Browse to ...

26. Juni 2013

Race across the Alps 2013 - Schnuppertag beim Ultrasport


Ihr werdet es wohl alle mehr oder weniger bei Twitter oder im Blog meines Teams SunClass Solarmodule mitbekommen haben, dass mein Auftritt beim RATA 2013 leider nicht mit einem Happy End gesegnet war. Ich möchte Euch dennoch einen kleinen Bericht davon geben, was mir zwischen Nauders und Aprica passiert ist.

Eröffnungsphase: Start in Nauders, Abfahrt über den Reschenpass zum Stelvio

Das nur 50 Mann starke Peloton wird – Fahrer für Fahrer und Team für Team – vom Moderator im Ortskern von Nauders vorgestellt. Es herrscht eine tolle Atmosphäre, alle sind gespannt, alles zupft an Trikots herum, macht noch einmal die Helmschnallen fest und überprüft ein letztes Mal den korrekten Zug auf Bremse und Bowdenzug: Ich entdecke in letzter Minute eine lockere Vorderradbremse, die unser Mechaniker-Genie Martin Wiertz denn dann auch gleich wieder sutsche anzieht.


Flow und ich beim Eintragen in die Starterlisten des RATA 2013

Start ist Punkt 12 Uhr, unter dem Applaus der Gemeinde biegen wir auf die Reschenpassstraße ab. Ich kenne diesen Weg bis auf den Stelvio noch sehr genau vom Dreiländergiro 2012, weiß daher, dass es nur sehr seicht mit maximal 4 % bergauf gehen wird, es ab Reschensee eher flach und daher sehr schnell werden kann. Doch zu meiner Überraschung wird sehr gesittet gefahren, Flow und ich können uns inmitten des Feldes gut einordnen.



Aufmerksam beim Fahrer-Briefing am Abend vor dem Start.

Anders aber als beim Dreiländergiro vor einem Jahr, wird hier nicht schon das halbe Feld totgefahren. Ich empfinde die Speed sogar als angenehm. Doch neben mir fällt Flow plötzlich zurück und aus der Gruppe heraus, ich kann gar nicht so schnell reagieren, wie ich an ihm vorbei bin. Er ruft mir noch „Tschüs!“ hinterher, wir sind weg.

Martin und Benji, die meine Betreuercrew sind, verfolgen das Live-Tracking: „Flow war plötzlich kurz nach dem Start hinter dem Feld, wir haben uns schon Sorgen gemacht, ob er vielleicht einen Defekt hatte.“, erzählen sie nach dem Rennen.



Jubelschrei beim Start - endlich geht das Race Across the Alps los!

Mir selbst geht es gut, ich habe keine Probleme, meine Position im Feld zu behaupten – das Cervélo S5 schnurrt wie ein Kätzchen.

Die Abfahrt vom Reschenpass ist schwierig: Hier zieht das Peloton auf einmal an. Flow konnte sich unterdessen im Flachstück bis St. Valentin wieder ans Feld heran arbeiten, schießt in der Abfahrt plötzlich an mir vorbei und setzt sich sogar für einige hundert Meter an die Spitze des Feldes. Das ist er, unser Flow!

Mir selbst macht die Abfahrt etwas Schwierigkeiten: Es geht ein harscher, böiger Wind vom Tale her, der das Rennrad von der Seite trifft. Die Windstöße zerren an den Hochprofilfelgen, treffen mich von der Seite, schieben und ziehen, wenn mir entgegen kommende LKW dann noch ihre eigene Windschleppe um die Ohren hauen, fühlt sich das Rennrad an, wie ein Citröén beim Elchtest …

Ich muss langsam machen, will im dichten Feld kein Unsicherheitsfaktor sein und werde bis Ende Reschenpass bis fast ans Gruppenende durchgereicht.

Unten angekommen, arbeite ich mich wieder durch das Peloton in die Mitte vor. Ich hänge mich an einen Teilnehmer vom Team Strassacker. Ein sympathischer Fahrer, der mir beim Briefing schon aufgefallen war. Dieses Team kenne ich von einigen Veranstaltungen des GCC 2011 und habe sie als professionelle, sichere Fahrer kennen gelernt.
Sicher aber will ich vor einem anderen Teilnehmer sein, der sich bei 45 km/h mitten im Feld und nur 2 cm am Hinterrad seines Vordermannes gern mal auf seine Tria-Aufsätze legt: Kreuzgefährlich, der soll man schön hinter mir fahren!

Durch Spondining, dann Prad und schon sind wir am Stilfser Joch. Endlich: Mein Revier!

Im Silfser Joch: Es läuft wie geschmiert.

Ich schieße am Team SunClass Solarmodule Orange vorbei – Flows Betreuer tragen auffällige orange-gelbe T-Shirts. Die Meinen – Team Blau – sehe ich nicht. Doof, denn eigentlich will ich ja die Anstiege des RATA mit meinem Cervélo R3 fahren – die Kompaktkurbel holt da einfach mehr raus – und die Abfahrten auf dem S5 meistern.

Da ich durch die Hektik am Vorstart noch nicht funkverkabelt bin, kann ich nicht fragen, wo sie sind, also gehe ich auf dem S5 in den Anstieg. Ich hoffe, dass sie schnell aufschließen, denn am Aero-Renner fahre ich nur eine Flasche, die auch schon halb leer ist …

Sobald es steiler wird, startet das Race across the Alps: Und das merkt man! Vorn geben sie jetzt richtig Gas. Oder anders: Vorne fahren sie, wie man beim RATA fahren muss: Wir hinten können da nur staunen. Schnell zieht sich das eben noch sehr kompakte, fast defensiv fahrende Feld auseinander, Flow wird fix wieder nach hinten durchgereicht, ich überhole ihn, ich selbst wiederum werde von fast allen Startern ebenfalls überholt: Hier erkennt man die Klasse der Teilnehmer!

Starter wie Daniel Rubisoier, ein außerordentlich sympathischer, bescheidener Typ, mit dem wir gestern noch für unseren Film ein Interview geführt haben, der vor zwei Wochen noch die Quali für die Mountainbike-Eurpoameisterschaft gefahren ist, ist schnell außer Sichtweite. Ebenso die anderen Favoriten.



Wechsel vom Cervélo S5 Aero-Renner auf das R3, den Bergspezi.

Dann werde ich von meinem Teamfahrzeug überholt, sie fahren einen halben Kilometer vor. Als ich eintreffe, steht das R3 vollgetankt da, sie ziehen mir die neuen Schuhe an, stecken mir ein, zwei Gels ein, ich kann nach nur 2 Minuten wieder losfahren. Flow, der mich beim Wechsel überholt hatte, hole ich schnell wieder ein, frage kurz, wie es ihm geht, dann fahre ich meinen eigenen Stiefel weiter.

Ach herrlich! Das Stilfser Joch ist einer meiner Lieblingsanstiege und da ich beim Dreiländergiro fast den gesamten Anstieg mit einem anderen Rennteilnehmer über geplauscht hatte, waren mir viele Eindrücke nicht mehr so präsent: Heute kann ich mich voll und ganz auf diese grandiosen 25 Kilometer konzentrieren.

Obwohl die Serpentinen nur so unter mir durchgehen, zehrt dieser Anstieg.

Denn es ist heiß. Richtig heiß! Schnell läuft Schweiß in Strömen, ich muss mich nicht einmal zwingen, alle 10 Minuten einen Schluck Wasser zu nehmen. Ich kann zu einem anderen Fahrer aufschließen, wir beide werden nach einigen Minuten von einen weiteren Fahrer - Strassacker - noch eingesammelt. Von hinten nähert sich eine Dame.



Ich hänge mich an 2 Mitstarter. Von hinten kommt eine RATA-Dame noch dazu.

Zu viert fahren wir in einem kleinen Verband zusammen, bis ein italienischer Linienbus sich aggressiv durch uns, die Begleitfahrzeuge und den Gegenverkehr hupt und drängelt – so ergibt sie die unschöne Situation, dass der Bus auf einmal zwischen mir und den drei Anderen ist – und stoppt, um eine Kolonne Entgegenkommer durchzulassen. Keine Chance für mich, ich muss im Dieselruß hinter ihm warten. Von den drei Kollegen werde ich nur noch die Dame später einholen.

Als der Verkehr wieder rollt, komme ich nach 10 Kilometern an der Franzenshöhe vorbei – ab hier wird der Stelvio einfach nur noch geil. Die steile Felswand, die Serpentinen, der Schnee – es geht sogar ein kühler, später kalter, Wind. Es ist herrlich!

Ich kann konstant fahren, habe keine Probleme und schraube mich schnell die Steigung hoch. 48 Kehren sind es bis zum Pass – erst bei Kehre 15 zähle ich bewusst mit. Unterwegs versorgt mich mein Team zweimal mit Essen und Trinken, sie geben mir meine Jacke und warten dann oben am Pass.



Wir wechseln und in der Führungsarbeit ab.

Als ich eintreffe, habe ich 20 Minuten Vorsprung vor Florian – und liege aber schon jetzt Meilen hinter den RATA-Cracks zurück. Das alles interessiert aber noch nicht. Oben ziehe ich mir Beinlinge, Weste und Handschuhe an, esse eine meiner 14 präparierten Schwarzbrot-Salami-Leerdamer-Gurkenscheiben-Stullen, eine Banane, trinke hastig und mache mich in die Abfahrt.

Perfekt: Kürzeste Standzeit, konservierend fahren aber mit ausreichend Druck am Pedal. Ich bin in Hochstimmung. Alles klappt bisher wie am Schnürchen. Besser noch: Ich hatte damit gerechnet, schon am Start vom Peloton abgehängt zu werden.



48 Kehren - geiler Ausblick. Der Stelvio ist Legende.

Den Stelvio fahre ich in 2:20 Stunden - das ist nur 10 Minuten langsamer als beim Dreiländergiro 2012. 

Abfahrt nach Bormio und in den Gavia-Pass

Die Abfahrt auf der italienischen Seite kenne ich noch nicht, da der Dreiländergiro via Umbrail-Pass in die Schweiz abbiegt – Umbrail, das ist der vorletzte der 11 RATA-Pässe. Als ich an der Kreuzung gen Italia lenke, schaue ich kurz in Richtung Schweiz.

Meine RATA-Prognose für mich selbst sieht vor, dass es „irgendwo hinter dem Bernina-Pass knallt.“ Dann würde ich 6 Pässe in den Knochen habe, die Nacht durchgefahren sein. Albula, Flüela – so in diesem Bereich hatte ich für mich mein Ziel gesetzt. Stilfser Joch via Umbrail, das war eine feine Fiktion. Für die Traumnacht vor dem Start.



Von da unten gekommen - andere Seite runter. Abfahrt vom Stilfser Joch!

