsehen Übelkeit.

Warum gibt es bei diesen Veranstaltungen nie Salziges? Da ist jeder RTF bei uns in Hamburg kulinarisch viel weiter vorn ... Junge, was würde ich jetzt für ein Wurstbrötchen geben?! Oder vier ...

Wie Ausgehungerte am Wasserloch ...

"Na, wie gehts Dir?", frage ich Heiko.

Der hat schon Probleme beim Kauen und such nach den richtigen Worten: "Also ... ich ... bin ... platt.", bringt er heraus. Heiko ist eher Triathlet und als solcher viel lieber in der kurzen olypmpischen Distanz zu Hause, er mag die flachen, gleichförmigen Rennradeinsätze: Unsere Saison 2011 im German Cycling Cup war wie gemacht für ihn. In diesem Jahr ist kein Rennen kürzer als 140 Kilometer - und keines hat unter 3.000 Höhenmeter. Eine harte Prüfung.

"Und Hölle, dieses Süßzeugs kann ich nicht mehr sehen!", pöbelt er das letzte Stück Kuchen an, bevor er es in den Mund schiebt. "Los, weiter!"

Manchmal kann auch Galgenhumor motivieren

Vorher kraxle ich auf eine kleine Anhöhe, halte meinen Schwengel in eine Busch und werde das los, was ich von den 2,5 Litern Energydrink nicht ausschwitzen konnte.

Ich weiß, dass nun noch ein kleinerer Anstieg kommt und wir dann ab Zernez das Engadin erreichen werden: Von hier aus beginnt dann eine rund 60 Kilometer lange Schussfahrt bei konstant 3 bis 4 % Gefälle bis ins Ziel. Also, los: Abschütteln und rein in die Abfahrt!

Der Strom der Ofenpässler reißt nicht ab

Ich ächze, als ich mich auf den Sattel meines Rennrades setze. Jetzt, nach 90 Kilometern merke ich ihn doch, meinen Rücken. Und meinen Po. Die ersten Anzeichen von Ermüdung auch, als ich versuche einzuklicken und einige Kurbelumdrehungen brauche, um sicher mit den Pedalen verbunden zu sein. Rotz hochziehen, Brille fest auf die Nase drücken, reintreten, hochschalten, Untenlenkerhaltung: Den Rest wird gleich das Gefälle besorgen ...

Da hinten lugt das Engadin: Noch 70 km to go ...

Ich lasse losrollen, erreiche schnell 50 und dann 60 km/h. Schon knallt der Fahrtwind wieder in den Ohren, schon kribbelt es wieder in den Fingern: In die Kurven legen, das Rad schief durch das Gefälle drücken, hart bremsen, Luftstau in der Röhre - ein herrliches Gefühl, diese Abfahrt.

Traumabfahrt

Kaum mehr so kalt wie auf dem Stelvio, und trotzdem ziehe ich mir das Langarm-Trikot an, schnüre es bis zum Hals zu und genieße die Abfahrt. Die ersten 3 Kilometer sind sehr steil, wieder ist hartes, dosiertes Bremsen angesagt.

Am Anfang noch steil, später angenehmer: Die Abfahrt nach Zernez

Weiter unten wird es "flacher" - wobei sich flach in diesem Fall auf die vorher gehenden 10 % Gefälle bezieht. Jetzt haben wir vielleicht 7 %. Die Kurven sind weiter, auch nicht mehr so enge 180 Grad-Dinger: Wir können richtig gut rollen lassen, auch mal 30 Sekunden, eine Minute lang einfach nur fahren. Sanft in die Kurven legen, Links-Rechts-Kombinationen: So macht das verdammt Spaß!

Auch eine herrliche Landschaft: Ofenpass Richtung Zernez

Noch sind einige Mitstreiter mit uns unterwegs - immer wieder überholen wir langsam fahrende Teilnehmer. Warum bremst Ihr? Als ich auf einmal im Gegenanstieg stecken bleibe, weiß ich, warum: Es geht ein, zwei Kilometer nach der Abfahrt wieder steil bergan. Nicht viel, nicht hart, aber es kommt so überraschend, dass Heiko hinter mir anfängt zu fluchen.

Aber hey, selber Schuld: Hätten wir uns mal das Höhenprofil ausgedruckt und auf das Oberrohr geklebt, dann wüssten wir, was sie uns hier alles noch für Überraschungen eingebaut haben! Der Gegenanstieg besteht aus zwei Serpentinen - davor eine Baustelle mit Ampel. Wieder langsame Fahrt über eine Schotterstraße, noch ist die Ampel grün, ich passiere sie, kurbele nach oben - und wieder geht es bergab. Hui!


