20. April 2012

Passage Dangereux - beim Granfondo Colnago Saint Tropez

Wenn einer eine Reise tut ...

... dann gibts was zu erzählen. Wann hat man schon einmal die Chance, zusammen mit Dandys und Millionärstöchterchen Privatjet-Luft zu schnuppern, in einen kleinen Düsenflieger zu steigen und nach Nizza zu fliegen?

Die dritte Saison, die ich als Teil des Teams SunClass Solarmodule bestreiten darf, führt uns an diesem Samstagmorgen an die Cote d´Azur - zum Granfondo Colnago in Saint Tropez.



Einer, der sich auch wie Bolle freut, ist Florian - nicht nur, weil er so stolz auf seine nagelneue Teamkollektion ist, sondern auch, weil dieser Trip ein hartes Rennen, Einzelzimmer mit Frühstück und ein verlängertes Wochenende mit Profi-Feeling in Aussicht stellt.

Die Laune ist sagenhaft - die Sonne scheint, als wir in Hamburg abheben, der Flieger ist nicht einmal halb ausgebucht und die zwei Stunden rasen buchstäblich an uns vorbei.


Auch Heiko ist mit von der Partie - anders als Florian übernimmt er aber den eher abwartenden Part: "Ich habe kaum trainiert, Digger.", versichert er mir mit Blick auf das monstrröse Höhenprofil der Strecke.

Wir haben 180 Kilometer vor uns. Was okay wäre, wenn da nicht die 5 Anstiege mit einer Summe von 2.500 Höhenmetern wären. "Unrhythmisch" ist ein Wort, das gern und oft im Radsport genutzt wird - eigentlich viel zu harmlos, will es doch eigentlich sagen: "Egal, was du tust, du wirst kaputt gehen!"


Ich für meinen Teil würde mich eher zu Flow zählen: Ich bin aufgeregt, aufgekratzt, megastolz auf das Team SunClass und kann es kaum erwarten, endlich die neuen Teamklamotten überzustreifen, mein Cervélo unter mir zu wissen und so richtig reinzutreten: Nach dem langen Winter, dem elend langen Warten und Lechzen kann mir die Strecke ehrlich gesagt nicht lang genug sein, die Prüfung nicht hart genug.

Nach dem Marathon in Barcelona fühle ich mich eh wie der beste Sportler der Welt.

Nach der Landung relativiert sich das ein wenig ...


Hörbar prasselt Starkregen auf das Flugzeug. Die Pfützen auf dem Rollfeld explodieren förmlich unter dem stetigen Bombardement faustgroß wirkender Wassertropfen - es ist kalt, es ist dunkel und windig, als wir aus dem Flieger kommen. Die 20 Meter zum wartenden Bus reichen, um meine Stoffjacke zu durchnässen.

"Ach du Scheiße!" entfährt es mir. Die Jungs quittieren das nur mit einem fatalistischen Blick.


Nizza ist etwa 2 Stunden Autofahrt von Saint Tropez entfernt. Als wir unsere durchnässten Rucksäcke und die gottseidank heil gebliebenen Rennräder in Empfang genommen haben, werden wir bei Europcar schnell und zuvorkommend bedient.

"Heiko, welches Auto hatten wir nochmal gemietet?", frage ich ihn. Immerhin sind zwei Hartschalen-Rennradkoffer und Flows Softshell-Sack echte Volumenfresser.

"Joa. So´n Renault oder so ...", antwortet er. "Sollte passen".


Wir brauchen eine geschlagene halbe Stunde und sämtliche Skills eines Profi-Tetris-Gamers, um unser Gepäck in den Renault zu stopfen. Allerdings auch nur, weil wir Flows Rad aus der Tasche nehmen und jeden Zentimeter des Fonds ausnutzen.

Beim Fahren stoßen Heikos Knie an sein Kinn, ich selbst muss zwei Rucksäcke auf meinen Schoß nehmen und hinten kommt sich Flow (der beim Schnickschnackschnuck verloren hat) wie ein Hund "im Transportkorb" vor.

Ein Glück, dass er seine Tüte gekochte Nudeln dabei hat ...


Als wir losfahren, hat sich der Regen kein bisschen beruhigt. Das Wasser steht auf den Straßen, wir stehen im Stau, im Radio laufen schlimmste Achtzigersongs und wenn die Fahrt nicht bald endet, werde ich morgen schon vor dem Start des Rennens Rückenschmerzen haben. Nice!

Nach seinem ausgiebigen Nudelmahl (Wo hatte er denn bloß die Nudeln versteckt?!?) schläft Flow ein, wir kämpfen uns durch Stau und Nässe.


Gottseidank reißt der Himmel hinter der Stadt auf - als wir später die ersten Berge hinter uns gebracht haben, scheint die Sonne. Und als wir endlich Saint Tropez erreichen (ich summe die Titelmelodie von Louis de Funes´ Politessen-Schmonzetten) ist es sogar trocken.

So soll das man morgen auch bleiben!

Genau unten am Hafen ist die Messe und die Akkreditierung aufgebaut.

"Messe"


Es stehen drei kleine Zelte herum, wenige Leute vor Ort, leise Musik. Beim Zelt mit den Startnummern müssen wir kaum anstehen.

"I don´t have a BIB-Number", sage ich der Dame und zeige ihr die Anmeldebestätigung: Dort steht mit Datum November 2011 dass "im Februar die E-Mail mit der Startnummer" käme. Nichts kam natürlich.

"Oh, no problem!", sagt sie, nimmt den Ausdruck und händigt uns die Startnummern aus. Ah. Das kennen wir aus Deutschland anders - aber wenigstens haben wir nun unsere Nummern, bekommen das Teilnehmertrikot (ist Colnago als Sponsor durch Cannondale ausgetauscht worden?) und können beruhigt ins Hotel fahren.


Das befindet sich etwa eintausend Meter vom Stadtzentrum entfernt auf einem Berg. "Les Amandiers" ist die Villa von Madame Bartolotto, die 8 Zimmer vermietet. Das Haus liegt idyllisch und ruhig inmitten von blühenden Rhododendren, Zypressen und duftenden Blumen - eine Oase.

Sie begrüßt uns überschwenglich und bringt uns zu unseren Zimmern. Diese liegen neben der Villa in einer umgebauten Remise. Große Flügeltüren öffnen sich zu einer kleinen, grün umwachsenen Terrasse - ein Träumchen!


Da wir uns noch die Stadt ansehen wollen, beginnen wir sofort, die Rennräder aufzubauen. Der Transport der sensiblen Stücke im Flugzeug ist ja immer ein Abenteuer - so vieles kann zwischen Röntgen, Transport zum Flieger, Verladen, Ausladen, Transport zum Gepäckterminal und Ausgabe passieren - so viel kann kaputt gehen ...