Die Abfahrt über Bormio ist purer Rausch. Die Straßen sind gut, der Abhang nicht minder beeindruckend wie der Anstieg via Prad, auf halber Höhe schießt ein Karwenzmann von Wasserfall hundert Meter neben der Straße senkrecht in die Tiefe – absolut beeindruckend! 

Die 7 Tunnels, durch die man etwa ab der Häfte des Stelvio schießt, gehen gut zu fahren, keine Schlaglöcher, auch nicht allzu lang, dass man sich wegen der Dunkelheit sorgen müsste.

Im unteren Teil werden die Straßen gerader, ich kann länger rollen lassen und mich entspannen: Bis hier her läuft es super! Ich bin sehr zufrieden mit meiner Leistung bis jetzt, sitze sicher auf dem Rennrad und habe auch nach den ersten 2.500 Höhenmetern keinerlei muskuläre Beschwerden.

In Bormio biegen wir sogleich in den Gavia ab. Kurz hinter dem Dorf halte ich an, pelle mich aus den Abfahrts-Klamotten und werde mit Funk verkabelt.

„Erzählt mir was vom Anstieg.“, bitte ich meine Crew. Die informieren mich nun alle paar Kilometer, was die vor mir liegenden Abschnitte bereithalten. Den Gavia bin ich noch nie gefahren, und so kommen mir diese Funk-Infos ganz gelegen.



Im Anstieg zum Gavia-Pass. Noch ist´s schön warm.

Im unteren Teil ist er flüssig zu fahren, meist bis 5 % steil, nur unterbrochen ab dem zweiten Kilometer durch eine 2 Kilometer lange Passge mit Spitzen bis 15 %. Dann 5 Kilometer bei maximal 6 %, erst ab Kilometer 7 bis kurz vor Ende bei km 21 wird es wieder bis zu 15 % steil. Halbwegs entspannt dann die letzten 3 Kilometer bei unter 6 %.

Insgesamt 26 Kilometer lang.
Das macht 1.400 Höhenmeter in Summe.

Der Gavia-Pass steht dem Stilfser Joch in nichts nach.


Schnell, aber ohne ermüdenden Druck - so will ich die Berge des RATA bezwingen.

Es ist nicht mehr übermäßig heiß – ich rolle gut. Im linken Knie kommen nun die – mir schon bekannten und recht gut zu ertragenden – Schmerzen allmählich zum Vorschein. Diese habe ich, seit ich Rennrad fahre. Es ist ein Stechen hinter der Patella, eher lästig denn schmerzhaft, und nichts, um das ich mir Sorgen machen müsste.

Im Gavia-Pass: Was für ein Biest!

So nett, herrlich grün bewaldet und harzig duftend der Gavia sich unten auch präsentiert, so widerspenstig wird er ab der Mitte: Plötzlich ziehen die Prozente an, immer wieder 10, 11, 12 bis 15 % und das geht auch schön in die Waden. Untermalt wird alles von einem dichten Nebel, der die Sonne verdunkelt, die Luft kalt und feucht macht und nur ab und zu die Sicht auf schroffe, graue, abweisende Felsen oder schmutzig-braune Schneefelder freigibt. Menschenfeindlich. Fremder Planet. Es scheint, als hallte ein „Hau ab!“ von den Abhängen …

Noch kann ich das alles ganz gut ab, kein Problem. „Sieht gut aus von hier, Lars.“, lobt Martin – immerhin ein erfahrener C-Lizenzrennfahrer – meine Haltung. „Flüssiger, lockerer Tritt – Du machst alles richtig!“ Das gibt Zuversicht.



Langsam wird der Gavia-Pass ungemütlich.

Irgendwann passiere ich die Baumgrenze, über mir thronen die schroffen Felsgipfel und Schnee bedeckte Abhänge noch drohender, weil immer näher. Es wird empfindlich kalt und so lasse ich mir meine Jacke wieder herausgeben.

Der Gavia wird nach oben hin immer steiler, die fiesen Stücke kommen etwa 6 Kilometer vor der Passspitze - und dann kommts ganz dicke. Hier ist die Straße nass, längst schon fahre ich in kaltem Nebel, dicke Tropfen weichen meine Beinlinge durch, fahre ich in die eine Richtung – Wind von hinten – ist es ganz erträglich, wechseln die Serpentinen in die andere Richtung, zieht es mir klirrekalt unter Trikot und Unterhemd.


Hitze am Stelvio? Gavia ist arktisch kalt!

„Auf dem Pass bitte frische Klamotten, Weste, Überschuhe …“, wünsche ich mir was von meiner Crew, ehe ich in das letzte Stück mit Rampen bis 15 % rausche. Alter Verwalter! Das zieht Körner! Immer wieder muss ich im Wiegetritt fahren, noch dazu im harten Gegenwind. Neben mir Schneewehen und Bäche Schmelzwasser über die Straße. „Es sind 8 Grad laut Anzeige.“, sagt Benji über Funk. Gefühlt ... will ich lieber nicht wissen!
Als ich um die Ecke komme, sehe ich in etwa 400 Metern Entfernung einen RATA-Teilnehmer und sein Fahrzeug. Neue Energie durchströmt mich: „Den haste gleich, locker.“, motiviert mich Martin. Und Recht hat er, nach 10 Minuten hole ich das Team ein – aber nur, weil sie auf dem Pass stoppen, damit sich der Fahrer umziehen kann. Es ist die Dame aus meinem Stelvio-Quartett. Sabine Fernitz heißt sie. Strassacker und der andere Fahrer haben sie wohl abhängen können. 

Ihr Team stoppt etwas unterhalb des Gipfels, sie wechselt Klamotten und auf ein Mountainbike. Mountainbike?, denke ich nur so, wir fahren aber weiter und suchen uns eine Wind geschützte Stelle direkt am Pass.

Da sitze ich nun und friere, esse eine Stulle, während ich mich schnell ausziehe, abtrockne und in frische, trocken Klamotten schlüpfe: Unterhemd lang, Kurzarmtrikot, kurzes Unterhemd, zwei lange Trikot-Jacken (davon eine gefüttert) und die Windweste. Dazu gefütterte Überschuhe und lange Handschuhe – so gehe ich 5 Minuten später in die Abfahrt.


Pause im Windschatten - Essen, Trinken, Anziehen in einem. Saukalt!

Die Dame ist schon längst wieder an uns vorbei. Egal: Das RATA gewinnt man gegen sich selbst, nicht gegen Andere.

Die Abfahrt ist im oberen Teil einfach nur grauenvoll! Ah, deswegen das MTB! Schnee, Eis, Räumfahrzeuge und die extremen Wetterbedingungen auf diesem sehr hohen Pass (dazu wohl der Fakt, dass der Gavia weniger wichtig für den Verkehr ist, als Stilfser Joch) präsentieren „Straßen“, die den Namen nicht verdienen: Schlaglöcher, teils meterlang aufgerissene Fahrbahndecke, Split und loser Belag allenthalben. Dazu stehendes Schmelzwasser auf der Fahrbahn und eine dünne Fahrbahnbreite, die, käme ein LKW, unweigerlich zu Rangierexzessen führen würde.

Durch das Ruckeln und Springen meines Rennrades bekomme ich eine Hundertschaft harter Schläge auf Kopf und Nacken, diese Abfahrt ist einfach nur Scheiße! Die ersten 4, 5 Kilometer fühlen sich eher an, wie eine Geröll-Downhill-MTB-Aktion, das Rennrad hier sonderbar deplatziert.

Weiter unten hingegen, es wird sogar wärmer, wird der Belag viel besser – aber auch viel schmäler. Die Jungs konnten die ganze Abfahrt bisher gut hinter mir bleiben, auch, weil ich die ganze Zeit mit gezogenen Bremsen um die Löcher kurbeln musste – jetzt haben sie hier auf dem Flüsterasphalt vom Feinsten keine Chance gegen das Rennrad.



Die Straße wird besser - und weg ist das Rennrad!

Die Abfahrten sind kurvig, aber gut einsehbar – ich kann laufen lassen.

Wie im Rausch schieße ich herunter, nur einmal kommen mir Motorradfahrer entgegen, kein Problem. Später berichtet mir Benji, der ständig Internet-Verbindung zum Livetracking hat (bis es ausfällt), dass hier irgendwo in der Abfahrt einer der Teilnehmer in einen Motorrad geknallt sei. Ich hoffe, ihm geht es gut!

Ich erreiche Ponte di Legno weit vor meinem Teambus, den Martin, wie sie mir später berichten, unter virtuosem Einsatz der Motorbremse in haarsträubenden Aktionen nach unten zirkelt: Kameramann Timo und Benji waren „kurz vor dem Kotzen“, wie sie später sagen.

Vor der weiteren Abfahrt nach Edolo muss man noch kurz und knackig bergan – und hier tritt es dann auch zum ersten Mal auf. Im rechten Knie, sonst immer beschwerdefrei, verspüre ich bei jeder Kurbelumdrehung einen dumpfen Schmerz. Nun wechselt sich also das Patella-Stechen mit den Hammerschlägen ab. Wunderbar!

Abfahrt nach Edolo – das Ende kündigt sich an

Bei einem Pinkelstopp meint Martin: „Du liegst gut in der Zeit, Lars. Wenn du den Aprica genauso weiter fährst, kommst du gerade noch so im Zeitlimit nach Tirano.“ Na, das klingt doch super!
Tirano - wer hier bis 21 Uhr durchkommt, fährt den Mortirolo, dann noch mal den Aprica, dann wieder Tirano und von dort in den 40 Kilometer langen Bernina-Pass. Ich bin wie elektrisiert: Mein Plan  scheint - gerade so - aufzugehen. Ich will das RATA soweit möglich im Rahmen der Regeln fahren. Also auch innerhalb der Karenz.



Hier ist die Gavia-Abfahrt einfach nur geil. Eng, aber geil!

Dass mir mittlerweile beide Knie Probleme machen, verschweige ich meinem Team vorerst – manchmal muss man Schmerzen einfach kurz ertragen, dann gehen sie auch wieder weg. Wer weiß? Vielleicht ist da einfach nur was verdreht oder so?

Bis Edolo sind es 20 Kilometer, die es mit 2 bis 4 % bergab geht: Fast schon zeitfahrmäßig kann ich hier mit konstant 40 bis 50 km/h herunterbollern. Oft an der Trittfrequenzgrenze meiner Kompaktkurbel des R3. Warum ich nicht auf das schnellere S5 mit Heldenkurbel gewechselt bin, daran rätsele ich heute noch …

In Edolo biegt man schnell zum Aprica ab. Eine kurze Wartezeit an einer roten Ampel (Zeitstrafe, wer bei Rot fährt – DNF, wenn die Polizei beim Veranstalter anruft!) muss ich in Kauf nehmen, dann geht es in den Pass.

