6. Juni 2010

"Wir sind nicht gestürzt - cool!" oder: Meine erste RTF

Bevor allerdings dieser denkwürdige Satz über die Lippen unseres neugewonnenen Rennrad-Kollegen Florian kommen konnte, hatten wir ein schönes - im wahrsten Sinne des Wortes - Stück Arbeit vor uns.

Der Tag beginnt früh: 6 Uhr stehe ich auf, nachdem ich bis 21 Uhr am Vorabend noch letzte Hand an meine Beine (Rasur + Ölung) sowie an Kette und Schaltwerk (nur Ölung) gelegt hatte.

Ich bin mit Jan am alten Elbtunnel für 8 Uhr verabredet - 7:20 Uhr verlasse ich meine Wohnung in Niendorf und habe 15 km Einfahren vor mir. Hamburgs Straßen sind leer - die letzten Kiezgänger kommen nach durchfeierter Nacht nach Hause. Eine SMS meiner Süßen kündigt davon, dass sie jetzt schlafen geht - ich stehe hellwach mit meinem Cervélo am Eingang zum Elbtunnel. So unterschiedlich kann das Leben sein.

Jan erscheint gut gelaunt mit einem Mitfahrer. Er hatte Florian weiter oben in der Stadt aufgegabelt. Wir beschließen, als Dreierteam an den Start zu gehen.

Wenige Kilometer durch Hafen und Wilhelmsburg sind es, bis wir endlich den Bertha-Kröger-Platz erreichen, wo die RG Uni Hamburg das Elbinsel Radrennen organisiert. Nach eigener Auskunft immerhin die größte Radsport-Veranstaltung der Stadt nach den Cyclassics.

Bei der Anmeldung herrscht mildes Gedränge, jeder bekommt gegen Nennung seines Namens die Startnummer, die gleichzeitig als Transponder für die Ergebnisnahme funktioniert und da schon die erste Überraschung: Leider keine schöne.

Denn wir gelten als "gemeldet" - nicht als "bezahlt", weshalb eine Strafgebühr von 2 Euro fällig wird. Insgesamt sind pro Starter nun 17 Euro fällig. An sich kein Problem - wenn man das nur transparent kommuniziert hätte. Jan und ich sind vollkommen überrumpelt. Und haben beide nur 10 Euro mit uns. Gut, dass Florian uns aushilft.

Schlecht organisiert, liebe RG Uni, das muss man sagen! Denn in den Bestätigungsmails stand nichts von Startgebühren.

Aber davon lassen wir uns nicht enttäuschen: Immerhin scheint die Sonne, es geht ein mäßiger Wind und wir freuen uns über knapp 300 gemeldete Hobbyfahrer in unserem Feld.

Am Start ist die Laune groß. Dicht an dicht stehen wir, noch 8 Minuten zum Start. Vorne erzählt der Sprecher dem Publikum etwas, wir hören nichts. Ich beschaue mir die Mitfahrer: Da haben wir vom angedickten mid-40er in Hobbyklamotten und Luis Trenker-Gedächtnissandaletten bis zum Profi-Kurierfahrer alles, was der Rennradsport so zu bieten hat.

Bunte Trikots, die meisten von Amateurteams, Sparkasse, Plattenläden, Radgeschäften, wechseln sich ab mit den Replikas der Lieblings-Profi-Teams. Ich selbst stehe, wie sollte es auch anders sein, in voller Cervélo Test Team-Montur da, wenige Fahrer vor mir ein Francaise de Jeux-Fahrer.

Dann geht es los. Klick - wir sind unterwegs!

Eigentlich wollten Jan und ich ja zusammen bleiben, aber mir juckt es so in den Beinen, dass ich gleich auf den ersten hundert Metern voll beschleunige und mich an die Spitzengruppe hefte. Es geht in 90-Grad-Kurven, alles ist abgesperrt und ich bin froh, dass wir die Strecke am Dienstag schon einmal abgefahren hatten - denn so weiß ich, was nur 1 Kilometer nach dem Start kommt: 250 Meter schlimmste Paveés.

Ich setze mich an die Spitze des Feldes (wobei gesagt werden muss, dass wir die zweite Gruppe nach einer Spitzengruppe sind, die sich sofort absetzen konnte) und fahre dann am äußerst rechten Rand, halb auf Pflasterstein, halb auf Gras. Denn ich möchte meinen Carbonrädern keinen schnellen belgischen Tod bescheren. Nach und nach überholen mich die anderen Fahrer, die vollkommen besengt über die Paveés reiten, ganz so, als würde für sie hinten ein Materialwagen mit unlimitierten Ersatzrädern bereitstehen.