"Ach du Scheiße!", rufe ich und stehe vor Schreck wie angewurzelt da.
"Wasn los?", schnoddert Heiko. "Was kaputt?"
"Keine Ahnung - ich habe den Schlüssel in Hamburg vergessen ..."

Schön dämlich. Aber zum glück hat Heiko einen baugleichen Koffer - meine Sicherheitsschlösser bekomme ich mit seinem Schlüssel auch auf. Phuh!


Ich gebe mir Mühe, alle Drehmomente exakt einzustellen, alle Teile ohne Zeitdruck zusammen zu bauen - jeder Auf- und Abbau ist Stress für das Carbon. Flow ist nach zwei Minuten fertig. Naja, so kann er die Sender auf dem Zimmer-TFT checken, während Heiko über Flows Pumpenwahl nur staunen kann ...


Nachdem JoeBlow auch meine Pneus auf 9 Bar aufgepumpt hat, mache ich mich an Sattelstütze (4,5 Nm, nicht mehr!) und das Pedal (ich schraube nur eines ab, passt auch in den Koffer). Die Kette habe ich ja mit dem neuen DryFluids Kettengleitstoff behandelt und bin gespannt, wie das neue Mittel performed.

Sollte es regnen, wäre das der beste Härtetest für das Mittel.

Muss aber nicht unbedingt sein ...


Beim Zusammenbau des Rennrades bin ich Autist: Ich kann es nicht ausstehen, wenn der Lenker nicht perfekt gerade ausgerichtet ist, der Sattel nicht exakt auf Linie mit dem Oberrohr ist oder nicht auf den Millimeter genau die perfekte Einstellung übernommen wurde, die mir Martin bei Veloskop ausgemessen hat, drehe ich durch. Unmöglich, so ein 180 Kilometer langes Rennen durchzustehen! Also lasse ich mir Zeit.

Ganz anders Flow.


Da sein Rennrad eh schon aus dem Softshell genommen wurde, brauchte er nur noch die Laufräder einzusetzen und die Bremsen einzustellen. Fertig.

"Gehts los Jungs?" Jo - ab geht er!

C´est Saint Tropez

So verbinden wir die Testfahrt unserer Rennräder mit einer kleinen Stadtbesichtigung. Und - was mich freut - die Jungs ziehen ihre neue Montur an. Freiwillig. Ohne, dass ich Teamboss spielen muss.


"Toll, wie die Klamotten aussehen!", ruft Flow, als wir die rasante Abfahrt vom Les Amandiers genommen haben und uns am Hafen vor der kleinsten Jolle fotografieren lassen.

Es ist ein richtig lauer, noch etwas kühler Abend, die Leute sitzen bei ihrem Pastis und besehen sich die Millionenjachten der Reichen - und schauen uns hinterher. Kleine Kinder zeigen mit ihren Fingern auf uns, Erwachsene nicken uns zu. Herrlich!

Den Anstieg zurück zum Hotel - 80 Höhenmeter - gewinne ich im spontanen Bergsprint. Die Steigung ist teilweise bestimmt bis 12 % steil: "Jungs, das ist steiler als alles, was wir morgen fahren werden ..." rufe ich. Recht werde ich behalten.

Und irgendwie auch nicht.


Abends im Zimmer statte ich mein Cervélo mit Startnummer und Transponder aus, lege mir die PowerGels bereit (alle 40 Kilometer eine Packung), packe 3 Riegel dazu und fülle Isodrink in meine Flaschen, die mir schon bei den Münsterland.Grio-Teilnahmen 2010 und 2011 auf den langen Strecken Glück gebracht haben.

Auch ich teste noch die frisch gewaschene neue Teambekleidung.


Als draußen unter Zirpen der Zikkaden und dem Tschirpen der Vögel die Sonne untergeht, legen wir uns in die Betten. Flow hat es nochmal runter zum Hafen gezogen, Heiko schaut sich englischen Fußball auf France2 an und ich versinke müde zu den Rhythmen meines MP3-Players.


Die Nächte vor den Renntagen sind bei mir immer kurze Nächte.

Racing Day!

Den Wecker habe ich auf 6:50 Uhr gestellt, bin aber schon kurz nach halb fünf wach. Unruhig wälze ich mich im viel zu warmen Bett hin und her, mache mir Gedanken, gehe das Streckenprofil noch und nöcher durch und werde immer wieder von Schlafwellen überrollt, die wirre Bilder projizieren und Realität mit wilden Traumwelten verschmelzen.


Als das Handy dann endlich doch piept, könnte ich mich ohrfeigen - viel zu wenig geschlafen wieder! Verdammt.

Madame Bartolotto hat für uns eine Ausnahme gemacht und das Petit dejauneur schon bereit gestellt. Heiko stößt als zweiter zu mir an den Tisch, wo dampfende Croissants, zwei Marmeladen und ein Kännchen Kaffee bereit stehen ...


"Lecker.", sage ich.
"Aber nicht wirklich gehaltvoll ... für so ein Rennen", bemerkt Heiko im Hinblick auf weißes Mehl, etwas kurzkettigen Zucker in der Marmelade und keinerlei Power, die wir ja gleich so dringend brauchen würden.


Ich beschließe spontan, noch vor dem Start einen Power-Riegel und ein Gel einzuwerfen - 1.000 Kalorien Startkapital. Denn auf nüchternen Magen geht die Strecke auf keinen Fall.

Um 8 Uhr ist start - kurz nach halb fahren wir los.

Unten am Hafen ist der Start. Als wir eintreffen, stehen sie schon ziemlich weit hinten, ein Sprecher galoppiert durch schnelles Französisch. Die Musik haben sie aber etwas leise gelassen: Die Herren Millionäre schlafen wohl noch ...


Es sind keine 100 Meter bis zum Torbogen, der die Startlinie markiert - da sind wwir vom GCC ganz andere Teilnehmerzahlen gewohnt. Wir besehen uns unsere Mitstreiter und müssen staunen - kaum junge Fahrer und Fahrerinnen, graues Haar, das unter den Helmen hervorlugt, ist die Regel: "70 Prozent der Teilnehmer im letzten Jahr waren über 40 Jahre alt ...", sagt Heiko, der sich toll vorbereitet hat.

Ich nehme an dass die, die hier heute um den Sieg fahren, ganz vorn stehen. Weit vorn ist das nicht: Es nehmen gerade einmal 750 Radrennfahrer teil, 260 auf der langen Strecke. Unter ihnen Ex-Weltmeisterinnen und Profi-Granfondo-Teams.