Schock im Aprica-Pass

Der Aprica ist der netteste aller Pässe, die man sich denken kann. Das Profil sieht aus, wie die knackige Rundung eines Frauen-Popos, der am Strand auf einem Handtuch in der Sonne glänzt: Nichts steiles, nix scharfes, einfach nur eine sanfte Kurve.

Immer unter 5 %, selbst in den Spitzen wartet der Aprica mit nur 8 % auf. Den kann man flott fahren, die Favoriten, da bin ich mir sicher, werden hier im großen Blatt stehen. Ich aber baue immer mehr ab. Selbst diese seichten Prozente machen dem rechten Knie immer mehr zu schaffen. Aus dem Muckern wird ein Mahlen.

Irgendwann knirscht es nur noch. Ganz so, wie wenn sich Kieselsteine im Gelenk befänden. Es tut bei jeder Umdrehung höllisch weh – über diesen Schmerz fühle ich die Schmerzen im linken Knie schon gar nicht mehr.



Geradeaus zum Aprica-Pass. Noch bin ich ganz guter Dinge.

In einem der Tunnel lasse ich mir noch Gel geben. Irgendwie ein verzweifelter Versuch, der Lage Herr zu werden. Nur wenige hundert Meter später mache ich die Funkdurchsage: „Ich habe extreme Knieschmerzen … Jungs, das wird heute nicht mehr lange gehen …“ Fassungsloses Rauschen im Äther. Erst einige Sekunden später: „Wirklich so schlimm? Pause?“

Ich willige ein. Etwas ratlos stehen wir alle da. Mitten im Anstieg. Haltebucht. Keine Salbe, schon kein Schmerzmittel wird mir helfen können, soviel ist klar. Knieschmerzen kann man nicht weg-betäuben. Knie sind essenziell. Gerade beim Radsport. Was nützt betäuben, wenn dann – schmerzlos zwar – das Ruinieren weiter geht?

Ich falle seit Edolo in ein Loch. Dumpf pocht Aufgabe in meinem Hinterkopf, ohnmächtig, fast nicht in der Lage zu sprechen, sehe ich das Unvermeidliche kommen. Ich fluche. Ich haue auf meinen Lenker. „Scheiße!“ und immer wieder „Scheiße!“. Heiß durchströmt es mich. 

Aufgeben
Wie ich diesen Wort hasse!

Das darf doch nicht wahr sein?! Bis hier her läuft doch alles prima: Ich habe keine Krämpfe, keine Muskelschmerzen, spüre zwar die Anstrengung, fühle mich aber noch fit. Ich habe keine Sitzbeschwerden, keine Seitenstechen – nichts! Wunderbar: Noch könnte ich das Zeitlimit in Tirano einhalten. Und doch weiß ich es längst: Mit diesen Knien. Undenkbar.

10, 15, 20 Minuten stehen wir da. Mein Team ist machtlos. Bleiche Gesichter. Ich stütze meine Helm in die Hände. Kann nur noch den Kopf schütteln. Hinten schaut Martin auf seine Uhr, er versucht das so zu machen, dass ich es nicht sehe. 

Irgendwann spreche ich es dann aus: „Ich muss aufhören.“

Fassungslos.

Ehrensache

Es stehen 3.800 Höhenmeter und 160 Kilometer auf dem Garmin. Ehrensache, dass ich noch zur Passhöhe nach Aprica fahre. Langsam. Martin sagt es durch: „Das Zeitlimit ist in 30 Minuten. Und noch 20 Kilometer.“ Theoretisch wäre das mit der der steilen Abfahrt vielleicht noch zu machen, der Veranstalter meinte, wer 15 Minuten nach dem Limit reinkommt, kann trotzdem noch weitermachen.

Aber ich stoppe hinter der Passmarke.

Klicke aus.

That´s it. Ende. Aus. Selbst beim Ausklicken aus den Cleats durchfährt mich ein stechender Schmerz. Wozu sich noch in die Abfahrt stürzen? Wozu das Zeitlimit einhalten, wenn doch der nächste Berg kein geringerer als der Mortirolo ist? 1.400 Höhenmeter auf 15 Kilometer mit 12 % Steigung im Schnitt. Im Schnitt! In den Spitzen bietet er bis zu 22 %.

Schon mit intakten Knien nach 4.000 Höhenmetern eine Tortur.
Undenkbar in meinem Zustand.

Flow hat mittlerweile über eine Stunde Rückstand. Er ist längst schon aus dem offiziellen Rennen geflogen: Wer bis 21:00 Uhr nicht in Tirano ist, muss den schnellsten Weg via Bernina-Pass nach Nauders nehmen. So das Reglement.

Ich rufe bei der Rennleitung an und gebe mein DNF durch. Gernot Weinig ist hörbar berührt, meint sofort, dass die Knie zu wichtig sind, als den Helden zu spielen. Helfen tut das gegen meine bittere Enttäuschung allerdings nicht.

Dann rufe ich meine Freundin an. Sie hatte sich die ganze Zeit Sorgen gemacht, erwartet meinen Anruf nicht so früh, ihre Stimme zittert, sie denkt, mir sei etwas passiert. Als sie versteht, was los ist, höre ich Tränen in ihrer Stimme. Und unendliche Erleichterung.

Ich fühle mich nur noch leer. Schäme mich für die ganzen tollen Aufkleber am Teamfahrzeug, will nur schnell meine Rennradklamotten ausziehen – Race across the Alps, diese Fragen der interessierten Passanten will ich nicht mehr beantworten. Ich bin raus.

Keine 10 Minuten, nachdem wir rechts ranfahren und aufgeben, passiert uns Daniel Rubisoier. Er ist bereits über den Mortirolo und hat nun die zweite Aprica-Passage beendet. Krass! Zwei Berge Vorsprung. Weltklasse. Er schießt locker tretend an uns vorbei. Ein Wahnsinnstyp! Er wird das diesjährige RATA wieder gewinnen – Herzlichen Glückwunsch, Daniel!

Einige andere Fahrer folgen, unter anderem auch die, die hinter mir waren. Und das sind gar nicht so wenige. Ich lag also noch ganz gut im Rennen, von der Perspektive meiner absoluten sportlichen Unzulänglichkeit für dieses Rennen aus betrachtet.
Nur: Die können weiterfahren. Ich nicht.

Ich bin der vierte, der sein DNF bekannt gibt.

Florian kommt: Out of Race, aber es geht weiter!

Wir fahren noch nicht gleich ab. Ich selbst lasse mich auf den noch warmen Bordstein sinken. Fassungslos, leer und enttäuscht. „Da kann man nichts machen.“, sagen alle. Recht haben sie. Und doch: Ich bin untröstlich. 

Beim Saisonhöhepunkt, für den ich so viel trainiert habe, für den ich so viel in Kauf genommen habe, schon am dritten Berg auszusteigen, das ist keine gute Quote. Alles Herumrechnen bringt nichts: 165 von 534 Kilometern – das ist knapp ein Drittel des RATA. „30 Prozent – ist doch ganz okay.“, sagt Benji. „Und immerhin alles noch im Limit!“ 



Ist es nicht. Vor zwei Wochen noch locker vom Hocker Mailand-Sanremo gefahren, keine Beschwerden, nichts – und jetzt nach der Dreiländergiro-Distanz aufgeben müssen. Schlimm!

3.950 von 14.500 Höhenmetern gefahren – das sind 27 Prozent des RATA. „Auch knapp ein Drittel.“, sagt Martin. Und doch: Nicht einmal die Höhe des Ötztaler Radmarathons geschafft.

Ich bin einfach nur enttäuscht.

Nach knapp 50 Minuten trifft das Begleitfahrzeug von Flow ein und bereitet alles für dessen Passpause vor. Angela steigt aus: „Ich war ganz geschockt, als ich das gelesen habe.“, sagt sie. Auch das tröstet nicht.

Wir shiften einiges Material, das mein Team nun nicht mehr braucht, für Florian um, ich gebe noch eine Runde Koffeintabletten aus, dann, nach 1:20 Stunde kommt Flow rein. Er sieht ganz gut aus – verschwitzt, aber keine Spur mehr von Erkältung und Kopfschmerzen, die ihm noch vor zwei Tagen so zugesetzt hatten, dass seine ganze Teilnahme auf der Kippe stand.

Ich beneide ihn. 
Beneide ihn so dermaßen wahnsinnig! 

Nicht unbedingt darum, dass er jetzt in völliger Dunkelheit die Aprica-Abfahrt und bei 7, 8 Grad Bibberkälte die 40 Kilometer Aufstieg auf den Bernina-Pass machen muss (die Mortirolo-Runde lassen sie aus), sondern dass er weitermachen kann.

Mein Kameramann wird nun beim Flow-Team mitfahren, sie werden die Bilder ihres Lebens bekommen. Flow wird – zwar außerhalb der offiziellen Wertung da weit hinter der Karenz und mit verkürzter Strecke, aber immerhin – den Berninapass fahren, sich den Albula hochkämpfen und auch noch den Flüela schaffen.

Er wird dann das Endstück des Dreiländergiro ab Scuol durchs Engadin zur Norderbertshöhe fahren, um nach 380 Kilometern und wahnsinnigen 9.000 Höhenmetern in Nauders einzureiten.

Ein harter Hund! Hut ab und auch Dir einen Herzlichen Glückwunsch zu dieser Wahnsinnsleistung!

Race across the Alps – was bleibt?

Viele haben geunkt und hatten „tolle“ Tipps für mich, als ich das RATA in meinem Rennkalender veröffentlicht habe. Leute, ich bin nicht doof: Mir war klar, dass ich dieses Rennen nicht schaffen kann. Meine Prognose war "um und bei der Flow-Distanz", außer, dass ich mir erhofft hatte, noch den Mortirolo fahren zu können.

Wir hatten – dank unseres Teamsponsors SunClass Solarmodule – die Chance, am RATA teilzunehmen. Hier mitzumachen. In diese sonderbare, überraschend familiäre Ultrasport-Szene reinzuschnüffeln und uns mit den Besten der Besten vergleichen („messen“ will ich das nicht nennen) zu können. Und wir haben diese Chance genützt.


Im unteren Teil des Aprica - ich versuche, mich zusammenzureißen.

Wie sagte Flow bei der Startervorstellung: „Wir sind hier, um dieses Projekt mit einem Schmunzeln anzugehen.“ Und das trifft es: Als norddeutscher Flachländler mit gerade mal 40.000 Höhenmetern und knapp 3.500 Kilometern in den Beinen war mein Trainingsstand nichts, im Vergleich zu einem Daniel Rubisoier, der mit 130.000 Höhenmetern an den Start gegangen ist. (Über mein RATA-Training werde ich noch gesondert bloggen)

Wenn man aber Kieselsteine im Knie rotieren spürt, dann werden Prioritäten schnell verschoben. Ich habe noch die Haute Route vor mir. Die ist in knapp 7 Wochen – und mit Hinblick auf dieses Etappenrennen mit auch immerhin 870 Kilometern und ca. 21.000 Höhenmetern war die Entscheidung, rational gesehen, sehr schnell und einfach zu treffen.