Gegenwind bremst - Spaß machts trotzdem

Jetzt kann ich richtig schön rollen lassen: Zwar schlagen mir immer wieder recht harte Böen Gegenwind ins Gesicht, harter Seitenwind zerrt an meinen Laufrädern, wenn ich hinter Felsvorsprüngen hervor schieße, aber ganz auszubremsen vermag der Sturm mich nicht.

Ist das schon der Vorgeschmack auf das Engadin? "Immer eine Gruppe finden - sonst bist Du verloren!", steht in Foren und Dreiländergiro-Berichten. "Dort herrscht immer Gegenwind!"

Wie Ameisen auf der Eisenbahnplatte: Perfekt modellierte Landschaften

Noch ist Zernez weit - 22 Kilometer müssen überbrückt werden, vom Ofenpass bis ins kleine schweizerische Städtchen. Bis dahin ändert sich die Landschaft mehrmals dramatisch: Aus den weiten, hellgrünen Wiesentälern mit Blick auf schneebedeckte Gipfel wird stellenweise eine rasante Fahrt durch ein tief geschnittenes Tal, eine in senkrechten Fels gefräste Straße vollführt artistische Schlangenlinien mit Gefälle - die Abfahrt wird zur Simulation eines Luftkampfes. Adrenalin schießt durch die Adern, ein herrliches Gefühl!

Heiko ist 200, 300 Meter hinter mir. Immer wieder blicke ich mich um, auf dass er nicht den Anschluss verliert.

Noch einmal abtauchen, dann wird es ebener.

Irgendwann wird es endgültig flacher.
Und irgendwann sind vor mir keine Fahrer mehr. Nichts. Niemand.
Wir fahren durch einen Wald, wieder eine komplett veränderte Landschaft. Es riecht nach Harz, es klopft der Specht an morsches Holz, unter mir klopft der Freilauf einen schnelleren Beat.

Ich lasse Heiko und zwei, drei andere Rennrad-Fahrer aufschließen, wir bilden eine kleine Gruppe. Und da ist er nun, der Gegenwind.

Und dabei ist das noch nicht mal das Engadin.


Der Wald entpuppt sich als perfekt zu fahrende Straße. Bester Asphalt, die Bäume halten den Wind auch manchmal ganz gut und ab und das beste daran ist, es geht mit 2, 3 % Gefälle bergab. Zwar muss man für seine 39 km/h ganz schön treten (wieder mal finde ich mich an der Spitze einer kleinen Gruppe wieder), aber es geht superflott voran.

Bis zum Engadin

Immer wieder sammeln wir einige vereinzelte Fahrer ein, so auch die Wadenfrau vom Ofenpass. Sie hat oben wohl weniger lang Pause gemacht. Und ich staune, wie sehr sich auch hier wieder bewahrheitet, dass das Fahren in einer Gruppe am Ende doch schneller macht: Wir sammeln sie ein, saugen sie auf.

Noch fährt es sich gemütlich

Wir müssen einige Baustellen passieren. Dann geht es mit Schrittgeschwindigkeit und in bester Crosser-Manier über Schotter- und Sandpisten. Schalten die Bauampeln auf grün, versuchen wir, die Ideallinie zwischen all den fiesen Spitzsteinen zu finden: Jetzt ein Reifenplatzer wäre ekelhaft!

Sind die Baustellen passiert, geht es wieder rasant zur Sache: Beschleunigen, Kurvendrifting, einige Tunnels wollen mutig durchfahren werden. Eine schöne, eine abwechslungsreiche Etappe des Deiländergiro. Als wir bei Zernez zur nächsten Labestation kommen, grinsen wir beide: Das hat Spaß gemacht!
Doch wir wissen, was nun kommt: 60 Kilometer durchs Tal - Endspurt und Schlüsselstelle zugleich. Mir hängt der Magen im Tretlager und ich schwöre "wenn die hier wieder nur Kuchen und Bananen haben, muss ich kotzen!"

Haben sie nicht - Himmel sei Dank! Es gibt Nüsse! Wie ein Eichhörnchen stürze ich mich auf Mandeln, Haselnüsse und Rosinen und knacke zwei Handvoll Hartschalenfrüchte in mich hinein. Eine Banane. Ein Gel. Weiter kanns gehen.