Nach den Paveés beschleunige ich wieder, kann ein paar Plätze gut machen, denn nun schlängeln wir uns durch ein paar rechts-links-Konbinationen. Rasend schnell - um die 40 haben wir hier drauf - umschiffen wir die pituresken Häuser.

Am Straßenrand stehen Leute und feuern uns an.
Wahninn!

Es folgt eine Haarnadelkurve, die wir sehr gesittet - mit viel Handzeichen und Warnrufen durchfahren - und nun sind wir auf der fast 8 Kilometer langen Geraden, die genau am Deich entlang führt. Es wird hart beschleunigt, wir fahren wir bekloppt. Mir rinnt Schweiß durch den Helm.

Ich fahre immer so an Position 10, halte mich rechts, denn die Jungs, die hier vorne fahren, sehen so aus, als machen sie das öfter: Ihre Waden allein sind so dick wie ich selbst. Ich kann aber gut mithalten, fahre sogar manchmal nach vorne um für einige hundert Meter die Führungsarbeit im Wind zu machen.
Was für ein Feeling!

Ich ziehe 30 Mann durch die windige Sommeridylle, Leute klatschen, nur für mich, na klar. Was für ein Gefühl: Brennende Lungen, ich pfeife auf dem letzten Loch, und doch - noch Kraft da, denn da, hinter mir, ich kann sie sehen in meinem Augenwinkel, da ducken sie sich weg, ducken sich in meinen Windschatten. Noch bis da vorn, noch bis zum Baum, noch weiter, weiter, weiter ... ah, zurückfallen lassen. Pflicht getan. Nun wieder lutschen. Verdient habe ich es mir. Mehr als die anderen Jungs, die noch nie vorne waren.

Stolz reihe ich mich wieder an Position 10 ein.
Im Windschatten kostet es nicht einmal ein Drittel Energie, so fühlt es sich an.

"51 km/h", sagt einer atemlos neben mir.

"Pfffffffft!!!", zischt es fies neben mir. Platten! Keine 3 Radumdrehungen braucht es, die 8 bar Luft aus dem Schlauch entweichen zu lassen. "Fuck!", ruft er enttäuscht und lässt sich abfallen. Böse Stürze können so passieren.

Wir kehren an der Südspitze um und fahren über eine nur 3 Meter breite Gasse, die sich dazu noch durch dichte Haselnusshaine schlengelt, zurück in die Stadt. Nun stehen wieder mehr Leute am Straßenrand, feuern uns an.

Voraus die Autobahnüberführung. Ich ziehe raus, gehe in den Wiegetritt und gewinne den 200 Meter langen Anstiegssprint. Glücklich lasse ich ein paar Umdrehungen Freilauf rollen, da schießt das Peleton an mir vorbei - nur mit Mühe kann ich wieder aufschließen.

Vollbremsung! - Vor mir steht plötzlich ein kleiner Junge mit Fahrrad quer auf der Fahrbahn, starrt erschrocken mit großen Augen auf die heranfliegenden Radrennfahrer. Mütter, Polizisten rufen, der Junge steht wie angewurzelt. Mit über 40 schieße ich auf ihn zu: Seilzugbremse? Vergiss es, das schaffe ich nie!

Zum Glück bewegt er sich um einen halben Meter, nur so kann ich vorbeischlängeln - hoffend, dass niemand von hinten in mich hinein knallt.

Zielgerade - wir weichen Gullydeckeln aus, nun stehen die Leute dicht an dicht, rufen, klatschen, rasseln und jubeln, als wäre dies die Vuelta und wir die Profis. Dicht an dicht fahren auch wir - das Hinterrad meines Vordermannes ist keine 8 cm von mir entfernt, links und rechts neben mir, keine 20 cm entfernt, meine Mitstreiter.

Wir surren als surreale, mitreißende Sinfonie aus knapp 50 Shimanos und Campas über die Ziellinie, im Vorbeifahren höre ich die Stimme des Kommentators "... und da ist ein Fahrer namens Lars Reisb...."

Hat er mich gemeint?
Sicher!

Noch weitere 3 Runden fahren wir - und erzählen uns nach Zieleinlauf, was alles so passiert ist.

Neben mir hatte es noch einen weiteren Reifenplatzer gegeben, der beinahe zu einem Sturz geführt hatte. Ich gewinne in Runde 2 wieder den Autobahnbrückensprint, und dann, Runde 4, kurz vor der Brücke, passiert es.