Emotional? Eine einzige, grandiose Scheiße!

Das RATA ist wirklich das härteste Eintagesrennen der Welt. Bisher bin ich bei so einigen „härtesten“, „schnellsten“, „längsten“ oder „größten“ Events gestartet – und fast alles war immer irgendwie machbar.
Adjektive und Superlative, die gern als Marketing-Beiwerk genutzt werden, um Anmeldungen zu generieren. 

Aber der Beiname des Race across the Alps ist wirklich alles andere als übertrieben.


Frische Flaschen und Gel können das Unvermeidbare nicht aufhalten.

Wenn ich mir – anhand der Leistung von Flow gemessen – noch halbwegs vorstellen könnte, die RATA-Distanz und auch die Höhenmeter irgendwie bewältigen zu können, so sind die vorgegebenen Zeitlimits wiederum dermaßen krass, dass es genau diese Karenzzeiten sind, die das RATA (für die allermeisten Radsportler) zu einem Ding der Unmöglichkeit machen.

Ich war superflott unterwegs, hatte bis zum Aprica alles richtig gemacht: Viel getrunken, immer gegessen, nie kalt geworden und mit weniger als 50 Minuten von 9 Stunden wirklich minimalste Standzeiten gehabt. 

Und doch war ich schon bei der ersten (von drei) Karenzzeiten so knapp dran, dass ich spätestens bei der zweiten Karenzzeit sicher aus der Wertung gefallen wäre. Unglaublich, welche Anforderungen das RATA an die Kletter-Speed stellt!

Dass es möglich ist, Strecke und Höhenmeter zu meistern, hat Flow super bewiesen: Ich denke, er wollte von Anfang an nicht „rennkonform“ fahren, denn sonst hätte er auf dem Gavia keine 40 Minuten-Pause und auf dem Aprica keine 50 Minuten-Pause eingelegt. Ihm ging es um die Strecke und das Machbare. In diesem Sinne hat er sein RATA gemeistert.

Ich wollte wissen, wie es ist, nach den Regeln zu fahren. Und die sind mörderisch.

Am Ende, mit nun einigen Tagen Abstand, bin ich doch eigentlich recht zufrieden. Die Enttäuschung über mein Ausscheiden hat sich etwas gelegt. Ich war für alle möglichen Schmerzen und Wehwehchen gerüstet und willens, diese zu ertragen. Aber beim Knie mit Kieselsteinschmerzen hört der Spaß auf. Und damit arrangiere ich mich langsam.


Mitten im Aprica - die Schmerzen sind unerträglich.

Im Rückblick beginnt meine Freude darüber zu überwiegen, dass alles super lief, als das Knie noch mitgemacht hatte, ich sogar vor einigen Mitfahrern (zwar am Ende der Wertung, aber immerhin nicht als Letzter) gefahren bin und muskulär, konditionell und motivationsmäßig alles im grünen Bereich war. 

Die Stunde Vorsprung muss man auch erst einmal rausfahren. Wer weiß, wenn das nicht gewesen wäre, Bernina, Albula, vielleicht Flüela … erscheinen auch jetzt im Rückblick noch machbar, wenn auch außerhalb der Karenzzeiten.

Ich habe diese Ultrasport-Szene als sympathisch, freundlich, hilfsbereit, familiär erfahren. Alle gehen respektvoll und brüderlich miteinander um, auch auf der Strecke applaudiert und motiviert man andere Mitfahrer, fremde Teamfahrzeuge bieten wie selbstverständlich Hilfe an: Kontrastprogramm zur Jedermannszene, und das im positivsten Sinne.

Es war mir eine absolute Freude, beim Race Across the Alps 2013, bei der 13ten Auflage (ein Omen?) für ewig in den Starterlisten zu stehen, eine besondere Freude, mit RATA-Legenden wie Paul Lindner (leider DNF), Michael Kinberger oder Daniel Rubisoier gesprochen zu haben. Ein Event, das ich nie vergessen werde.


"Aufgabe" - es ist ausgesprochen. Ich könnte heulen.

Im Ziel am nächsten Morgen treffen wir einen Betreuer aus dem Team um Rainer Steinberger. Er war es, der auf der Gavia-Abfahrt mit dem Motorrad kollidierte und stürzte, und wenig später in Edolo in die geöffnete Autotür prallte und noch ein zweites Mal stürzte.

Steinberger belegt mit 22:39 Stunden den zweiten Platz des RATA …

Auch wenn es ein „Unvollendetes“ für mich bleibt, eines, das ist sicher: Das Wiederholungstäter-Virus wird mich nicht infizieren. Das RATA ist nicht nur einige Nummern, sondern ganze Welten zu groß für mich. "Schaffen" kann ich dieses Rennen nie.

Am Ende möchte ich mich noch einmal ganz herzlich bei meinem Betreuerteam Benjamin und Martin bedanken – Ihr seid eine Supercrew! Habt alles immer richtig gemacht, mich motiviert, getragen und versorgt. Wir finden sicher noch Herausforderungen, bei denen Ihr, wenn Ihr Bock habt, wieder Euer Bestes geben, und dann auch mit mir finishen könnt!

Epilog

Paul Lindner, Rekord-Teilnehmer und mehrmaliger RATA-Gewinner muss aufgeben.
Sabine Fernitz, die Dame, mit der ich am Stelvio gefahren bin und die am Gavia aufs Mountainbike gewechselt ist, wird ebenfalls aufgeben.

Von 49 Startern werden beim Race Across the Alps 2013 insgesamt 17 als DNF gewertet.

Ausfallquote 34 %.

Ungewöhnlich hoch, wie mir Organisator Gernot Wenig später im Ziel sagt: "Zu heiß. Zu windig."

Der letzte Finisher kommt nach exakt 33 Stunden ins Ziel.


Ich bin einfach nur todtraurig.

Florian wird - vollkommen elektrisiert aber bis auf die Knochen fertig - das RATA nach Bernina, Albula und Flüela über das Engadin und Norbertshöhe kommend nach 28 Stunden Brutto beenden. Ausnahmsweise darf er auch durchs Ziel fahren: Sein Lohn für diesen außergewöhnlichen 9.000 Höhenmeter-Trip.

Ich beglückwünsche ihn. Kann mich für ihn und sein Team freuen. 
Und doch: Ich bin so neidisch. So enttäuscht. So untröstlich!

Am Montag sitze ich beim Orthopäden. Meine Knieschmerzen rühren von einer Sehnen-Prellung her, die von einem "eingekapselten Bluterguss" unter der Haut verschlimmert wurde (drückte auf Nerven). "Anscheinend haben Sie sich irgendwo gestoßen.", sagt der Arzt.  Tatsächlich haben wir uns in der engen Ferienwohnung zu Hauf irgendwo gerammelt ... Es wird einige Tage brauchen, bis das vollständig verheilt ist. Gottseidank ohne Folgeschäden.

Das RATA  ich leider abhaken.

Doch schon lockt die Haute Route.

Diesmal ohne Tischkanten.

Dafür mit Finish.

Nachtrag, 3.7.2013

Hochmut komm vor dem Fall, und so erreicht uns eine schlimme Nachricht aus Nauders, sodass unser Team leider reagieren musste. Hier geht es zur Erklärung. Ich persönlich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das wütend und sprachlos macht, wie enttäuscht ich bin, über so viel Schamlosigkeit.



Hier geht es zu meinen Garmin-Daten des RATA 2013 bis DNF.
Hier die Rangliste der Finisher und alle DNF

24. Juni 2013

Im Test - der Rennradkoffer Bike-Case von B&W International

Die Rennrad-Saison ist in vollem Gange und ich habe auch 2013 das Glück, bei vielen exklusiven Rennen starten zu dürfen - unserem Sponsor SunClass Solarmodule sei Dank!

Bisher reise ich 2012 und 2013 mit der massiven Bike Box von B&W International, einem deutschen Unternehmen, das in Ibbenbüren ansässig ist. Dieser Koffer hat schon über 20 Flüge überstanden - ist schon äußerlich etwas lädiert, etwa durch die gewaltsame Öffnung der U.S. amerikanischen Sicherheitsbehörden beim Gran Fondo New York, funktioniert aber noch absolut tadellos.

Eine Nummer größer - das Bike Case von B&W International

Vor einigen Wochen bekomme ich das Bike Case geliefert: Die Profi-Klasse im Angebot des Unternehmens.


Das Bike Case von B&W International. Profi-Koffer für Rennradtransporte.

Dieser Koffer ist um etwa 20 Zentimeter länger, rund 10 Zentimeter höher und 5 bis 8 Zentimeter breiter, als sein Vorgänger. Im Inneren viel mehr Platz, denn nun passt hier das Rennrad hinein, ohne dass man es umständlich demontieren müsste: Habe ich beim Bike Case noch Pedale, Schaltwerk und Lenker abnehmen müssen, ist das nun nicht mehr nötig. (Hier der ausführliche Blog-Post zur Bike-Box)

Schnellstes Verpacken mit minimalstem Montageaufwand.

Möglich macht das ein Alu-Gestell, auf dem man nun ganz einfach per Schnellspanner das Rennrad fixieren kann:


Genial: Auf dieses Gestell kommt das Rennrad.

Ich nehme die Achsen aus den Laufrädern, stecke sie in das Gestell, fixiere sie und schon steht das Rennrad sicher. Den Lenker muss ich nur auf 90 Grad stellen - keine Demontage mehr notwendig. Auch das Schaltwerk kann am Rennrad montiert bleiben.

Lediglich den Sattel samt Sattelstütze muss ich nun noch entfernen: Das kommt auch dem Rennrad zugute, denn eines muss ich schon sagen: Das viele Auf- und Abbauen bekommt dem Carbon auf Dauer nicht wirklich.


Kein Schlackern mehr: Unverrückbar sicher fixiert.

Nun nimmt man das Rennrad samt Gestell und legt es in die Kofferschale. Wer will, kann jetzt noch mit einer Decke das empfindliche Carbon vor Kratzern (durch herumfliegende Flaschen oder anderes Equipment, das nun noch massig Platz im Koffer hat), schützen.

Ich ziehe eine Plastiktüte über Kurbelblätter und Schaltwerk, hülle das Rennrad in eine Kuscheldecke ein und - fertig! Keine 5 Minuten dauert das Verpacken des Rahmens.


Minimaler De-/Montage-Aufwand: Das Rennrad dankt es!

Für die Laufräder sind bei B&W wieder zwei gepolsterte Laufradtaschen enthalten. Diese kann man an einer Kofferseite mit zwei Schnallen fixieren - that´s it!