Durch das Engadin

Wir haben Glück. Zusammen mit einer rund 50 Mann großen Gruppe können wir die Labestation verlassen. Sogleich geht die Tachonadel nach oben: Oha, hier wird also nach Altvätersitte geraced!

Durchs Engadin haben wir eeine Gruppe gefunden

Anfangs befinde ich mich im hinteren Drittel der Gruppe und genieße die Schussfahrt im Windschatten. Es geht wirklich mit 3 bis 4 % Gefälle bergab - entsprechend hoch ist unsere Speed. Kaum unter 40 km/h, gern so um die 45, auch mal 50 stehen auf dem Tacho.

Wir fahren als enges, kompaktes Feld. Zweier- und Dreierreihen, ein lang gezogener Lindwurm. Alle hecheln, alle arbeiten hart. Kommen leichte Anstiege, wird so spät als möglich auf das kleine Blatt geschaltet - geht es in die Abfahrt oder beschleunigen wir aus Kurven, sind die Antritte so hart, dass hinten immer mehr Mitstreiter abreißen lassen müssen.

3, 4 Baustellen zwingen das Feld zum Anhalten. Bis 5 Minuten Wartezeit.

Irgendwann zieht an mir von hinten eine riesige Gruppe Rennradler vorbei. Sie haben mindestens 3 bis 4 km/h Geschwindigkeitsüberschuss. Ich gehe links raus, ordne mich bei den Überholenden ein, beschleunige und hänge mich dran. Kurz umgeblickt - Heiko ist mitgekommen. Super!

Noch schneller geht es nun durch den (dann doch nicht sooo starken) Gegenwind, noch härter allerdings die Antritte, noch verbissener die Kämpfe, nicht abreißen zu lassen.

Erst eine rote Ampel stoppt uns wieder. Bis zu 5 Minuten müssen wir warten - alles Zeit, die auf unsere Finisherzeit draufzählt. Aber willkommene Pause für die Beinmuskeln, die hier jetzt richtig hart arbeiten muss!

Es wird kaum geredet an der Ampel. Alle sind viel zu fertig.

Unsere Gruppe ist keine 20 Mann mehr stark. Hinter mir steht Heiko, zupft an seinen Rennradschuhen herum, drückt sich ein Gel rein. Ich grinse ihm zu - er schüttelt nur mit dem Kopf. Burnout. Leer. Aber ehrlich - die Jungs hier fahren auch wirklich wie die Weltmeister!

Wo haben die nur die Kraft her?

Als es wieder los geht, können wir auf den hundert Metern Baustellenschotter noch ausspannen - sobald die Ersten vorne wieder Asphalt unter ihren Laufrädern haben, beschleunigen sie dermaßen, dass mir das Laktat aus den Ohren quillt: Ja dranbleiben!

Bald wird er nicht mehr hinter mir sein

Wir fliegen durch das Engadin. Ein Tal, so grün, dass ich mehrmals meine verspiegelte Sonnenbrille lupfen muss, denn dieses Grün muss man gesehen haben!

Mittlerweile rasen wir so schnell, dass ich mir vorkommen wie beim GCC-Rennen in Bochum - da sind sie auch so hart gefahren. Die Speed ist so hoch, dass wir in einer Einerkette hintereinander fahren. Zu zweit nebeneinander ist unmöglich. Wir sind alle am Limit - jederzeit könnte die Kette reißen, verpasst man den Einsatz und kurbelt nur wenige Umdrehungen zu spät.

Warum auch immer, aber ich rede mir ein, auch ich "müsse meinen Beitrag leisten" und arbeite mich an die Front vor. An Position 3 setze ich mich fest - sicher, dass der da vorn bald aus dem Wind gehen würde, dann der vor mir und ich dann auch mal würde führen können. Eine Mischung aus perverser Selbstkasteiung und Pflichtbewusstsein.

Nur: Der da vorne geht nicht aus dem Wind!

Warpflug: Der Führende peitscht uns mit bis zu 65 km/h durchs Grün

Fast fühle ich mich an den Velothon erinnert. Da gings auch so zur Sache. Nur eben, dass wir da keine 3.500 Höhenmeter in den Beinen hatten.

Die da vorn reiten die Wellen ab, als seien sie erst frisch zum Peloton dazu gestoßen. Immer wieder zwingen harte Abstiege vorbei an schicken kleinen Dörfern zur Untenlenkerhaltung, mit 65, 67 km/h schießen wir unter Brücken hindurch, rauschen durch lang gezogene Kurven und ballern die Hauptstraße entlang richtung Scuol, die Inn immer zur rechten Seite.