Wir fahren hier heute, um anzukommen - 180 Kilometer, dazu Höhenmeter en masse, das ist ein Saisoneinsteig, wie wir ihn alle noch nicht hatten: Flow hat laut eigenen Aussagen 9 Kilo Übergewicht.

"9 Kilo?", ziehe ich ihn auf: "Dir ist schon klar, dass du 8 Watt für ein Kilo brauchst? Das wären 72 Watt die du stetig produzieren musst, nur um deine Plautze zu bewegen ..." Wir lachen.

Aber ich weiß, dass Flow auch mit 20 Kilo Übergewicht uns allen wahrscheinlich noch davon fahren würde ...


Die Uhr tickt runter, alle strömen auf einmal nach vorn, klicken sich ein - das Feld steht kompakter. 5 Minuten bis Start - wir sprechen die letzten Details durch. Flow ist es sehr am Herzen gelegen, dass wir drei zusammen bleiben, komme was da wolle. Er hat Angst, alleine im Wind zu enden oder bei einer Panne allein am Straßenrand zu stehen.

Recht hat er - wir treten hier heute als orangenes Team an. Schon allein, damit unser Sponsor tolle Teamfotos im Verbandsflug bekommt.


"Okay, ich möchte vor DEM ins Ziel kommen!", sage ich scherzhaft, nachdem sich ein ganz anderes Kaliber vor uns geschoben hat. Und überhaupt: Diese Granfondo-Szene hier in Frankreich hat so gar nichts mit den Startern bei den deutschen Jedermannrennen zu tun: Älter sind sie allemal, aber auch weniger gestylt.

Kaum mal sehe ich Rapha und Assos - viele lokale Vereinstrikots oder einfache, gern auch abgenutzte Radfahrsachen. Es könnte der Eindruck entstehen, dass wir uns hier bei einer ADFC-Sonntagsausfahrt befänden. Ob hier wirklich Blumenkinder in den Klickpedalen stecken, werden wir gleich ja sehen.



Mein persönliches Ziel ist heute das Ankommen. Anders als im letzten Jahr, wo ich zum Saisonstart erst einmal 3 RTFs und über 300 Trainingskilometer gefahren bin, habe ich heute keine 200 Kilometer in den Beinen. Keine RTF. Nur den Marathon und eine Menge Grundvertrauen in meine Fitness. Ob das reicht?



Heiko schaut auch noch etwas skeptisch - die Minuten vor dem Start sind immer die ruhigsten Minuten. Rad ein letztes mal checken. Noch ein Gel einwerfen. GPS starten. Habe ich genug Klamotten an, es ist ganz schön kalt ...?

Gran Fondo ... was?

Lange Zeit bleibt uns nicht mehr zum Schnacken - vorne rufen sie "Allez, allez!" und schon geht es los. Anfangs im Schritttempo, dann rollen wir schonmal - und als wir auf Louis de Funes´ Paradestraße sind, zieht das Tempo an: Kette rechts, Gas geben!

Angeblich geht es neutralisiert aus Saint Tropez hinaus. Da sich das Feld durch die langen Minuten am Start aber dermaßen in die Länge gezogen hat, kann ich von einem Pacecar nichts sehen - auch lässt die extrem hohe Anfangsspeed darauf schließen, dass es keinen Pacemaker gibt. Oder ist das einer der Lamborghinis vom Hafen?


Es geht nach Norden auf der großen Hauptstraße, die sie in unserer Richtung für uns gesperrt haben. Schnell hat sich das Feld sortiert - wir fahren in einer etwa 50 Fahrer großen Gruppe. Es wird nicht geredet, ich achte darauf, nicht zu überdrehen - die Jungs fahren hier alle sehr diszipliniert, keine wilden Seitenwechsel oder bescheuerten Manöver - alles geht ruhig und gesittet - aber bestimmt zu.


Was für ein Unterschied zum GCC in Deutschland! Da kamen die Vollhonks gerade in der Anfangsphase von allen Seiten, überholen und Spurwechseln was das Zeug hält, reinknallen, plötzlich bremsen, wie Idioten fahren.

Hier fahren wir als geschlossenes Feld. Diszipliniert, vorne wird gekreiselt, Richtungswechsel zeigen sie an - ich fühle mich inmitten meiner Mitfahrer angenehm aufgehoben und bin überrascht, wie professionell das hier abgeht.


Schnell bringen wir die Flachpassage nach Ramatuelle hinter uns, die Kurven zu durchfahren macht in diesem Verband richtig Spaß, ich kann mich darauf verlassen, dass hier keiner seine Spirenzchen treibt.

Flow ruft von hinten :"Genial!"

Und Recht hat er.

Bergfloh und Bergflow

Da wir das Roadbook kennen wissen wir, dass es bei Kilometer 35 den ersten ernst zu nehmenden Anstieg geben wird. Bis dahin überfliegen wir die kleinen Wellen, die sie uns in den Weg stellen förmlich - als wir durch Canadel sur Mer kommen, kann ich mich gerade noch wundern, dass hier keine Sau am Straßenrand steeht, um zu applaudieren, als die Steigung auf den Col du Canadel vor uns auftaucht.


Die drei SunClass-Fahrer sind zu diesem Zeitpiunkt fast an der Spitze der Gruppe, schnell setze ich mich von den Jungs ab und drehe auf: Ich liebe Steigungen! Bin ein Bergfloh! Hier kann mir keiner was vormachen! Und so schalte ich runter, finde meinen runden Tritt und arbeite mich an den drei, vier restlichen Jungs, die vor uns waren, vorbei.

Dann beginne ich die Fotosession. Von vorn, zurückfallen lassen, die Jungs fotografieren - die Steigung merke ich gar nicht.


"Boah, die Trikots sehen geil aus!", rufe ich - und wahrlich, es hat sich gelohnt, noch einmal Geld in die Hand zu nehmen. Gerade in dieser Morgensonne glänzen die Farben, kommen die Solarmodule unseres Sponsors umso besser raus.

Als es richtig steil wird, das einhändige Fahren etwas schwieriger, stecke ich die Cam ein und konzentriere mich auf den Anstieg.


Flow ist an Position 2, Heiko knapp dahinter - und ich vorn. So reiten wir die zwei, drei Serpentinen ab und erreichen als SunClass-Trio den Gipfel des Col du Canadel. Keine Meisterleistung - ist der Berg doch weder steil noch lang. Aber immerhin - hinten sehe ich weniger Fahhrer, es hat also eine Selektion stattgefunden.


Oben angekommen verfluche ich wieder meinen Frosthintern: Ich habe wieder einmal zu viel angezogen! Thermo-Unterhemd, Langarm-Trikot, Kurzarmtrikot und die Langarm-Jacke drüber. Dazu eine lange Laufhose und die Trägerhose sowie zwei paar Strümpfe.