Viel Platz!

Nun habe ich noch so viel Stauraum, dass ich hier bequem Luftpumpe, Flaschen, Helm und andere Utensilien verstauen kann. (Oft gab es beim Einchecken Ärger mit der Luftpumpe).

Der Koffer ist so groß, dass selbst Zeitfahrmaschinen mit längstem Radstand und die größten Rahmengrößen in diesem Koffer bequem Platz finden.
Ein perfekter Reisebegleiter also.

Mehr Sicherheit - die Zugschlösser

Besonders erfreut bin ich über die Schlösser: Während die vier Schnappschlösser an der Bike Box doch eher dekorativen Charakter besitzen und weder einem Schraubenzieher noch einiger Gewalteinwirkung standhalten können, stattet B&W das Bike Case an den Seiten mit zwei Zugschlössern aus:


Viel sicherer: Die Zugschlösser mit Flügelschrauben.

Diese verhaken sich in der Kofferschale. Eine Flügelschraube dreht dann das Schloss fest zu. Wer mag, kann die Flügelschrauben nun festbinden oder mit einem kleinen Vorhängeschloss versehen - empfohlen ist aber (gerade auf Flügen in die Nicht-EU), den Koffer offen zu lassen, damit die Security ihn nicht zerstören muss, um hineinzuschauen, wenn sie das WD40 auf dem Screen nicht erkennen können.

Der Preis des Ganzen

All diese Vorteile - ergänzt zum Beispiel durch ein fünftes Laufrad des Koffers am Boden in der Mitte - haben natürlich ihren Preis.

Zunächst ist das Bike Case viel sperriger als die Bike-Box. Das Ding alleine aus dem vierten Stock zu wuchten, ist Wahnsinn. Aber machbar. In ein normales Taxi zum Airport passt es dann nur, wenn es sich um einen Kombi mit umklappbarer Rücksitzbank handelt. Die Bike-Box konnte ich noch im Polo transportieren ...

Schwerer ist das alles auch, deshalb achtet darauf, dass ihr nicht die Freigepäckgrenzen überschreitet.



Qualität hat ihren Preis.

Die Kosten liegen bei um die 400 € für das Bike Case, je nach Anbieter. Angemessen, wie ich finde, dennoch fast doppelt so viel wie bei der Bike Box.

Doch diese Nachteile wiegt das Plus an Komfort für den Auf- und Abbauer, das Plus an weniger Verschleiß durch De-/Montage-Arbeiten für das Rennrad und das Plus an Sicherheit mehr als auf.

Wer viel mit dem Rennrad im Flugzeug verreisen muss, für den sicher eine noch immer preiswerte Alternative zum Beispiel zu den italienischen Profimodellen von SciCon.


Hier geht es zur Hersteller-Website von B&W International.

13. Juni 2013

Gran Fondo Mailand-Sanremo - mein Rennbericht.

Was ist Kult? Ein in unserer durch Marketingstrategen und RTL 2-Geschädigte sehr überstrapaziertes Wort. "Kultig" - das ist ein Wort, das Ü30-Party-Gänger zu oft benutzen, inflationär, fast schon Garant für genau das Gegenteil: Kommerz und Niveaulosigkeit.

Und doch, machten wir uns davon frei, sollten wir dem Klassiker des Radsportkalenders ein Adjektiv verpassen, dann wäre "kultig" für Mailand-Sanremo sicher eine angebrachte Bezeichnung. "Legendär" ginge auch noch.

Wer nach fast 300 Kilometern in Sanremo angelangt ist, der hat es wirklich geschafft: Mailand-Sanremo bezwungen. Eines der großen Radsport-Monumente. Und nun auch ich.


Allerdings: Bevor ich die Palmen der italienischen Riviera - und später nach Weiterfahrt in unser Hotel - der französischen Cote d´Azur genießen kann, die Brise des makellosen Himmels auf meiner Haut spüren und dem sanften Wellenschlag des Mittelmeeres lauschen werde können, steht ein Rennrad-Klassiker auf dem Programm, der sich gewaschsen hat.

Gran Fondo Milano-Sanremo - die Renndaten

295 Kilometer. Das ist die Distanz, die wir zu überbrücken haben.
Laut Veranstalter stehen Berge und Hügel mit insgesamt 2.200 Höhenmetern im Weg - am Ende wird mir Garmin 1.880 Höhenmeter bescheinigen. Darunter der Turchino-Pass, nach dessen Überquerung man direkt auf die Küste und das (hoffentlich) türkisblaue Meer zuschießt, dann die Wellen entlang der Küstenstraße (Wind, Wind, Wind!) und kurz vor dem Ziel lauern noch Cipressa und Poggio, die legendären Berge.


Als wir uns gegen 6:30 Uhr am Startort des Gran Fondo Mailand-Sanremo einfinden, herrscht schon Hochbetrieb. Es sind 1.400 Startnummern vergeben (nicht viel für so ein Prestige trächtiges Rennen, aber warum hier so wenige mitmachen, wird schon seine Gründe haben ...), knapp 1.100 Starter wird das Feld groß sein.

880 von ihnen werden später in den Finisher-Listen zu finden sein: Eine DNF-Quote von 20 Prozent.

Wer von diesen Jungs und Damen wird durchkommen? Wer wird aufgeben? Wen werden technische Probleme in den Besenwagen spülen? Und wer wird durch Sturz in einer Ambulanz landen?


Viel habe ich gelesen über dieses Rennen. Jahre zurück datierte Berichte und Blogbeiträge gewälzt. Von "Regenschlachten" ist da die Rede, von einem der "schnellsten Rennen des italienischen Kalenders", von einer "Materialschlacht der ambitionierten Cicloamatori", die dieses Rennen unbedingt gewinnen wollen.

Horrorszenarien durchträume ich im Hotel in der Nacht zum Start: Wer aus dem Peloton, das in der Anfangsphase kaum mal unter 45 km/h fahren wird, fällt, für den wird keine Kreuzung und keine Ampel mehr gesichert. Der muss alleine 300 Kilometer in dichtem Verkehr bewältigen.

Von Beschleunigungsarien, von Massencrashs und schlechter Verpflegung. Manchmal mag ich mich nicht, dass ich mich immer so dezidiert vorbereiten muss ...


Kann das sein? Kann das stimmen?

Alles hilft nichts, als wir uns im letzten Viertel des Starterfeldes einreihen, uns klar machen, vorne auf Italienisch der Countdown heruntergebrüllt wird und dann endlich der Startschuss fällt. Nun geht es also los - Mailand-San Remo, der Klassiker, das Kultrennen, auf den Spuren von Erik Zabel und Mario Cipollini.

Und wir mittendrin. Wir, das ist mal wieder Flow (für uns beide wird es ein Langstrecken-Test mit Blick auf das anstehende Race Across the Alps), Ines Hinrichs und Robert Müller, Sportlicher Leiter der RG UNI Hamburg. Wir fahren wieder im Solartrikot der SunClass Solarmodule.


Langsam schieben wir uns zum Start. Das zirpende Piepen der Transpondermatte, die den Leuten die Abnahme ihres Signals bekannt gibt, kommt immer näher. Mein Puls ist auf 180. Vorn ist Flow schon dabei, sich durchzudrängeln, auch Ines und Robert kommen besser durchs Gedränge - ich lasse es mal locker angehen.

07:07 - Start in Mailand

Der Startort ist irgendwo in einem an einer Autobahnausfahrt gelegenen Einkaufszentrum vor dem NH-Hotel. Nicht die Scala, kein Flair oder Charme, dafür kaum Kurven, um aus der Stadt zu kommen. Kaum habe ich die Matten überquert, ziehen sie an. Wir kurven ein wenig, um aus dem Gewerbegebiet zu manövrieren, dann das Ortsausgangsschild, eine breite Straße - das Rennen geht los!


Oben ziehen graue Wolken den Himmel zu - gestern noch 30 Grad und Wüstensonne gehabt - heute eher 14 Grad und Wolken. Sind das etwa Nieseltropfen auf meiner Sonnenbrille?

07:18 Uhr - German Cycling Cup, oder wie?

Die Blogschreiber hatten Recht, gestehe ich mir atemlos ein, schaue auf mein Garmin - dort stehen 47 km/h. Wir ballern durch die Kante, dass mir schon wenige Minuten nach dem Start die Seiten anfangen zu stechen. Alter Verwalter! Ist das hier das Feld der Neuseen-Classics? Die rasen, als hätten wir nur 120 Kilometer vor uns!

Meine Beine wirbeln, ich komme mit dem Hochschalten kaum hinterher, muss hart fahren, meine Position behaupten - hohe Dynamik im Feld - trotz dieser Speed versuchen viele auch weiterhin, Positionen gut zu machen.


Wir sind in einem kompakten Feld, ich schätze, 250 bis 300 Mann stark. Vorn fährt ein Motorrad mit Warnblink, das den Gegenverkehr zum Rechtsfahren auffordert. Das sängende Geräusch hunderter Freiläufe schnarrt hart durch die Getreidefelder, wenn wir es mal rollen lassen - nur, um vor Roundabouts hart zu bremsen.

Dann brüllen sie ihr "Occhio!" herum, hinter mir kracht es - einer fliegt raus - ich versuche, rechts-links heil zu überstehen, geschafft, einem Anderen ausweichen, dann aus dem Sattel, hart reintreten, dranbleiben!

Heiß schon pruste ich Atemluft aus meinen Lungen, sauge den Sauerstoff ein - unfassbar, wie schnell und hart die hier fahren! Oder ist das nur die Anfangsphase?

07:35 Uhr - Gruppenflug

Irgendwann - der Niesel ist in einen leichten Regen übergegangen - sehe ich vorn unser Solartrikot, schließe auf und setze mich neben Robert. "Na ... Rob ...", rufe ich: "Alles klar?"
Er schaut nur kurz rechts, nickt: "Ja ... ganz ... schön ... krass!"
Oh ja, das ist es!


Der Kurs führt uns ziemlich genau nach Süden - Voghera und Novi Ligure sind die ersten größeren Städte auf unserer Reise. Doch genau kann ich darauf nicht achten: Die Straße, auf der wir bolzen, ist oftmals nicht als solche zu bezeichnen. Schlaglöcher und Dehnungsrisse zwingen uns auszuweichen. Schwierig, wenn man mit 45, manchmal über 50 km/h dicht an dicht im Windschattenfeld fährt - viele reagieren zu spät: Ich sehe alle 15 Minuten jemandem am Straßenrand einen Schlauch wechseln.

Öfter auch ereignen sich Stürze: Gerade an den Roundabouts, oft mitten im Verkehr, sprinten einige, als ginge es um den Sieg des Rennens, andere wissen nicht, ob links oder rechts herum, ein kleiner Schlenker, eine Welle - und sie liegen.