Irgendwann darf ich dann auch mal führen und gebe einige Kilometer lang mein Bestes.

Unbeschreiblich schön ist es hier

Nach getaner Arbeit lasse ich mich wieder ins Feld zurück fallen. Ordne mich irgendwo in der Mitte ein. Nachdem ich einige Minuten brauche, um mich zu akklimatisieren, blicke ich mich immer wieder um und suche das auffälige Solar-Trikot.

Kein Heiko in Sicht! Nach dem Rennen wird er mir erzählen, dass er sich mit einer Gruppe abgespalten und das Engadin einige km/h langsamer durchfahren hatte. Zu platt sei er gewesen, zu groß die Befürchtung, am Ende keine Luft mehr zu haben.

Na gut, denke ich mir, dann eben allein in diesem Team.

Ganz komplett bergab geht es dann doch nicht ...

Es folgen einige Passagen bergan. Das Feld wird langsamer, wie eine Zieharmonika fahren wir aufeinander auf, weichen aus, sind plötzlich in Zweier- und Dreierreihen nebeneinander und  erst, als die Kette aufs kleine Blatt gefallen und wir bergauf kurbeln, stellt das kleine Peloton die gewohnte Ordnung wieder her.

Der Wald duftet nach frischem Harz.
Ab und zu spenden die Nadelbäume willkommenen Schatten. Ich ziehe die Flüssigkeit aus meinen Trinkflaschen, als sei ich am verdursten - langsam stellt sich wieder schmerzhafteer Hunger ein. Nachdem ich mir das siebente Gel reingedrückt habe und tief durchatmen will, krampft es schmerzhaft im Bauch. Na bitteschön!

Letzte Rampe bergan - dann gehts wieder los

Ich entscheide mich dazu, irgendwo in der Mitte des Feldes zu bleiben. Mit Magenkrämpfen muss man nicht unbedingt vorne im Wind fahren. Auf dem Garmin stehen 144 Kilometer - noch ein bisschen mehr als 20 Kilometer muss ich das Höllentempo hier aushalten, denke ich so, als sie wieder anziehen.

Wieder geht es bis 60 km/h hoch, wieder zerbröselt die kompakte Struktur unseres Feldes und wir haben Mühe und Not, die ständigen Beschleunigungen mitzugehen, um wenigstens die Einerkette nicht zerreißen zu lassen. Und wehe, wenn sie zerreißt: Bei dieser Speed ein Loch zu bridgen? Bei meinen Beinen jetzt unmöglich!

Die Gruppe wird immer kleiner. Da ganz hinten, da hinter dem Berg. Das Ziel.

Vor mir entdecke ich ein bekanntes Trikot: Ein Typ komplett in Gran Fondo New York-Klamotten gehüllt. Sogar die Schuhüberzieher glänzen im Neongrün der Veranstaltung. Ich schließe zu ihm auf (so viel Kraft muss ich jetzt einfach haben!) und setze mich neben ihn.

"Bist Du in New York gefahren?", rufe ich ihm durch den Fahrtwind zu.
"Ja...?", fragt er mehr, als er antwortet.
"Und - welche Zeit?", ist alles, was mir einfällt.
Er schaut mich lange mit einem Seitenblick an. Schaut wieder auf die Straße, dann wieder zu mir. Antwortet nicht. Will er nicht? Er runzelt die Stirn: "Haben wir nicht ... wir haben doch gequatscht!", sagt er plötzlich: "Ja, klar! Die Hose - SunClass - wir sind ne zeitlang zusammen gefahren!"

Und da erinnere ich mich auch. Ist ja witzig, wie klein die Welt doch ist!

Da unten geht es endlich wieder Richtung Nauders

Und dann ist es endlich soweit: Wir befinden uns mal wieder in einer Schussfahrt bei über 60 km/h, als ich plötzlich im Augenwinkel ein Schild wahrnehme: "Republik Österreich - zum Reschenpass". Bitte rechts abbiegen. Bitte! Bitte!

Und tatsächlich, das Feld bremst herunter, wir fahren über eine kleine Brücke über den Inn, durch ein kleines Dorf und sie ziehen auf einmal alle nach rechts, bremsen: Labestation. Einer ruft seinem Kameraden zu: "Letsche Station vor Naudersch - willscht anhalde?"

Ich schaue auf mein Garmin: Tatsächlich! Nur noch 8 Kilometer! Nee, anhalten? Jetzt? Nee, die 8.000 Meter mache ich auch so!