Was am klirrekalten Start noch super war, erweist sich jetzt, keine Stunde nach Start in der ballernden Morgensonne als Schweißtreiber. "Bei der Verpflegung ziehe ich mich erstmal aus!", kündige ich an. Doch bis dahin sind es noch 2 Berge und 30 Kilometer ...


Indes geht es nach einer wunderbaren Abfahrt (Vorsicht Gegenverkehr!) den Canadel wieder hinab und hoch über der Cote d´Azur nach Westen. Wir folgen der Küstenlinie und können immer wieder großartige Aussichten genießen - unter uns liegen die türkisen Buchten, kleine Dörfchen und das blaue Meer. Landinwärts sehen wir die grünen Wellen des Massif Maures, einem Ausläufer der Seealpen, in dem wir uns hier befinden.


Wir führen noch immer das Feld an, diktieren die Speed. Flow macht gern die Lokomotive an der Feldspitze und so können wir die Abfahrten besonders genießen - freie Fahrt voraus.



Ab und zu holt er sein Telefon heraus und beginnt, bei 50, 60 km/h zu filmen. Einige schütteln angesichts dieser nicht gerade sicheren Fahrweise ihren Kopf - das Video aber ist gelungen.

"Sag mal, ist hier nicht abgesperrt?", fragt Heiko verwirrt, nachdem uns in einer Kurve ein Bus entgegen gekommen war.
"Keine Ahnung?!?", antworte ich. Vielleicht ist das bei Granfondos so?


Wir schauen ein letztes mal auf den Strand hinab, als sich die Strecke zum zweiten Anstieg nach Norden beginnt zu drehen. Der Col de Babaou wartet auf uns. Kleiner, weniger steil und weniger hoch, als der Canadel - weshalb das Tempo hoch bleibt.

Aber ich weiß, dass das ein Fehler sein kann - denn hinter dem Babaou, direkt nach der Abfahrt, wartet das Dach dieser Tour auf uns: "Dann kommt der Notre Dame!", ruft Flow, der einen kleinen Zettel mit dem Höhenprofil mit sich führt. Und es sieht so aus, als ob er diese Steigung nicht gerade herbeisehnen würde ...


Dann geht es bergan - schneller als erwartet.Wir drei setzen uns wieder an die Spitze und führen das kleine Feld von knapp 20 Fahrern in die Höhe. Zunächst geht es mit mäßig langsamen 20 km/h an einem scharf abfallenden Abhang entlang - der Blick inlands gerichtet eröffnet beeindruckende Aussichten über die Landschaft.

"Ist das da hinten Schnee auf dem Berg?", frage ich Heiko.

Der grinst nur. Ich weiß, was er sagen will: Hoffentlich erst über der 750-m-Grenze!


Die Steigung zieht an, jedoch stoßen wir kaum in Höhen vor, in denen die Vegetation zurück gehen würde und so kommt es einem vor, als fahren wir endlos durch einen senkrechten Wald. Es duftet harzig nach Pinien oder anderem Nadelgehölz, es riecht feucht inmitten dieser trockenen Stille, nur durchbrochen vom sonoren Surren und Klacken der Schaltungen.

Die Gruppe bleibt kompakt beisammen - SunClass vorneweg. Eine Schande, dass es hier keine Fotografen gibt!


Immer wieder ziehen andere Teilnehmer an uns vorbei, grüßen, sprechen uns auf unsere Trikots an oder wo wir herkommen. Flow freundet sich mit einem aus Nordfriesland an, dann redet er mit einem Holländer über Fußball und wenig später berichtet er mir, dass er mit einem Typen aus London über St. Pauli "ganz nett schnacken" konnte.

Woher nimmt dieser Mann die Puste, im Anstieg das ganze Peloton kennenzulernen?


Die Fahrt auf den Babaou zieht sich hin - nicht so sehr, weil der Berg so unendlich hoch wäre, sondern, weil er keinen definierten Gipfel hat. Immer wieder schließen längere Flachpassagen an eine Rampe an, wir entrücken immer mehr der Welt, finden uns in einer Mischung aus Wald, Moor und Graslandschaft wieder - ein beeindruckendes Tourerlebnis.

Heiko meint, dass er sich vorkommt wie "bei einer RTF". Ich rolle mit den Augen. RTF ist da doch irgendwie noch ne Nummer entspannter ...


Irgendwann erreichen wir endlich den "Gipfel". Wir wissen: Nach der nächsten Abfahrt kommt der Hammerberg. Notre Dame des Anges.

Auf dem Grat.

Doch zunächst halten uns die Streckenplaner hin. Seicht auf dem Berggrat entlang schwebend können wir etwas rausnehmen und durchatmen. Der Blick geht über seichte Hügel - dennoch müssen wir aufpassen. Die Straße wird immer schlechter, Schlaglöcher, gerne mal Sandhaufen auf der Fahrbahn und enge Kurven.


Da treffen wir dann auch - wahrscheinlich durch Zufalle - ein Rentnerehepaar auf einer Bank sitzend. Sie applaudieren uns ein Allez-allez! hinterher. Die ersten beiden Zuschauer des Rennens. Wir quittieren es mit einem lauten "Hallo!"

Die Aus- und Einblicke in das Massif Maures werden unterstrichen durch immer wilder daherkommende Wolken, die sich dann und wann bedrohlich dunkel einfärben. Mein Wetterbericht Zuhause hatte Regen ab 13 Uhr vorhergesagt - der von Heiko ab 16 Uhr.

Wir einigen uns auf Heikos Vorhersagen.


Die Strecke führt ein letztes Mal an die Küste: Noch einmal tief das Blau des Mittelmeeres aufsaugen, die Pupillen im Türkis ertränken, nach Wasser lechzend an den Strand blicken - gleich werden wir das Meer für mehrere Stunden nicht mehr wieder sehen. Es geht tief ins Inland.


Ich achte darauf, viel zu trinken. Die erste Flasche ist bald alle. Das erste Gel schon längst gelutscht. Ich nehme mir vor, am Fuße des Notre Dame das Zweite einzuwerfen.

Wenn ich mir meine Mitstreiter besehe, kann ich keine größeren Strapazen erkennen: Flow sieht frisch aus, auch Heiko findet noch Kraft für ein Lächeln. Nur die Gespräche, die noch bis vor wenigen Kilometern geführt worden sind, sind verstummt. Langsam beginnt das Arbeiten.