08:01 Uhr - Regen!

Bisher sind alle Berichte und Gerüchte, die ich über MSR gehört habe, wahr: Hartes Tempo, großes Gebolze, Unruhe und Stürze, schlechte Straßen und Löcher.

Mit dem Wetter schienen wir Glück gehabt zu haben: Das Bissel Niesel ist zu ertragen, fast alle im Feld fahren kurz/kurz.

Doch dann kommt es anders: Petrus öffnet seine Himmelspforten.


Kaum haben wir den Po überquert, wird aus dem sanften Streicheln einiger kleiner, weicher Nieseltropfen das harte Pochen dicker Tropfen. Nur wenige Sekunden später prasselt ein ausgewachsener Starkregen auf uns ein.

In wenigen Sekunden bin ich komplett durchgeweicht, auf meiner Brille steht das Wasser, gansuso, wie es auf der Straße steht. Zigfach spritzt mir literweise die Gischt der Vorausfahrenden ins Gesicht, es knirscht, wenn ich meinen Mund bewege.

Sicht? Null.
Sicherheit? Bremswege? Null.
Fährt das Feld vorsichtiger? Nö.


Unbeeindruckt vom Wetter wird gebolzt, als gäbe es wieder Gold im Klondyke. Wir fliegen um die Kreisverkehre, als gäbe es kein Morgen, die Antritte nach Abbremsen sind hart, wie eh und je.

Ich muss mich so fest konzentrieren, dass ich lange vergesse, zu trinken oder zu essen. Jetzt, da es nass ist (zeitweise steht ein, zwei Zentimeter Wasser auf dem Asphalt), wird jedes einzelne Manöver, jede Lenkbewegung und jeder Bremsvorgang zum Risiko. Jeder meiner Vorausfahrenden, meiner Nachbarn, wird zum potenziellen Unfallverursacher.

Krass! Immer wieder krass, denke ich mir, beiße die Zähne zusammen, spucke die Melange aus Regenspritz, Dreck und Spucke aus und verkrampfe mich im Steuerhorn meines Rennrad-Lenkers.


So geht das Kilometer lang. Es regnet und pladdert in einer Tour auf uns nieder. Wenigstens einen Vorteil hat es: Es herrscht ein wenig Ruhe im Feld. Italienische Radsportler können ja bis 65 km/h und 18% Steigung noch lauthals schnattern. Bei Regen schweigen sie anscheinend.

08:11 Uhr - Regenschlacht

Noch immer polken wir mit unveränderter Speed über stehendes Gewässer. Unten sind meine Radschuhe dermaßen vollgelaufen, dass es bei jeder Kurbelumdrehung nur noch manscht.
Neben mir taucht Rob ab und zu auf, lässt sich nach hinten fallen, holt auf - kurzzeitig fährt er ganz vor und zieht auch mal das Feld. Diesen Spaß gönne ich ihm - mir ist das alles dann doch ein bisschen nicht ganz geheuer, ich bleibe erstmal im vorderen Drittel.


Die Passage durch Voghera bekomme ich kaum mit, außer, dass innerhalb der Kommunen der Straßenbelag noch schlechter wird, als außerhalb. Wir umfahren die Stadt auf einer Ringstraße, die wir nördlich kurzzeitig neben der A21 abreiten.

Mir scheint, als fahren die Autofahrer dort vorsichtiger. Langsamer irgendwie ...

Rob kommt wieder zu mir: "Ines ist weiter hinten, 20, 30 Positionen.", meint er. Ah, gut, denke ich - fast das ganze Team zusammen. Florian will mal wieder den Bolzer rauslassen - immerhin hat er seine Tria-Aufsätze unter unserem Spötteln - montiert. Er wird sich vorn durchs Feld arbeiten, wir vermuten ihn eine größere Gruppe vor uns.


Voghera liegt hinter uns - die ersten 60 Kilometer sind im Sack. Ich schaue auf mein Garmin, nachdem ich die Regentropfen beseitigt habe, kann ich erkennen, dass wir noch immer zwischen 38 und 40 km/h auf dem Tacho haben, ungeachtet des Wetters, der Umstände.

Ich zwinge mir mein erstes Gel rein, esse zwei Bananen, die ich mir unter die Hosenbeine gesteckt hatte und einen Riegel. Ich trinke hastig - sauge den Straßenschmutz mit einer, der durch das Spritzwasser an den Flaschen klebt: Mir egal.

08:37 Uhr - Tortur in Tortona

Wir umfahren Tortona in Richtung Novi Ligure, als wir auf eine Art Autobahnauffahrt müssen. Eine lang gezogene Rechtskurve. Bergan. Das Feld zieht sich auseinander, die Fahrbahn wird schmaler. Alles geht aus dem Sattel, Wiegetritt. Lange Kurve, "Occhio" allenthalben, einer am Straßenrand flickt mal wieder, dann überqueren wir die A7, kurzzeitig genau neben der Autobahn, Posten winken, wilde Rufe, hartes Bremsen - einer liegt zusammen gekrümmt zwischen unserer Fahrbahn und Autobahn, blutet, schmerzverzerrtes Gesicht - ein Krankenwagen kommt gerade an.


Egal, weiter. Ich schüttle meinen Kopf: Krass, mit wie viel Risiko die hier fahren. Und wir sind noch nicht einmal das erste Feld. Eher das dritte, vierte vielleicht. Sicher - da vorn geht es um richtig viel Preisgeld - 7.000 € bekommt der Sieger, wenn ich richtig gelesen habe. Aber dafür seine Gesundheit ruinieren? Das Rad mit? Andere gefährden?

Die Sonne kommt hinter uns heraus. Ah, Wetterbesserung in Sicht.
Trotzdem regnet es erst einmal weiter.


Kurz hinter Novi Ligure - wir haben nun 95 Kilometer in den Beinen - geht es langsam aber merklich bergan. Ich kann hinten auch die ersten Gipfel erkennen: Nicht mehr weit, dann wird es hinter Ovada in den Turchino-Pass gehen.

Robert neben mir: "Ich muss unbedingt anhalten bei der Verpflegung, habe kein Wasser mehr!", er sieht schon nicht mehr so gut aus. Na, ich muss auch anhalten - pinkeln!

09:40 Uhr - Ovada passiert, es wird grüner

Die Passage durch Ovada ist wie immer halsbrecherisch. Das Rennen hat noch nichts von seinem höllischen Anfangstempo verloren, außer, dass wir nun nicht mehr so oft die 40 km/h-Grenze durchbrechen, dafür stehen aber schon mal permanent 1 bis 2% Steigung auf meinem Garmin.


Es hat aufgehört zu regnen, der Fahrtwind trocknet die exponierten Stellen schnell ab, doch das unangenehme Gefühl in den vor Wasser stehenden Rennradschuhen bleibt.

Neben uns weicht die landwirtschaftliche Nutzung der Flächen - meist Getreide und Gurken - einer Weidelandschaft, Kuhherden und Schafe sehen wir immer öfter. Es wird grüner, angenehmer.
120 Kilometer sind im Kasten, ich habe eine Flasche komplett leer, esse meine letzte Banane und freue mich auf die Verpflegung.

10:20 Uhr - Erste Pause

Wir erreichen am Fuß des Turchino-Passes die erste Verpflegungsstation. Ich drücke die "Lap"-Taste am Garmin: 123,11 Kilometer, 3:19 Stunden und ein Schnitt von 37,1 km/h stehen da. Holla!

Etwa die Hälfte des Feldes hält an, viele fahren einfach weiter. Bei Mailand-Sanremo sind private Begleitfahrzeuge erlaubt und so lassen sich viele Teams und auch Einzelfahrer versorgen. Gern auch in voller Fahrt mitten im Feld, was immer sehr großes Occhio provoziert.

Ich springe vom Rad, pinkle in einen Busch, fülle die leere Flasche auf uns stopfe meine Hosenbeine mit abgepacktem Kuchen und Bananen voll, stecke mir zwei Orangenhäften in den Mund und springe wieder zurück aufs Rad: "Kurz stehen nur, Rob", rufe ich ihm zu und warte einige dutzend Meter hinter der Versorgung.

5 Minuten später winkt er von Weitem - los gehts!
Ich trete rein, drehe mich mehrmals um - wo bleibt er nur? Wir sind schon mitten im Anstieg, nur Robert schließt nicht auf. Ich bin noch auf dem großen Blatt, steil ist es noch nicht. Nur Rob kommt nicht ran. Ich entscheide: Eigenes Tempo weiter!


Der Passo del Turchino ist nicht hoch. Er ist nicht steil. Er ist nicht böse. Knapp 500 Höhenmeter, es geht selten über 10% und doch - nach diesem Kavallerieangriff der ersten drei Stunden ziept es ganz schön in den Waden, als es bergan geht.

10:40 Uhr - im Turchino

Die 38 Kilometer, die man vom ersten Berganstück bis zum Kamm braucht, werde ich in knapp 1:20 Stunde meistern.

Vor mir viele Einzelfahrer, die sich zu kleineren Gruppen zusammen schließen. Die Pausenstation hat unser großes Feld zerstäubt. Nun suchen sie sich wieder Verbündete, schauen, dass sie sich zu Gruppen zusammenschließen können. Denn nach diesem Pass lauert die windige Küste. Wohl dem, der dann eine Gruppe hat!


Ich selbst fahre den Pass locker. Bringe wenig Druck auf die Pedale - heute zählen keine Bergzeiten, heute will ich 300 Kilometer schaffen. Den unteren Teil des Turchino fahre ich auf dem großen Blatt. 20, 24 km/h hält man hier locker, dieser Pass zeigt heute nicht seine Zähne.

Erinnerungen an die Eurosport-Übertragung des Profirennens im Frühling dieses Jahres: Dichtes Schneetreiben, erfrierende, rotgezitterte Profis mit dicken Eisschichten auf den Helmen, Bustransfer über den Turchino.

Heute dürfen wir hier schwitzen.


Ich erreiche eine größere Gruppe bei Rossiglione, woe der Turchino "erst richtig anfängt". Alles wechselt auf die kleinen Blätter, schnell bin ich an der Spitze der etwa 20 Mann, lasse sie hinter mir. Und überlege: Lieber hier bleiben? In Sicherheit?

Aber ich denke mir, dass ich so lieber alleine in die lange Abfahrt gehe, als im Pulk. Einholen lassen kann ich mich ja immer noch.

Schöner, dichter, duftender Wald umgibt uns. Es ist still - hoch über uns bewältigt eine Autobahn den Verkehr. Außer immer wieder den Begleitfahrzeugen - vom T5 bis zum Caravan ist hier alles dabei - begegnen uns kaum Autos.


Irgendwann steht da: "Passo del Turchino - 5 km" und diese 5.000 Meter vergehen wie im Fluge. Ich drehe mich um: Vielleicht ist Rob rangekommen? Sehe aber niemanden. Oben auf dem Pass haben einige Rennrad-Fahrer angehalten, ziehen sich Windjacken über oder essen etwas.