Der Scharfrichter - Norbertshöhe

Was ich noch dunkel erinnere - vor Nauders muss das Feld noch einmal richtig Höhenmeter schrubben. Die "Norbertshöhe" ist auch schon ausgeschildert. An der ersten Kehre steht eine 10.

Ah, wie genial, denke ich mir: Jetzt habe ich meinen Countdown ins Ziel!


10 Kehren zum Ziel: Die Norbertshöhe vor Nauders

Die ersten beiden Kehren meistere ich wie bekannt: Nach dem Motto "Puls auf 155 und ab dafür". Sie sind nicht sehr steil, auch nicht sehr lang - aber ich merke doch den Tribut, den ich an die gesamte Strecke und vor allem die Schussfahrt durchs Engadin gerade zahlen musste.

Ich bekomme ihn nicht mehr hoch.
Den Puls.

Er dümpelt da so bei unter 150 Schlägen herum. Ich komme nicht mehr in Fahrt. Auch der Wiegetritt, den ich vor allem in den engen Kurven fahren muss, vermag mein Herz zu nicht mehr als 153 Schlägen zu motivieren. Schlimmer noch: Der Puls wird immer schwächer.

Untrügliches Zeichen dafür, dass ich breit bin.

Noch kann ich an den beiden Holländern dran bleiben.
Bald fahren mir die beiden einfach davon.

Noch untrüglicher dafür, dass ich breit bin ist der Fakt, dass sie hier nun anfangen, mich zu überholen. Wo ich sonst den ganzen Dreiländergiro über nicht ein einziges mal in der Steigung abgezockt wurde, kommen jetzt vier, fünf Mitstreiter an mir vorbei - scheinbar ohne Probleme. Sicher: Ich kann noch immer eine Menge Fahrer überholen, aber ich spüre doch, dass ich am Ende bin.

Dazu die Kehre 4: Zum Ausflippen!

Sie endet nicht. Unterbricht meinen Countdown, der sich auf 300, 400 Meter Rampe, dann Kurve, dann nächste Rampe eingestellt hat. Kehre 4 hört nicht auf. Mehrere Kilometer - 2, 3 (oder bilde ich mir das nur ein?!) scheint sie nicht zu enden. Windet sich den Hang hinauf, "die sollte für 3 zählen!", motze ich in den Wald neben mir.

Heiko wird an der Norbertshöhe 10 Minuten nach mir eintreffen - und seine zweite Luft haben. Er wird mir später erzählen, dass er hier nur so hinaufgeflogen sei. Ich freu mich für ihn, denn er sah wirklich fertig aus. Gut, ein solches Event mit einem positiven Gefühl zu beenden. Eine zweite Luft, die hätte ich mir auch gewünscht.

Aber irgendwann ist es dann endlich soweit: Ich sehe die drei Flaggen der Schweiz, Italiens und Österreich: Der Scheitelpunkt ist erreicht!

Innerlich tanze ich vor Freude - die letzte Höhe ist genommen!

Auf der Norbertshöhe. Geschafft!

Ich kraxle vorbei an den Klatschenden, sie rufen mir irgendetwas zu, aber ich habe nur Augen für das, was dahinter passiert. Ich fahre über die Kuppe, lege entschlossen das große Blatt für die Abfahrt auf, da gibt die Straße im Hintergrund die Sicht auf das weite Tal frei - und es breitet sich unten vor meinen Augen Nauders im Hintergrund aus. So nah. So nah schon!

Zum Ende hin am Ende

Ich könnte heulen! Das sind keine 2 Kilometer mehr. Das ist nichts! Das ist nur noch abfahren und durch den Zielbogen! Ich schüttle meinen Kopf, kann es gar nicht fassen, als es auf die schnurgerade, 1.000 Meter lange Abfahrt geht. Ich lasse rolle, trete schon gar nicht mehr - will diesen Augenblick genießen.


Die Rampe nach Nauders - 1.000 m geradeaus. Fertig.

Kaum komme ich über die 50 km/h hinaus. Treten ist nicht mehr möglich. Klar denken irgendwie auch nicht. Mir schießen so viele Gedanken durch den Kopf - und dann wieder keine.

90 Gradkurve, es stehen und klatschen die ersten Zuschauer. Unter einer Brücke hindurch (die Straße, die wir beim Start in Richtung Reschenpass genommen hatten) und wie in Zeitlupe: Ein einzelnes, blondes Mädel. Ihr Grinsen brennt sich in mein Gehirn - ihr Klatschen als Freezframe.