Vom Babaou rollen wir eine wunderbare Abfahrt nach unten: Nicht sonderlich schnell, dafür technisch anspruchsvoll durch eine Vielzahl von Kurven. Wir können vor allem in Linkskurven nicht immer die Ideallinie nehmen - Gegenverkehr - aber dafür ist unsere Gruppe klein genug, dass wir uns nur auf uns zu konzentrieren brauchen. Generell erstaunt mich immer mehr, wie diszipliniert und sicher hier gefahren wird.


Wie Jagdflieger beim Einsatz stürzen wir uns tief über die Lenker gebeugt von einer Kurve in die andere, ein Rausch, der ein paar Kilometer anhält, ehe ein weiteres Flachstück oder ein kleinerer Gegenanstieg die Schussfahrt beendet.

Noch immer sind wir kompakt zusammen - unsere kleine Gruppe hat es ziemlich lange ausgehalten. Doch frage ich mich, wie es wohl an der Spitze aussehen mag. Die Ersten werden mit Sicherheit schon über den Notre Dame des Anges hinweg sein. Immerhin ist das hier ein UCI-Weltmeisterschafts-Qualirennen und keine lahme RTF.


Ich genieße die letzte abfallende Rampe ganz besonders, dann wird es eben. Dann wird es flach. Zwei, drei Kurven. Dann hat er uns. Der Notre Dame.

Tiefschlag vom Mann mit dem Hammer.

Wir werden auf eine mehr als schmale Straße geführt, kaum merklich, dann zieht der Gradient abrupt hart an und wir versacken in der Vertikalen. Vorne drehen Flow und Heiko auf - ich schalte mal lieber einen Gang zurück und lasse es langsam angehen.

Immer mehr Rennradfahrer überholen mich. Langsam fängt der Schweiß an zu fließen.


"Was ist denn mit Flow los?", denke ich so in mich hinein, als ich ihn davonziehen sehe. Heiko ruft noch "Ein Hoch auf meine Kompaktkurbel!" und strampelt wieselflink an mir vorbei.

Ich gucke runter: Bin ich schon auf dem Kletterritzel? Ja. Was ist denn auf einmal los mit mir?


Eine Kurve folgt der anderen, bald schon ist Flow außer Sicht, dann Heiko. In den Serpentinen über mir kann ich sie noch ein, zwei mal erkennen, dann ist ihr Vorsprung so groß, dass ich ins Leere winke. Hinter mir sieht es nicht anders aus: Wie es zu erwarten war, hat der Notre Dame das Restfeld pulverisiert - was nicht zu erwarten war, dass ich zu den Pulverisierten zähle.

Ich knirsche mich die Abschnitte hoch, gehe öfter aus dem Sattel, atme schwer. Es grummelt in meinem Magen. "Alter!", stöhne ich in die Leere - "Was ist denn hier los?"

Unfassbar!


Irgendwie geht das hier jetzt ziemlich langsam voran. Ziemlich zäh ziehe ich die Meter unter meinen Pneus durch. Wie Gummi fühlen sich meine Beine an. Vorne fahren sie mir immer mehr weg. Ich drehe mich um: Hinter mir nur noch zwei Mann. Okay. Dann halt ganz hinten.

Durchhalten ist jetzt die Devise.

Mir schnürt es die Kehle zu - auch das Gel bringt keine Besserung. Habe ich zu wenig getrunken? Da zuckt der erste Krampf durch den linken Oberschenkel. Na hossa, mir wird übel und ich bekomme Krämpfe. Wie lange ist das her, dass ich mal Krämpfe hatte? 


Der Schweiß läuft mir in Strömen. Ich öffne Trikot, Langarmtrikot und nehme den Helm ab. Die Sonne knallt herunter auf uns, wenig Schatten hier, kein Wind. Eine Kurve nach der anderen - je nachdem, in welche Richtung wir fahren, starre ich mal auf eine senkrechte Wand aus Fels, mal auf in weites Tal.

Oben auf dem Berg (so weit hoch sind 750 Meter?!?) steht ein Fernsehturm, ein Hinweisschild erzählt etwas von "Arriveé 10 km". Na wunderbar - von hinten kommen wieder neue Überholende. Mir ist jetzt richtig schlecht, ich könnte sofort rechts ranfahren und kotzen. Hungerast?


Irgendwann sind es nur noch 4 Kilometer. Dann nur noch 2 bis zum Gipfel. Und dann, endlich, kämpfe ich mich um die letzte Kurve - oben angekommen!

Ich rolle zu den Jungs, die oben auf mich warten. Flow liegt entspannt im Abhang, Heiko muss gerade auch erst angekommen sein. Ich stammle nur was von "Scheiße ... Krämpfe ... Kotzübel ..." und nestle mir ein neues Gel aus der Tasche.

In tiefen Zügen hänge ich an der Flasche, spüle das Gel runter, trinke mich voll - Flüssigkeit hilft doch gegen Krämpfe, oder? - und schiebe gleich noch einen Riegel hinterher. Dem Magen geht es dadurch nicht besser. Aber ich will alles tun, um den Hungerast und die Krämpfe loszuwerden.


Oben auf dem Gipfel findet sich wiederum nichts Besonderes: Weder Zuschauer noch Fotografen noch irgendetwas. Nur zwei Schilder warnen vor einer gefährlichen Abfahrt. Mit großen Abständen kommen vereinzelte Rennfahrer an uns vorbei. Einige halten an um zu pinkeln, die meisten gehen in die Abfahrt.

"Können wir weiter?", fragt Flow ungeduldig. Ich kann nicht. Noch nicht.
"Mir ist kotzübel, Flow - fahrt vor, wenn ihr wollt - aber ich muss noch 5 Minuten pausieren ..."

Sie warten.


"Naja, jetzt kannste dich erstmal auf der Abfahrt ausruhen", meint Heiko. Es sollte jetzt 10 Kilometer bergab gehen, dann nochmal 12 km seicht bergab - genug Zeit zum Ausruhen also.

Wenig später kommt die Puste wieder. Ich recke und strecke mich. Dann steige ich auf, klicke mich ein und wir rollen los.

Paris-Roubaix, Route malaise und Lebensgefahr

Was nun folgt ist könnte man mit den Worten "Folter", "Fahrlässigkeit" oder "Risikovergessen" beschreiben - ich nenne es mal "die schlimmste Abfahrt meines Lebens".

Die Straße - wenn man sie so nenen kann - ist in einem Zustand, der meiner Meinung nach das Prädikat "unbefahrbar" verdient hätte. Unglaublich, dass sie uns da herunter schicken: Mindestens 3 Schichten Asphalt sind durch Erosion oder Abnutzung allenthalben so freigelegt, dass die Strecke wie eine Rastermikroskopaufnahme aussieht - die spitzen, holperigen, tiefen, aufgebrochenen und abgebrochenen Straßenbröckel verursachen ein Fahrgefühl wie bei Paris-Roubaix.