Ich bin noch immer in kurz/kurz, trete über die Kuppe und gehe sofort in die Abfahrt. Noch schnell durch ein beeindruckendes Felsgewirr, dann taucht die Strecke unter mir ab.


Die Abfahrt ist ein einziger Traum. Kaum trete ich über den Kamm des Passes, erfasst mich schneller Gegenwind, ich schieße bergab, leichte Kurven - gut einsehbar - wenig Verkehr und ganz passabler Asphalt machen den Turchino-Down zu einem Genuss.

Für die 10 Kilometer Abfahrt werde ich etwa 15 Minuten benötigen. Ich kann noch zwei Einzelfahrer einholen, sogar drei, vier Autos auch. Und dann ... dann schieße ich aus dem Tal, Linkskurve, hart bremsen, Rechtskurve - und dann liegt es vor mir: Das Mittelmeer!

11:30 Uhr - an der Riviera

Bei Voltri schieße ich auf die Küstenstraße. Direkt vor mir das Blau der Riviera Ligurie, ein breiter Sandstrand, Sonnenschirme. Ein Traum. Ich muss breit grinsen.


Ich fahre einige Kilometer alleine, kann mich mit zwei Fahrern sammeln, bis wir einige Minuten später von hinten von einer etwa 5 Mann starken Gruppe aufgesammelt werden.

11:40 Uhr - Schussfahrt an der Küste

Wir haben Glück. Nachdem uns stundenlang der Regen gepeinigt hatte, war ich in Erwartung eines harten auflandigen Gegenwindes schon vorsorglich in Deckung gegangen. Doch nichts da: Petrus hat Erbarmen und so weht ein schwaches Lüftchen. Von hinten. Nicht übermäßig viel, dass der Wind uns schieben könnte, gerade so viel, dass man weiß, würde er von vorn kommen, es würde nerven.


Das Rennen ändert seinen Charakter. Die Straßenverhältnisse werden rauer. Dichter Verkehr, vor allem innerhalb der vielen Ortschaften, zwingt uns in die Zweierreihe. Zwar ist das Tempo - immerhin haben wir schon 162 Kilometer und einen Pass in den Beinen - noch immer mit rund 35 km/h recht hoch, aber da wir nur noch in einer kleinen Gruppe fahren, nicht mehr ganz so aggressiv.

Das ginge auch kaum: Von den Motorrädern, die anfangs für uns die Straßen gefegt haben, fehlt jetzt jede Spur. Wie sollten sie auch die nach dem Turchino nun wie an einer Perlenkette aufgereihten Einzelfahrer und Minigruppen betreuen?


Meine Beine fühlen sich erstaunlich frisch an. Mit Voltri und Arenzano passieren wir zwei größere Ortschaften. Unsere kleine Gruppe ist mittlerweile genug groß, um einen Verband zu bilden, für den die Italiener bereitwillig unser Überqueren der roten Ampeln tolerieren. Immer wieder stehen Menschen am Straßenrand, jubeln, applaudieren. Eine tolle Stimmung!

12:07 Uhr - Schock

Wir müssen kurz hinter Arenzano einen Felsen in Richtung Landesinnere umfahren. Zwei mal geht es einige Höhenmeter recht steil bergan, dann wieder an die Küste Richtung Gogoleto. Als wir den Ort erreichen, geht das alte Spiel los: Zweierreihe, dann Einerreihe. Neben uns rechts die Autos mit 30 km/h, wir überholen sie. Drücken uns in der Fahrbahnmitte zwischen ihnen und dem Gegenverkehr durch. Für rote Ampeln wird kaum gebremst.

Als wir kurz vor Ortsausgang beschleunigen, kommen wir an einer Ambulanz vorbei. Unter der Leitplanke liegt einer von uns. Mitten in einer 2 mal 2 Meter großen Blutlache.

Nur kurz fahren wir etwas langsamer. Dann hat uns das Rennfieber wieder.


Noch immer pocht mein Herz, wenn ich an das Bild denken muss. Schwerster Sturz, so viel Blut. Radsport, das ist immer Risiko. Stürze gesehen habe ich schon Dutzende. Verletzte auch. Immer mal wieder blutige Schenkel oder aufgeplatzte Ellenbogen. Noch nie aber einen offenen Kopf. Und so viel Blut.

Lange noch werden wir nach dem Rennen über die Aggressivität und die Unruhe dieses Granfondo Mailand-Sanremo sprechen: Flow wird mitangesehen haben, wie vor ihm einer in einen stehenden Transporter knallt, mit dem Gesicht durch die Heckscheibe fliegt.
Wenig später wird mitten im Feld einer stürzen, sich gerade noch so robbend an den Straßenrand vor dem heran rauschenden Feld retten können.

Als ich am Ende des Rennens über die Ziellienie komme, wird genau auf den Transpondermatten einer liegen und behandelt werden. Pazzo Bici - verrücktes Rennrad.

13:00 Uhr - Schiff in Sicht!

Wir erreichen Savona, die alte Hafenstadt, schießen um die Kurve und vor mir taucht der mächtige Stahlleib eines Kreuzfahrtschiffes auf.


Viel Zeit zum Gucken habe ich nicht, denn in meiner kleinen Gruppe gibt es weitaus weniger Ruhepausen durch komfortablen Windschatten, als noch am Anfang. Jeder muss mal in den Wind, auch ich beteilige mich an der Führungsarbeit - obschon, wenn ich führe, fällt die Speed auf 32, 33 km/h, führen die anderen, geht es um 1, 2 km/h rauf.

Vorbei am Dock, wir schlängeln uns an den Autos, Bussen, Caravans, Autospiegeln und Gullideckeln in halsbrecherischer Kuriermanier vorbei, dann aus der Stadt raus, gerade Strecke, kleiner Anstieg, Industriehafen, und schon wieder on Track.


Ich komme in einen Flow. Trete nur noch, lebe von Kurve zu Kurve. Das ist interessant: Solange wir nach Westen fahren, spüren wir den seichten Schub eines leichten Rückenwindes. Dreht die Strecke nach Süden ab, etwa, weil wir um einen Felsen zirkeln müssen, schreit uns massiver Gegenwind ins Gesicht, dann fühle ich den Luftdruck auf der Brust, werde abgebremst, alles schaltet runter, wir müssen uns reinlegen!

Dann, hinter der Kurve: Wieder alles gut. Das Meer glitzert lecker-blau, es rollt sich angenehm.


Heute habe ich zwei Hosen an. Unter meiner SunClass-Trägerhose die supergeile Castelli im Cervélo-Design. Das extrabreite Polster schneidet nicht im Schritt. Das dickere Polster hat mich bis jetzt vor sämtlichen Sitzbeschwerden bewahrt - immerhin bin ich schon 197 km und knapp 6 Stunden fast ununterbrochem im Sattel meines Rennrades.

Keine Sitzschmerzen also: Ich merke mir für das RATA, hier auch zwei Hosen anzuziehen.
Florian, der dieselbe Strategie fährt, wird meine Eindrücke bestätigen.


Schmerzen verspüre ich nur bei meinem alten Sorgenkind: Dem Nacken. Das ständige Hochhalten des Kopfes, nicht genug ausgeprägte Nackenmuskulatur und sicher auch die Schläge des rauen Asphalts tragen das ihre dazu bei: Langsam schmerzt jede Kopfdrehung.

Sonst fühle ich mich überraschend frisch.

Ich freue mich: Alle Zweifel, ob ich hier heute ankomme oder nicht, alles Zaudern und Hadern ist beiseite gewischt. Natürlich wird heute gefinished! Keine Frage!


Ich drehe mich um und entdecke, dass meine Gruppe mittlerweile nur noch aus fünf Fahrern besteht. Alle anderen haben sich abfallen lassen. Da unser Tempo noch immer hoch und meine Beine okay sind, trete ich schön mit.

13:54 Uhr - Überraschung voraus

Es muss kurz vor der zweiten Verpflegung rund um Kilometer 200 sein, da ich durch einen Tunnel fahre, panisch die Sonnenbrille von den Augen reiße, um überhaupt etwas sehen zu können, da ich schemenhaft zwei Fahrer in einiger Entfernung vor uns ausmache.


Hinter dem Tunnel geht es kurz bergauf, das aber knackig steil. Wir kommen näher. Das Trikot, das kenne ich doch!, denke ich mir: Es sind die Solarmodule von SunClass, ja, kein Zweifel! Adrenalin schießt mir ins Blut. Kann das sein? Kann das Florian sein?

Wow, das wäre was: Am Start hat er sich so ins Zeug gelegt, so hart reingetreten und sich seine Positionen nach vorn gekämpft, und nun - nun hole ich ihn nach zwei Dritteln des Rennens ein?

Ich arbeite mich langsam aber sicher heran.
Komisch sieht Flow aus.
Kurze Beine.
Sonderbare Haltung.
Kleiner ist er auch.
Das ist nicht Flow!


In einer Kurve kurz nach der Abfahrt fahre ich vorbei und rufe: "Ineees!!!"
Und wie sie sich freut! Schon sind wir als Zweierteam nebeneinander.

"Wie gehts Dir?", frage ich.
"Alles gut soweit. Warum warst Du hinter mir?!", fragt sie, genauso verwundert wie ich. Schnell stellt sich heraus, dass sie die erste Verpflegung ausgelassen hatte - da sie nur wenige Positionen hinter Robert und mir war, konnte sie dann einige Minuten Vorsprung herausfahren.

So freue ich mich, ein bekanntes Gesicht neben mir zu haben, als wir dann auch schon zur Verpflegung kommen. Wir halten an.

Das alte Spiel: pinkeln, trinken, auffüllen. Kurze Standzeit - schnell wieder los.


"Weißte, was pervers ist?", fragt mich Ines, als wir uns inmitten einer etwa 10 Mann starken Gruppe platziert haben: "Ich habe mich gerade dabei ertappt, wie ich so denke - Gut, das sind nur noch 100 Kilometer ... über sowas freut man sich mittlerweile!"

14:47 Uhr - am Capo Berta

Ines sieht auch nicht mehr ganz frisch aus. Roter Kopf, fährt viel im Wiegetritt. Mir hängt die Zunge auch schon raus - wie lange sind wir schon unterwegs? Siebeneinhalb Stunden? Jetzt sind die meisten Rennen schon längst vorbei.

Bei Mailand-Sanremo stehen die wahren Schmankerl eigentlich erst noch an: Cipressa und Poggio.


Was ich nicht auf dem Schirm habe: Capo Berta. Bevor wir diese steile, etwa 100 Höhenmeter überbrückende Rampe emporklettern, müssen wir zwei kleinere, aber ebenfalls steile Wellen am Ufer erklettern. Unsere Gruppe zieht sich dann immer auseinander, ich meist vorn, Ines meist hinten.