Vor 8 Stunden von der anderen Seite durchquert ...

Und dann: Die Zielmatte. Der große Zielbogen. Treibende Beats. Ein Sprecher überschlägt sich. Ich fahre über die Matte. Lautes Beep als meine Zeit genommen wird. Ich stoppe mein Garmin. Klicke aus. Mein Herzschlag sackt sofort auf 133 ab.

Dreiländergiro 2012 in Nauders - das wars.

Mein Dreiländergiro in Zahlen

Ich flacke mich auf die große Wiese neben dem Zielbogen um auf Heiko zu warten und schmeiße mein Garmin an, um mir die Daten anzusehen.

Ich habe laut offzieller Zeitnahme den Dreiländergiro mit 8:08 Stunden beendet. "Offiziell", das bedeutet, wie ich lerne, ab Startschuss. Also müsste man 5 bis 6 Minuten abziehen, denn bis ich über der Matte war, hat es ewig gedauert. Mein Ziel, eine Brutto-Richtzeit von 8 Stunden zu erreichen, ist damit umgesetzt.


Nur noch diese eine Kurve ...

Das Garmin gibt eine Nettozeit von 6:53 Stunden raus. Eine Das bedeutet, ich habe rund eine Stunde für Pausen an den Labestationen draufgehen lassen. Und natürlich die Wartezeiten an den vier roten Ampeln, die langsamen Schotterpisten und das Warten auf Heiko - jeweils 10 Minuten an Stelvio und Ofenpass.

Hätte ich nicht auf ihn gewartet, wäre ich demnach bei um 7:40 h rausgekommen.
Ich bin mehr als zufrieden mit meiner Leistung. Eine tolle Zeit, für mich.

Den Pass zum Stilfser Joch - ab Ortsausgang Prad - fahre ich in 2:03 Stunden. Damit bin ich laut der Quäldich.de-Statsitik im sehr guten Mittelfeld. Sicher, wenn da nicht noch 120 km zu fahren gewesen wären, wäre ich um einiges schneller gewesen, aber auch diese Zeit stellt mich zufrieden.

Kein einziger Krampf. Kein Durchhänger (naja, kurz vor Schluss halt stark abgebaut).
Sicher, ohne Sturz oder Panne durchgekommen: Super!

Kurz nach dem Rennen: Entspannen und erstes Resümmieren

Was mir wieder aufgefallen ist: Im Gegensatz zu den kürzeren, höhenmetertechnisch weniger anspruchsvollen Rennen den German Cycling Cups, haben sich hier wieder Mitstreiter ganz anderen Typs eingefunden: Nicht diese wilden Draufgänger, Typen, die unbedingt noch um Platz 2.578 sprinten müssen. Ich habe hier auf den gesamten 164 Kilometern nicht eine einzige gefährliche Situation erleben müssen: Allesamt sind sie toll gefahren. Spursicher, mit Zeichengeben, mit Ansagen - rücksichtsvoll und doch bestimmt.

Ein tolles Peloton!

Da merkt man den Unterschied, was sich bei solchen langen, harten Rennen anmeldet, gegenüber den kurzen Rennen.

Später im Hotel wird unser Tischnachbar genau das Gegenteil erzählen: "Nur Idioten! Viele Stürze, sogar gleich nach dem Start und vollkommen bekloppte Fahrmanöver!" - so unterschiedlich kann das sein.

 
Wie bei "Lost" - Die Gestrandeten nach ihrer Odyssee

Wieder einmal muss ich feststellen, dass die Ernährung ein Problem ist. Zum Schluss plagten mich Atemprobleme. Bei tiefem Luftholen schmerzt der Magen - bis hin zu leichten Krämpfen. Kein Wunder, habe ich auf dem Giro heute 7 Gels, 5 Bananen, eine Käsestulle und zwei Handvoll Nüsse gegessen.

Dazu rund 4 Liter Iso- und Energy-Drink. Alles süßer Kram. Das kann ja nix werden.

Was also tun? Scheinbar bieten sie nur Süßkram an. Soll ich mir also salzige Mäusebrote am Frühstück schmieren? Vielleicht keine so schlechte Idee ... die 200 Gramm sollten es mir wert sein.

Das Team SunClass Solarmodule trifft ein

Ich halte Ausschau - und irgendwann kommt er denn dann auch rein. Das unverkennbare Trikot. Ich blinzle und schaue: Ah, gut! Er grinst.