Das Rennrad springt unter mir hart hin und her, ich habe nach wenigen Metern schmerzende Gelenke. Es ist fast unmöglich, dosiert zu bremsen, ich bete zu Gott, dass mir keine Autos oder Busse entgegen kommen - und bin fassungslos, wie unverantwortlich es ist, uns hier runterzujagen! In den Haarnadelkurven sind teilweise meterdicke Löcher, stetig klaffen scharfe, tiefe Risse und das Rad kracht von einem Schlagloch ins nächste.

"Nur 58 km/h Höchstgeschwindigkeit?", twittert nacher Harald, als der sich den Garmin-Track angeschaut hat. "Nur"? Ich wundere mich, dass es überhaupt so schnell wurde.

Gern liegen auch mannsdicke Äste oder 30 cm hohe Sand- oder Kieselhaufen in den Rampen - ich bete immerzu das Mantra: "Ich bin der Sohn eines Jagdpiloten. Ich bin der Sohn eines Jagdpiloten." und hoffe, dass ich hier ohne Sturz und ohne Platten heil herunter komme.


Als wir bei Kilometer 112 an der letzten Verpflegung eintreffen, blicke ich in geschockte Gesichter: Heiko und Flow können das eben Geleistete auch noch nicht verarbeiten.

"Stell dir vor, du musst da mit einer 50-Mann-Gruppe runter ...", sagt Flow. Nee, stelle ich mir lieber nicht vor.

Der Apfel steigt nicht weit vom Ast ... ab.

Die letzte Pause. Ich kann die Banane kaum halten, so sehr schmerzen die Handgelenke vom Höllenrit des Notre Dame. In meinem Magen brodelt Magma, habe ich das Gefühl, das sich demnächst erbricht - und doch verspüre ich brennenden Hunger und elenden Durst. Ich stopfe mir vom - ausgezeichnet ausgestatteten - Büffet alles rein, was sie haben: Salamibaguette, Nüsse, Trockenobst, Bananen, Viertelstücke Brie und trinke ("Rouge - Blanc?") Blubberwasser direkt aus dem großen Fass.

Mir ist zum Kotzen. Und doch - ich muss hier durchhalten!

"Ist ja nicht mehr lange hin!", spreche ich mir Mut zu - wohlwissend, dass da noch etliche Höhenmeter anstehen. Als wir wieder losfahren vereinbaren wir, zusammen zu bleiben.


Wir sind wieder eine kleine Gruppe - keine 8 Mann groß. Vorne fahren Heiko und Flow, dahinter gesellen sich 4 französische Fahrer (alle Ü50) und dann ganz hinten ich. Ich genieße den Windschatten - und erschrecke, als mich wieder Krämpfe im linken Oberschenkel beginnen zu plagen.



Es geht flach zu jetzt, wir fahren durch eine fast verwunschen ausschauende Moorlandschaft. Ganz anders, als die duftenden Pinienwälder gerade noch auf den Bergen - und doch sonderbar schön, fast romantisch. Wenn da nicht ... ein Haufen Kotze in meinem Magen herumschwappen und bei Geschwindigkeiten über 35 km/h der Schenkel krampfen würde.

"Jungs, wenn wir zusammenbleiben wollen, könnt ihr nicht mit 37 km/h hier langpolken!", raunze ich etwas harsch meine Mitstreiter an. Heiko nimmt sofort raus: "Hast Recht ...", stimmt er mir etwas atemlos zu. Flow zieht einen Flunsch.


Wir fahren bis Vidauban (jetzt ists geschafft!) und werden von vier, fünf weiteren Fahrern eingeholt. Dann geht es sogleich hinauf zum letzten größeren Berg der Strecke - dem Col de Vignon.

Heiko lässt sich zu mir zurück fallen. "Alter. Ich bin gleich fertig!", gesteht er mir. Aha.

Es geht in die Steigung. Vorne - ganz vorne - führt Flow noch das Feld an. Wir werden durchgereicht. "Ja, dann langsam kurbeln, schön im GA1, anders kommste nicht durch ...", empfehle ich ihm und bin froh, hier nicht alleine wieder strampeln zu müssen.

Mittlerweile schwillt auch der Autoverkehr an - der, weil wir bergauf so langsam sind - umso bedrohlicher wirkt, wenn er überholt.


Immer mehr holen uns von hinten ein, bis wir beide schließlich ganz allein in der Steigung hängen. Ruhig, ohne Hast kurbeln wir hoch. Heiko baut sichtlich ab. Ich kann wenigstens über keine weiteren Krämpfe klagen.

Trennung.

Oben angekommen holen wir Flow ein, der langsam kurbelnd auf uns gewartet hat. Mit uns sind noch zwei andere Fahrer am Gipfel angekommen, mit denen wir uns nun in die kurze Abfahrt begeben.


Richtig Gas geben kann ich eh nicht mehr, ich habe Angst, dass mich erneut Krämpfe heimsuchen, also lasse ich rollen. Heiko, der sonst immer ein undurchdringliches Pokerface zur Schau stellt, sieht richtig schlecht aus - er pumpt schwer, sitzt in sich zusammengesunken auf dem Rennrad und tritt auch eher die kleinen Gänge.



Vorne zieht Flow wieder das Tempo an - ich muss ihn zwei mal pfeifend zum langsamer Fahren ermahnen. Irgendwann setzt er sich neben uns: "Sagt mal, wollen wir nicht einfach durchziehen - Bam-bam! - noch 60 Kilometer und dann wars das?"

Sprachlosigkeit. Woher nimmt der Typ nur seine Kraft? "Fünfte Herren St. Pauli" ... denke ich mir so und starre etwas neidisch auf seine riesigen Fußballerschenkel.

"Flow ... fahr. Wir müssen langsamer machen ... sind froh ... überhaupt ankommen", stammle ich. Flow zieht davon. Mit ihm die beiden Anderen. Heiko und ich sind allein.


"Noch 50 Kilometer ...", rufe ich uns Mut zu. Wir kommen kaum mehr über die 30 km/h-Grenze. Bei mir lassen gottseidank die Krämpfe nach, jetzt, wo ich ohne den Speeddruck weniger Power von den Muskeln abverlange - das Kotzgefühl allerdings wird stärker. Ich lockere den Kinngurt, was etwas vom Ekeldruck auf den Gaumen nimmt.

Zweite Luft im Regen.

Ab jetzt fahren wir wie in Trance. Wir sammeln einen ziemlich alten, grauhaarigen Teilnehmer ein, den ich beim Überholen ermutige, sich bei uns ranzuhängen. Was er auch tut. Die kleinen, kurzen Abfahrten nutze ich, um locker tretend etwas Erholung in die Muskeln zu bekommen - Heiko allerdings ist nur noch am fluchen.