Die kurzen, aber angenehmen, Abfahrten nutzen wir, um uns wieder zu sammeln, um dann im Verband in die nächste Welle zu reiten. Ines ruft was von "kein Bock mehr", ich gucke auf mein Garmin: Noch 50 Kilometer to go.


Als wir uns Capo Berta hinauf schieben, mache ich ihr Mut: "Vor dem Ziel kommen noch zwei Berge: Cipressa und Poggio. Dann rollen wir einfach nur noch runter nach Sanremo." Sie glaubt, was ich glaube: Dass wir schon im Anstieg nach Cipressa sind.

Eine Seitenstraße, die "Via Poggio" heißt, scheint dies zu bestätigen. Noch glaube auch ich, dass wir schon einen der beiden letzten "Wächter" des Rennens geschafft haben. Nicht wissend, dass dieser heiße Anstieg erst ein kleines Vorgeplänkel sein wird.
Dass meine Höhenmeteranzeige erst 1.000 hm angibt, gibt mir jedoch schon zu denken.


Wir fahren in San Lorenzo di Mare ein, eine schicke, kleine pittoreske Stadt am Strand. Wir passieren eine kleine Einkaufspassage, dann eine Brücke über einen Fluss - dieser gibt den Blick auf einen stattlichen Hügel frei: Ist das schon der Poggio?

Er ist es natürlich nicht.

Auch ich muss jetzt viel im Stehen fahren, trete absurd hohe Gänge, denn für die hohen Frequenzen fehlt mir mittlerweile die Kraft. Noch 45 Kilometer. Dann noch 40. Bei 30 wird es erträglicher, rede ich mir ein. Und wenn ich die 30 habe, sind es im selben Moment ja auch schon 29,9 km.


Und ehe ich es mich versehe, fahren wir eine lang gezogene Rechtskurve. Vorn murmeln die Mitfahrer etwas von "Cipressa" und neben mir schließt Ines auf: "Laaaars?", fragt sie wie ein mauliges Kind: "Kommen denn hier noch viele Berge?"
Ich muss lachen.
Vorn dreht sich einer um und kontert in feinstem Schwäbisch: "Du bisch fei´ luschtg: Komme do noch Berge ...", sagt er und grinst.

Wir sind mitten drin, merke ich: Das ist die Anfahrt zum Bergdörfchen Cipressa.


Es gibt also nicht "die Cipressa", genausowenig, wie es "den Poggio" gibt, das es beides Namen für Dörfchen sind, trotzdem sprechen wir alle von diesen Bergen, als seien sie Heilige.

15:10 Uhr - in der Cipressa

Der Anstieg ist nicht lang: Keine 6 Kilometer und kaum mehr als 10% Prozent, im Schnitt keine 6% warten auf uns. Allerdings - mit über 200 Kilometer in den Beinen, stundenlangem Einweichen im Starkregen des Piemont und dann in dieser Bruthitze - kein spaßiges Unterfangen.


So würgen wir uns den Anstieg hoch, zunächst noch zusammen und nebeneinander, später lässt sich Ines abfallen. Vorher wundere ich mich noch laut: "Krass oder? An dieser Stelle setzen die Profis ihre Attacken ... unfassbar!"

Ines bleibt zurück, jedoch nie außer Sichtweite, ich halte den Kontakt zu meinen beiden Vordermännern. Rhythmisch tretend schrauben wir die Prozente weg, kommen unserem Ziel immer näher.


Als wir oben sind, lassen wir rollen. Unter uns das blaue Meer, die Riviera. Es duftet herrlich salzig, ein frischer Seewind trocknet den Schweiß auf der Brust. Etwas außer Puste warte ich auf Ines, die sich irgendwann auch in der Abfahrt befindet.

Die Cipressa war ekelig. Nicht mehr, und nicht weniger. Es ist nicht der Berg selbst, der schwer wäre, es ist die Summe aller Erfahrungen, die dieses lange Rennen mit sich bringt, die hier in die Waagschale geworfen werden.

Umso lockerer die Erleichterung, ja Freude, als wir über den Scheitel kommen und es befreit rollen lassen können: Jetzt nur noch ein Berg. Ein einziger Berg. Ein Berg noch. Dann haben wir es geschafft.


Wir kommen, wieder unten an der Uferstraße angekommen, durch Cavi und Arma di Taggia, als wir das erste Schild sehen: "Commune die Sanremo". Wir sind da. Wir sind da! Fast.

15:52 Uhr - Ich bezwinge den Poggio. Und mich selbst.

Ein paar Jungs vom Veranstalter winken uns hastig um die Kurve. Wir biegen um eine Ecke. Da schon fliegt ein Schild vorbei: "Poggio" steht da.

Unverkennbar - über mir die Gewächshäuser, abenteuerlich in den Südhang gebaut. Schon damals bei den Eurosport-Übertragungen hat mich diese urbane Nutzung, die sich so fundamental vom wild-romantischen Daherkommen eines Col d´Aubisque oder der abstrusen Mondlandschaft des Mont Ventoux unterscheidet, fasziniert: Das hier also, dieser Tomaten-und-Gurken-Berg soll einer der berühmtesten Anstiege der Radsportgeschichte sein?


Schnell vergeht mir das Spotten. Auch der Poggio ist nicht sehr steil. 6, 7%, nicht mehr als 9,5% sehe ich auf dem Garmin. Und doch zieht es mir das Letzte aus den Beinen. Zwar kündigen sich keinerlei Krämpfe an, zwar kann ich gut und rund treten, aber ich merke es: Ich bin platt!

Die Hitze wird unerträglich. Ein Glück, ich habe heute morgen (wie weit weg das klingt: "Heute morgen ...") nicht meinem Impuls nachgegeben, noch ein Unterhemd anzuziehen!


Ines hat zu kämpfen. Sie verfügt weder über eine Kompaktkurbel und fährt ein 25er-Ritzel als größten Kranz in der Kassette. Sie hängt am Lenker, zieht und zerrt, beißt und flucht - und fällt langsam wieder zurück.

"Los, Ines", versuche ich sie zu motivieren: "Nur noch das Ding hier, dann haben wir es geschafft! Das Rennen haben wir eh im Sack!" Ich nicke ihr zu, fahre meinen Stiel weiter. Sie bedankt sich, dass ich da bin, ihr Kraft gebe. Ich nicke. Und gestehe mir ein - mir gibt das auch Kraft. Lenkt mich von meinen eigenen Schwächen ab.


Oben wird es flacher. Der Ausblick fantastischer. Unter uns die Glastreppen der Gewächshäuser, neben uns, zum Greifen nahe, das Mittelmeer. So erfrischend, so herrlich blau.

Und hier als treten sie an? Cancellara und Co? Nach 286 Kilometern? Ich teste das. Gehe aus dem Sattel, schalte ein, zwei Gänge hoch und trete rein. Sicher, beschleunigen kann ich noch. Schwupps habe ich zwei Mitstreiter überholt - nur, diese Pace jetzt ins Ziel durchhalten? Und dann noch sprinten?

Undenkbar.


Ich nehme raus, genieße die Aussicht. Jetzt entweicht die Spannung. "1.000 m Controle" steht da, tausend Meter. Klacksi-klacksi. Die können lang werden. Da vorn? Nee, noch eine Kurve. Dann jetzt? Da? Nein. Doch!

Ich fahre über eine Matte. Es piept. Meine Poggio-Zeit wird genommen. Ich drehe mich um - keine Ines in Sicht. Ach, die schafft das schon, denke ich mir. 1.000 Meter. Kein Ding, die beißt sie weg.
Ich schaue nach vorn: Unter mir.
Ein Sieg.
In Sicht.

Sanremo.


Die Abfahrt ist gefährlich, weil eng. Nicht sehr rasant, weil ich kaum Gas gebe. Einige Minuten dauert der Abstieg, endlose Serpentinen, enge Kurven, hartes Bremsen. Dann, Bodenniveau.
Wieder eben.

Von jetzt ab geht es nur geradeaus. Großstadtverkehr. Busse. Schlangen von Autos. Ich alleine. Keiner mehr da. Untenlenkerhaltung. Wie lange kann das hier noch dauern? 5 Kilometer? Oder nur 3? Egal. Das Rennen ist vorbei. Ich habe es geschafft.

Helfer winken mich über jede Kreuzung. Am Straßenrand stehen sie und applaudieren.
Dann ein Torbogen.
Halb versperrt durch eine Ambulanz. Auf der Zielmatte kollabiert einer, als ich drüberfahre.

Gran Fondo Mailand-Sanremo: 9:21 Stunden und 31,4 km/h auf 295 km

Das nächste, an das ich mich erinnere: Ich sitze vor einem Berg Pasta inmitten der Finisher.


Unfassbar, dieses Rennen! Ich finishe im Mittelfeld. Keine 8 Minuten hinter Flow. Ines kommt 4 Minuten nach mir ins Ziel. Glücklich und fertig hocken wir da und stopfen Kohlehydrate in uns hinein.

Lassen alles Revue passieren: Die harten Antritte. Der Starkregen. Die blutigen Unfälle. Das Aggressive, Brutale und Harte dieses Rennens. Die schönen Ausblicke, die tolle Abfahrt vom Turchino.

Draußen bricht derweil die Hölle los: Gewitter, Donner und erneut Starkregen werden es Robert, der nach 11:30 Stunden ins Ziel kommt, sehr hart machen, die Abfahrten zu meistern. Völlig durchnässt steht er drei Stunden nach uns am Pastastand. Da sitzen wir. Dreckige Helden. Bekloppte Vögel.

Wir haben uns mit den Profis gemessen.
Auf ihrer Strecke.
Originalgetreu.
Erik Zabel, Mario Cipollini, Gerald Ciolek - ich weiß jetzt, wie sich das anfühlt. So halbwegs.

Der Gewinner des Gran Fondo fährt das in 7:44 Stunden.
2012 hat das Profirennen Simon Gerrans gewonnen. Er hat 6:59 Stunden gebraucht.


Ein gutgelaunter Taxifahrer bringt uns nach Nizza, wo wir sofort in die Dusche und später ins Bett fallen. Am nächsten Tag begrüßt uns die Cote d´Azur so, als mache sie ihrem Namen alle Ehre. Meine Beine schmerzen nicht mal mehr so, wie mein Sonnenbrand.

Ich fühle mich super trainiert.

Und stolz. Milano-Sanremo. Muss man mal gemacht haben. "Das Trikot, das jeder Finisher bekommen hat, werde ich bestimmt öfter anziehen.", sagt Robert beim Frühstück. Und Recht hat er!


Hier gibts den gesamten Track des Granfondo Milano-Sanremo als GPS-Track von Garmin.