Heiko im Ziel

Heiko lässt sich neben mich fallen. Zitternder Hand fingert er den Pulsgurt ab, justiert letzte Einstellungen an seinem Rad und lässt sich und seinen Bock ins Gras fallen. "Alter ..." ist alles, was er zunächst rausbringt.

Heiko kommt 9 Minuten nach mir ins Ziel. 8:19 Stunden ist seine Bruttozeit.
Ich beglückwünsche ihn zu diesem Ergebnis, auch weil ich weiß, dass Heiko alles andere, nur kein Bergfahrer ist.

"Alter. Der Ofenpass war ja wohl der Horror!", kann er nach wenigen Minuten Cooldown schon wieder pöbeln. Ich grinse nur.

 
Eine Wohltat ...

Mit letzter Kraft besorgt er uns zwei riesige Schnitzel mit Pommes. "Und extraviel Salz!", bestätigt er, als er serviert. Ich atme das Stück nur so weg, mein ganzer Verdauungstrakt jubiliert ob des Salzes. Ah, eine Wohltat!

Wo mag Swantje sein?

Kritik am Dreiländergiro

Als wir warten, nutzen wir die Zeit um über die Kritikpunkte - und natürlich auch die tollen Seiten - dieses Rennens zu diskutieren.

Enttäuscht hat mich die ganze Vorbereitung. Keine Newsletter im Voraus. Die Anmeldung war ein Witz. Kein Starterbeutel - nicht mal eine Tüte, in die man hätte Startnummer und Transponder tun können. Klar, man ist nicht wegen der Starterbeutel da, aber ich verstehe nicht, warum sie diese Chance nicht nutzen, Broschüren der Urlaubsregion, Gutscheine für den nächsten Tirol-Urlaub oder sowas an den Mann zu bringen?
Bei jedem noch so kleinen GCC-Rennen gibts wenigstens einen Power-Riegel.
Wenigstens ein kopiertes Streckenprofil.

Beim Dreiländergiro gab es gar nichts!

Das Startnummernsegel ... ohne Kommentar!

Die Streckenverpflegung: Zwar kann ich Berichte, dass irgendwann alles alle ist, nicht bestätigen, bin aber allgemein enttäuscht von den dargebotenen Speisen. Man soll doch auftanken an der Labestation: Warum dann da billigstes, kalorisch gesehen absolut sinnloses, Weißbrot aufgefahren wird, entzieht sich jeder Logik. Es sei denn, Sparen steht auf dem Programm. Aber dann zahle ich lieber 5 Euro Startgebühr mehr - und muss dafür kein Syropor essen.

Heiko dämmert für eine Stunde weg

Der größe Kritikpunkt die die Informationspolitik. Erst später, wieder zu Hause, lese ich im Forum des tour-Magazins und auf Rennrad-News vom "Eklat beim Dreiländergiro". Was da genau und warum passiert ist, ob der Veranstalter wusste oder nicht, ob er wissentlich die Teilnehmer benutzt hat oder nicht, kann ich nicht sagen.

Fakt ist: Ich habe 20 bis 30 Fahrer mit Startnummern gesehen, die mir entgegen gekommen sind. Das waren dann wohl Teilnehmer ohne Reisepass, die von schweizerischen Grenzbeamten nach einer Kontrolle heim geschickt worden waren. Wir selbst, weder ich, Heiko noch Swantje später, haben etwas von solchen Kontrollen bemerkt. Glück gehabt! Mehr noch: Die Schweizer waren zu mir ausgesprochen freundlich und wirkten gut aufgelegt.

Allerdings: Als ich lese, dass eigentlich nur 1.500 Teilnehmer hätten auf die Strecke gehen dürfen und ich das Puzzlestück mit der morgendlichen Ansage "vergesst Eure Reisepässe nicht!" zusammen setze, steigt es in mir sauer auf: Was hätte es gekostet, anstelle der bescheuerten 4 €-Gutscheine zwei große DIN A2-Plakate zu kopieren und an der Startnummernausgabe aufzuhängen mit "Vergesst Euren Reisepass nicht!"? Was hätte es gekostet, die Damen der Startnummernausgabe anzuweisen, jeden Teilnehmer mündlich darüber zu informieren? Eine Meldung auf der Internetseite zu veröffentlichen?

Nichts von alledem ist geschehen. Und das ist gelinde gesagt eine Riesenschweinerei!