Ich kann kaum noch meinen Nacken oben halten - so sehr schmerzt der Hals. Meine Handgelenke spüre ich kaum noch, dank der Roubaix-Abfahrt und kann dem ganzen doch etwas Positives abgewinnen: Durch die Schmerzen vorne merke ich kaum, wie sehr mir der Hintern mittlerweile weh tut.

Der alte Mann lässt abreißen, als es nach Plan de la Tour geht und wir uns einen flachen - aber elend langen - Anstieg (ist das jetzt endlich der letzte?!?) hinauf winden. Ein einsamer Krankenwagen überholt uns. Ansonsten sind wir alleine in dieser beeindruckenden Westernkulisse.


Als es anfängt zu regnen, mischt sich ein kalter Gegenwind dazu. Na herrlich! Mir fröstelt sofort und ich beglückwünsche mich zu meiner Entscheidung, mit etwas übertrieben vielen Schichten in dieses Rennen gegangen zu sein. Heiko friert. Er sieht gar nicht gut aus.

Bei mir fühle ich die berühmte "zweite Luft" - ich bin zwar kaum mehr im Stande, hier heute Höchstleistungen zu vollbringen, aber fühle ich doch trotzdem eine gewisse Beruhigung meines Körpers (bis auf die Übelkeit) und finde zu einem - wenn auch langsamen - Rhythmus.

Mehr und mehr gehe ich in Führung und versuche, Heiko Windschatten zu geben. Der zieht sich noch ein Gel rein, aber er meint, dass er bodenlos leergefahren sei - so ein Gel helfe da jetzt auch nicht mehr.

Der Regen schwillt an - und dann aber auch gleich wieder ab.
Bei jeder Rampe hoffen wir, es möge die letzte sein.


"Kleine ... Pause ... pinkeln!", ruft Heiko. Auf einer die vielen Kuppen halten wir kurz an. Ich kann mich strecken, während Heiko - mittlerweile kaum mehr auf Etikette bedacht - direkt vom Rad in die Pampa pinkelt. Scheißegal. Das Absteigen verursacht nun auch bei ihm Krämpfe. Die Strecke fordert ihren Tribut.

Über 2.600 Höhenmeter stehen da mittlerweile auf meinem Garmin. "Dann muss doch schon Schluss sein?!?", rufe ich. Die hatten was von 2.500 geschrieben - und eigentlich kommt noch der Endanstieg nach Gassin ... oder wie?


Die letzten 20 Kilometer habe ich heute, fast eine Woche nach dem Rennen, vollständig vergessen. Ich weiß nur noch, dass wir uns mit letzter Kraft über den letzten Berg bei Plan de la Tour schleppen und ich mir die ganze Zeit überlege, mir einfach den Finger in den Mund zu stecken und der nun fast 70 Kilometer andauernden Übelkeit ein Ende zu setzen.

Wir fahren in die Ebene bei Port Grimaud - Gegenwind! Und ich schaue immer nach vorn, wo bedrohlich schwarze Wolken über ziemlich fies aussehenden Bergen heranziehen - Regen im Endanstieg?

Im letzten Dorf vor Gassin stehen zwei Teenager, die uns anfeuern. "Yeah - nochmal 2 Zuschauer!", versuche ich Heiko aufzumuntern. Seinen leeren Blick kann ich sogar durch seine verspiegelten Gläser sehen.

Weltmeisterschaft?

Dann steht da auf einmal ein Schild: "Arriveé 10 km" - und wir werden auf eine Fernverkehrsstraße geleitet. Trucks und Autos donnern an uns vorbei, während wir Probleme haben, das Rennrad auf einem geraden Kurs zu halten. Es geht auf - endlich! - babypopoglattem Asphalt schnurgeradeaus. Ich setze mich vor Heiko und gehe in Untenlenkerhaltung. Durchziehen!

Sie vergehen wie im Fluge. Wann kommt der Endanstieg?, überlege ich immer. Jetzt? Nee, doch geradeaus. Wieder anziehen, wieder treten. Jetzt, da? Nee, weiter geradeaus. Ein Kreisverkehr, ein Streckenposten - winkt der uns in den Endanstieg? Nee, geradeaus! Okay, wieder zwei Kilometer Zeitfahren. Wieder ein Kreisverkehr - wieder Streckenposten: Scheiße, jetzt aber, oder? Nee, links herum. Alles klar, links herum, wieder anziehen, wieder Zeitfa...oh! Ziel. Ziel?

Ziel!


Wir schießen förmlich durch den Zielbogen. Keine Fotografen, keine applaudierenden Zuschauer. Nur fünf gelangweilte Rettungssanis, die uns zum Zielbereich winken. "Alter ... Scheiße!", stöhnt Heiko. Und ich gebe ihm recht. Und der Endanstieg? Nee lass mal, reicht auch: 3.062 Höhenmeter sagt Garmin nach der Höhenkorrektur.

Wir steigen ab - Krampf! - und stellen die Räder an einen Baum. Heiko lässt sich ins Gras fallen. Ich kann gerade noch so Flow gratulieren, der uns entgegen kommt, dann lasse auch ich mich in einen der Plastikstühle fallen.

"Also ... das war mal eine Ansage!", rede ich zu mir selbst und bekreuzige mich. 176 Kilometer - 3.062 Höhenmeter und 7:24 Stunden brutto. Weltmeisterlich?



Auf der Bühne ehren sie gerade die Gewinner des Granfondo Colnago (oder Cannondale, keine Ahnung) Saint Tropez: Es ist der Belgier Bart Doerbroeck, der die 176 Kilometer in einer galaktischen Traumzeit von 4:58 Stunden hinter sich bringt - zweieinhalb Stunden schneller, als ich!

Ich recke mich auf, laufe zur Siegerehrung und applaudiere - und sehe ein, dass ich mich heute nicht mit Jedermännern, sondern mit einer ganz neuen Klasse von Radrennfahrern gemessen habe. Wahnsinn!

Während ich da stehe, fallen Flow und Heiko über das Freiessen und die Getränke her. Und heißa! Was die da auftischen, hat wahrlich auch nichts mehr mit den Jedermann-Nudeln in Deutschland zu tun!


Es gint eine Riesenportion (und wenn man will Nachschlag kostenlos) Paella mit Meeresfrüchten, Gambas und einem riesigen Hähnchenschenkel direkt von großen Pfannen. Dazu Cola, Säfte, Bananen oder Orangen und Apfelmus, Isodrinks und Wasser, selbst Kaffee haben sie hier.