Ein Geräusch, das ich nie vergessen werde: Zwei Fahrer vor mir verbremst sich eine Rennradlerin, steuert gegen, knallt in ihren Nebenmann und beide stürzen. Mitten in einer schnellen Linkskurve - mit der schnellsten der Runde - und wir können alle nur vollbremsen, versuchen, auszuweichen. Ich sehe Speichen fliegen und kann nur haarscharf dem Mädel ausweichen, die mindestens 10 Meter unter mir auf ihrem Rücken über den Asphalt schleift.

Gottseidank sind Streckenposten und Polizei schnell vor Ort. Florian, der eine Gruppe hinter mir fährt, berichtet, dass einer der beiden Verunglückten mit dem Krankenwagen und Wirbelsäulenstabilisator abtransportiert werden musste.

Ich fliege - wie gewohnt - an Position 10 bis 15 in meiner Gruppe über die Ziellinie. 60 Kilometer - wow, mache ich, glücklich, zitternd, Adrenalin läuft mir aus den Ohren.

Wenig später trudelt Florian ein, dann auch Jan.
Wir erfrischen uns an Bananen und kaltem Wasser und rekapitulieren die Runde.

Die Paveés ganz im Norden, die Hochgeschwindigkeitspassage nach Süden, schnelle Haarnadelkurve, dann die Links-Rechts-Senke im Hasennuss-Hain, die Links-links-Kombination, wo es in der letzten Runde die beiden Radler entschärft hatte und, und, und ... und überhaupt sind wir Helden!

Helden, wie die 300 anderen Radler, die sich nun sammeln, klönen und schnacken. Ich entdecke den Cervélo-Panzerknacker wieder, der auf einem S-Klasse-Rad, dem Bruder meines R3, die RTF in Knacki-Klamotten bestritten hatte.

Witzig, wie mir auffällt, dass ich die Leute eigentlich nur an ihrem Arsch erkenne - Gesichter habe ich kaum während des Rennens gesehen.

Der Airbus-Werksfahrer, der mit in Jans Gruppe war, kommt glücklich, aber erschöpft ins Ziel. Na, denke ich mir, für so einen A380 ist ja auch nicht jede Flugshow etwas ...

Wir genießen die Sonne, als nebenan die Kinder an den Start gehen. Süße Zwerge, 10 Jahre alt, auf Mini-Rennmaschinen. Carbon-Pinarellos und Profi-Trengas zieren die kleinen Eddy Merckxe und Möchtegern-Armstrongs. Aber verbissen und ernst sehen sie aus, alle Achtung.

Und ganz ganz kleine Rennfahrer treffen wir auch.

Irgendwann nach der vierten Banane zieht es uns noch einmal an die Strecke, als nämlich die erste Durchfahrt des 90 km-Profi-Damenrennens durchkommt.

Keine geringere als die 31-malige (!) deutsche Meisterin und 5-malige (!) Weltmeisterin Hanka Kupfernagel geht an den Start. Glanzlicht und Aushängeschild der immerhin zweitgrößten Hamburger Rennradveranstaltung nach den Cyclassics.

Wruuuummmmm - surren sie an uns vorbei. Wahnsinn! Und obwohl mir die Waden brennen und ich froh bin, meine erste RTF so gut beendet zu haben, juckt es wieder in den Beinen - jetzt nochmal ne Runde fahren. Jetzt nochmal reintreten. Nochmal Rad an Rad fahren. Nochmal raus in den Wind ...

Können wir ja auch. Zu dritt geht es zurück zum Elbtunnel durch den Hafen. Bestes Sommerwetter, wir schwitzen, wir glänzen - aber mit jedem Luftzug atmen wir wie Sieger.

Was für eine tolle Veranstaltung. Was für eine tolle Runde.
Mehr davon!
Mehr!

Gefahren: RTF 60 km (offizielle Ergebnisse folgen)
Insgesamt mit An- und Abreise: 104 km


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2 Kommentare:

  1. Hi Lars,
    das hörte sich aber nicht nach RTF an, sondern eher nach einem Rennen - Dein Bericht hat genau das wiedergespiegelt, was so viele veranlaßt, Rennrad zu fahren, auch wenn ein Liegerad natürlich viel bequemer ist :-)
    Manchmal ist eben auch der steinigere Weg der schönere ...
    Grüße, Norbert

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  2. hi norbi,
    jo, war auch ein rennen: der "große preis der IGS" oder "elbinsel radrennen"

    deswegen hatte mich das auch gewundert, denn die hatten ja eine individuelle zeitnahme mit transpondern vor ort.

    war aber seeeeehr geil.
    und seeeeehr unbequem.
    :o)

    grüße, L

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