Lob für den Dreiländergiro

Umso trauriger trifft mich die Nachricht, dass dieser 19te Dreiländergiro dann wohl der letzte seiner Art mit der Schweiz gewesen sein soll. Denn eigentlich ist dies das perfekte Rennen gewesen.

 
2013 ohne die Schweiz?

Die Strecke ist höchst anspruchsvoll und zählt zu den härtesten Prüfungen, die ich je erlebt habe. Je nachdem, für welche Gangart man sich entscheidet, führt der Dreiländergiro den Teilnehmer absolut an seine Grenzen: Sei es beim Aufstieg auf den atemberaubenden Stelvio, bei der technisch höchst anspruchsvollen Abfahrt, sei es beim glutheißen Ofenpass oder dem - fast schon an ein Teamzeitfahren grenzenden - 60 Kilometer-Stint durchs Engadin. Der 3LG wartet mit einer großartig komponierten Streckenführung auf.

Dass die Landschaft so wunderschön ist, dass man hier auch gern stundenlange Staun- und Fotostopps einlegen kann, ist klar.

Der Fakt, durch drei Staaten zu kommen, übt dabei einen besonderen Reiz aus. Auch der Anblick so vieler (schweizer) Ferraris mit Oberkörperhonks am Steuer und schlechter Popmusik aus der Bang & Olufsen-Anlage ist an komödiantischem Wert kaum zu überbieten.

Eine tolle Veranstaltung - trotz alledem - und es wäre eine Schande, wenn dies die letzte gewesen wäre!


Abschied & Andenken

Nach der Durchsage, die sie gegen 16 Uhr über den Platz hallen lassen: "So, die letzten Teilnehmer sind jetzt auf dem Ofenpass" - (Was, jetzt erst?!? Wann kommen die an? 20 Uhr?!?) rufen wir bei Swantje an. Die meldet sich sogar: Sie ist auf der anderen Seite am Fuße der Norbertshöhe an der Labestation.

Genug Zeit für uns, zum Transporter zu fahren - Autsch, noch mal 85 Höhenmeter! - die Rennräder zu verpacken um dann ganz gemütlich nach 50 Minuten auch sie einzusammeln. Swantje wird am Ende mit 9:55 Stunden ihren Dreiländergiro beenden. "Ich bin froh, dass alles so gut geklappt hat!", sagt sie. "Im nächsten Jahr dann mit dem Ziel, schneller zu sein."

Noch wissen wir nicht, dass es 2013 wohl keinen Dreiländergiro - nach dieser Art - geben wird.


Morgen dann auch inklusive Brandblasen: Meine Beine

Zurück im Hotel verwöhnt uns Martina und ihre Küchencrew mit einem wunderbaren 5-Gänge-Menü. Dann gönnen wir uns das spannende EM-Spiel Italien-England.

Auf meinem Zimmer, als ich mich bettfertig mache, bemerke ich, wie sehr mir die Höhensonne zugesetzt hat. Mister Lobster. Noch Tage nach dem Rennen werde ich Brandblasen (!) auf meinen Schenkeln haben. Soll doch aber bitte jeder sehen, was 8 Stunden Rennradfahren durch Österreich, Italien und Schweiz bedeuten - nämlich unschätzbare Erinnerungen an diese geniale Veranstaltung.

Und zweifarbige Beine.



Hier gehts zum Garmin-Track des Dreiländergiro 2012
Und hier zum offiziellen Rennbericht meines Teams SunClass Solarmodule 



Seit Ihr auch (schon mal) den 3LG gefahren? Oder den Stelvio? Wie habt Ihr dieses Event gemeistert? Ich freue mich auf Eure Comments.

2 Kommentare:

  1. Hallo, vielen Dank für Deinen tollen Artikel. Ich bin auch mitgefahren (brutto 20 Min. Schneller, netto 10 Min. langsamer - wir müssten uns also gesehen haben.)
    Ich kann Deine Eindrücke voll bestätigen: es war toll!

    Eine Bitte an alle Rennradkollegen: nehmt doch bitte Eure Riegel- und Gelverpackungen einfach in der Trikottasche wieder mit bis zum nächsten Mülleimer. Bei 3.500 Fahrern war das in den Bergen teilweise eine unglaubliche Sauerei!

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  2. hi christian.
    danke für deinen kommentar. fährst du auch den ötzi? dann schrei mal, wenn du mich siehst :-)
    deinen hinweis mit den gelverpackungen kann ich nur unterschreiben. ich stecke mir die immer unter den hosenbund.
    viele grüße,
    lars

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