Ich versuche zu essen, aber mein Magen weigert sich weiterhin standhaft - dafür laben sich Heiko und Flow (der es acht Minuten vor uns ins Ziel geschafft hat) mit umso begeisterterer Hingabe am Feilgebotenen.


So sitzen wir in der Sonne und versuchen, das gerade Erlebte irgendwie in Worte zu fassen.

Rennen, Granfondo ... RTF ... ja was denn nun?

Hart war es. Ja. Verdammt hart! "Das war sportlich das Krasseste, das ich jemals gemacht habe!", sagt Heiko. Und das will etwas heißen - Heiko ist Triathlet und einer der stärksten Rennradfahrer, die ich kenne. Und ausgehend davon, dass ich mit ihm 2011 Rad am Ring gefahren bin - was nun wirklich kein Zuckerschlecken war - ist das schon eine krasse Aussage.

Ich selbst muss sagen, dass ich es auch extrem hart fand, aber aufgrund meiner bescheidenen Form (oder war es heute ein sensibler Magen?) nicht 100 % geben konnte - und deshalb etwas enttäuscht bin, nicht alles hatte geben zu können.

Flow schaut einem ... komischen Mann ... hinterher und formuliert es für sich so: "Keinen Muskelkater. Geiles Rennen. Morgen noch ´ne Etappe?"

Wir schütteln da nur den Kopf ...


Tja, was ist das nun also, ein Granfondo? Übersetzt heißt das "große Runde". Die Franzosen nennen es "Cyclosportif" - eine Mischung aus Rennen und Radmarathon. All-out kann man diese Distanzen und vor allem diese Höhenmeter nicht fahren. Eine RTF war das allerdings auch beiweitem nicht.

Also was ganz Neues.

Wir müssen - oh weh! - noch 8 Kilometer zurück nach Saint Tropez radeln, was wir dann auch ganz gemütlich tun. Nach einer halben Stunde sitzen wir in unseren durchnässten Klamotten auf der Terrasse und trinken den Siegerkakao.


"Ähm ...", beginne ich, wieder halbwegs regeneriert: "Das war jetzt nur der Anfang ..."

Und wir alle wissen, was das bedeutet: In 30 Tagen steht der Granfondo New York City an, der zwar "nur" 2.000 Höhenmeter hat, aber auch über 177 Kilometer geht. Und dann der Dreiländergiro ...

"Das geht alles noch", sagt Heiko: "Richtig krass wird Spanien ..." und mehr muss er gar nicht sagen: 180 Kilometer in den Hochpyrenäen, 4 Cols und knapp 5.000 Höhenmeter.

Dass ich noch den Ötzi fahren will dieses Jahr, verschweige ich mir selbst jetzt erstmal ...


Als wir am Montag wieder in Hamburg landen, steckt tatsächlich auch bei mir kein Muskelkater in den Knochen. Wenn ich mir dann aber die Medaille, die wir alle bekommen haben, besehe, muss ich schon nachdenklich zugeben: Das war tatsächlich eines der härtesten Rennen, das ich jemals gefahren bin. Es hat mich an die Grenze meiner körperlichen Leistungsfähigkeit - und vielleicht auch bisschen darüber hinaus - gebracht. Es war gefährlich - saugefährlich! - und wunderschön zugleich.



Es hat mich durch eine Region geführt, die beeindruckende Natur zu bieten hat und einsame, romantische undberührte Einblicke in eine noch nie gesehene Landschaft gewährte. Ich habe eine neue Form von Radrennen kennengelernt und bin inmitten von - an mir gemessen - absoluten Profis gefahren.

Es war ein tolles, ambivalentes, hartes, wunderbares Rennen, dieser Granfondo Col...Cannondale.


Die Medaille bekommt ihren Ehrenplatz neben dem Finisher-Metall vom Barcelona-Marathon. Und ich bin stolz, das zweite Sportevent meiner harten Saison 2012 heil und unbeschadet - und reich an neuen Erfahrungen - gemeistert zu haben.

New York? Val d´Aran? Ötzi? Können kommen!


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Hier gehts zum Garmin-Track.

Und hier geht es zum Bericht bei SunClass Radsport.de



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4 Kommentare:

  1. Schöner Bericht! Unglaublich an wieviel du dich erinnerst! Sag mal, haust du dir immer soviel Süsskram rein: Riegel, Gel und Sportsgetränk? Mir wird davon auch immer ganz flau im Magen. Vlt eine Ursache für deine Magenprobleme?

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  2. moin, danke für deinen comment.

    ich habe in den drei jahren rennrad- und rennerfahrung eigentlich alle großen anbieter ausprobiert - mit nutrixxion fahre ich am besten.

    bisher hatte ich diese magengeschichte noch nie, deshalb glaube ich, dass es am fehlenden frühstück gelegen hat - ich hatte einfach keine grundlage.

    das "süßzeug" hat dem magen dann wahrscheinlich den rest gegeben. keine ahnung.

    jedenfalls komme ich sonst mit "alle 40 km ein gel" super aus.

    viele grüße,
    L

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  3. moin moin. naja, ich glaub wir sind da ziemlich gegensätzlich - gel nutz ich fast nie, bis auf eine ausnahme. Trondheim - Oslo gabs ein gel, was aber eher an der geschmacksrichtung lag: koffeinzeugs. War geil und knallte so richtig. Ansonsten gibts bei so kurzen Rennen vlt. ne Banane, und bei längeren gern Weissbrot mit Butter und viel Salz. Und die Flaschen sind oft jede zweite nur mit Zusatz, die anderen mit Wasser. Mir schlägt das ganze süsse Zeug ziemlich auf den Magen: nehmen das nur selten zu uns und dann noch unter starker Belastung. Hast du in die Richtung mal probiert? Find persönlcih ein gel aller 40 km echt krass viel.

    Ansonsten weiterhin schöne Touren!
    Viele Grüsse! M :)

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  4. Endlich auch Zeit für ein Feedback
    Toller Bericht von einer tollen Veranstaltung. Hätte nie die Muße während der Fahrt noch Photos zu machen, die machen den Bericht noch anschaulicher.
    alle 40km eine gel finde ich auch extrem viel, aber wenn es sonst klappt, da ist ja jeder Jeck anders. Wenn es an dem Tag nicht geklappt hat, dann mag es wirklich am fehlenden Frühstück liegen.
    Mich würde noch interessieren, ob du auch Pulsaufzeichnungen hast, also in welchen Bereichen du dich bewegt hast. Denn auch gerade im Hinblick auf den Ötz, wäre sowas ja vielleicht relevant, könnte man gezielt trainieren. So hab ich es jedenfalls vor.
    Immer weiter gute Fahrt.

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