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18. April 2011

Im Schwebezustand: Rudi Bode RTF

Es ist ein Schwebezustand, in dem ich traumlos hin und herpendle, mich drehe und rastlos wende, nachts, mal wieder, nur noch 4 einhalb Stunden zu schlafen.

Pendelzustand.

Rudi Bode. Bode Rudi.
Budi Rode. Bode-Schmode.
Wer ist das überhaupt? Mir geht es im Kopf herum. Kann nicht schlafen. Mal wieder: Sicheres Zeichen für ein anstehendes Rennen morgen. Morgen? Gleich!

Recht früh ist es, als ich am Gymnasium in Hamm stehe, meine Anmeldegebühr bezahle und mich müde ärgere: Früh ist es. Viel zu unfrüh, für meinen Geschmack. Viel lieber hätte ich hier eine Stunde früher gestanden. Nicht, weil ich gern aufstehe. Sondern weil 7:30 Uhr der Start für den "Rudi Bode Radmarathon" gewesen wäre.

220 Kilometer.

Und im Schwebezustand zwischen frisch rasierten, wie irre juckenden Beinen, halbwach, halbmüde irgendwie verdaddelt den Handywecker richtig zu stellen, zu spät aus dem Schlaflimbo erwacht - ernüchtert. Heute kein Radmarathon. "Nur" die 154 Kilometer RTF geht noch.

"Gut so!", sagt Steven aus dem SunClass-Team, als wir uns treffen. "Gut so, so können wir wenigstens zusammen fahren!"
Und Recht hat er. Der spätere Verlauf des Rennens sollte erweisen, dass ich heute alles andere als in der Lage gewesen wäre, 220 Kilometer lockerflockig durchzufahren.

Zu unserer Freude gesellt sich noch Swantje zu uns. Eine Dreierkombi, großartig, wir begrüßen noch Felix von Trionik, der hier heute technischen Dienst hat und sich seinerseits freut, dass er mit meinem Cervélo R3 ein Rennrad aus seiner eigenen Produktion wiedersehen kann.

Auch Swantjes S1 erstrahlt frisch geputzt.
Eine Triathletin mit einem S2 gesellt sich zu uns. Herrlich. Los gehts!

Steven erscheint sogar im Trikot unserer Mannschaft, so viel Vasallentreue hätte ich nicht erwartet. Bunt gewürfelt gibt sich die Rennfahrerschaft, an die 1.000 Rennradler allen Alters, die sich im Schulhof versammelt. Vom gerundeten Wohlstandsbauch auf sündhaft teurem Storck-Gefährt zum Sandalenlatschenfahrer auf angerostetem Stahl-Colnago aus den Siebzigern sieht man hier alles.

Ich freue mich über eine Wiedersehen - so marschiert der VfL Stade mit einer 15 Mann starken Kohorte auf, eine Freude für meine Augen, denn diese Jungs haben mir letztes Wochenende bei den Elbe-Classics eine wunderbare schnelle Gruppe beschert, Windschatten und Motivation.

Die Radsportabteilung des FC St. Pauli in den martialisch anmutenden Camouflage-Uniformen gar stürmt mit vielleicht ebenso vielen Legionären auf den Hof. Selbstbewusst bauen sich die dickwadigen Jungs mit verschränkten Armen auf, eine eingeschworene Gemeinschaft, sie beäugen die Hamburger Platzhirsche - die RG Uni, auch heute wieder mannigfaltig vertreten, Schwarz-Rote Trikots, kennt man, weiß man.


Schwebezustand: Einfarbige Haufen uniform auftretender Zweirad-Kämpfer bilden Grüppchen, halten sich mit Witzen und Machogehabe warm, dazwischen, immer wieder, bunte Vögel, Einzelkämpfer wie wir, keine Clubmitgliedschaft, kein Ausweis, kein Camouflage.

Und immer wieder diese Frage: Wer ist Rudi Bode?

Vielleicht ein ehemaliger Zeugwart von der RG Endspurt, die das hier alles organisiert? Einer von denen, die synonym stehen für die deutsche Vereinskultur, einer von denen, über die man unendlich und regelmäßig bei den Sitzungen und Stammtischen spricht?
Schwebezustand. Rudi Bode.

Ich frage einige Umstehende. Achselzucken. Keiner weiß etwas.

Gegen 9 Uhr versammeln wir uns in einer großen Schlange, langsam geht es voran. Wie immer können sie die Meute nicht auf einmal loslassen. Selbst die sonntagsleeren, breiten Straßen hier am Rande Hamburgs würden es nicht verkraften, wenn hier wie wild geworden die Helden der Landstraße im vereinten Peloton auf die Jagd gehen würden.

20, 30 Fahrer lassen sie durch: Wir fast ganz hinten. Ein Weißbärtiger senkt alle 5 Minuten das alte, rotweiße Absperrband, Dutzende Cleats klicken, satt bollern Carbonlaufräder neben scheppernden Alu-Felgen los. Ist das da Rudi Bode?

Schwebezustand: Eben noch gestanden, dann die "Fahrt nach StvO! Gebt Acht! Macht keinen Scheiß!"-Sicherheitsansprache des Pseudo-Rudi und nun auch bei mir: Einklicken, satt beschleunigen im Wiegetritt, eine kleine Gruppe sammelt sich.

Es geht los!

Unsere Gruppe schluckt schnell zwei, drei andere Grupettos, es geht nach Süden aus Hamburg hinaus, Industriegebiet, mal 50 Meter, dann 500 Meter Holpersteintrasse, ich glaube, bei Euch hackt es? Lautes Fluchen, "Scheiße" allenthalben, ich rette mich auf einen Radweg, auf dem zwar noch zentimeterhoch der Split vom Winter steht, aber immerhin muss ich meinen Rahmen, auch wenn er letztes Wochenende wieder einmal das echte, das große Paris-Roubaix gewinnen konnte, diese Tortour nicht zumuten.

Dann, 5, 6 Kilometer Schlängeln zwischen Fabriken und Hallen, endlich, sind wir draußen. Deiche. Felder. Wiesen, schmale Straßen - Schwebezustand: Rudi Bode muss das gewissenhaft komponiert haben. Hamburg, Stadt zwischen Industrie und Naturschutzgebieten.

Wir züngeln schnell hoch thronend auf schmalem Deich durch eine erwachende, frische Morgenlandschaft. Ich meine gute Beine zu haben und halte mich sehr weit vorn auf. Mal führe ich das Grupetto an, wechsle mich dann wieder mit immer den selben zwei, drei Leuten ab. Wir ziehen und schieben uns, 35, 37 km/h - flott lässt es sich an, an diesem kühlen Sonntag Morgen.

In Memoriam Rudi Bode.

Und ich überlege und überlege ... Schwebezustand bei 90 Umdrehungen pro Minute. Rudi Bode geistert mir im Kopf herum. Dazu ein Ohrwurm von Depeche Mode ... I just can´t get enough.

Ich fühle gute Beine unter mir und so arbeite ich mich seitlich an den anderen bis ganz nach vorn durch. Fahre neben dem Führenden - 32 km/h. Da geht noch was, denke ich mir, als ich vor mir, etwa 800 Meter entfernt, eine weitere Gruppe fahren sehe.

Ich gebe den Baroudeur und trete rein, ziehe das Tempo an, beschleunige und pumpe richtig Saft in meine Beine. 36 km/h. 38 km/h. Schneller, schneller, schon ist die Gruppe hinter einer Kurve verschwunden, nur nicht abreißen lassen! Noch schneller! 42 km/h - ja, so gehts. Ein kurzer Blick nach hinten über die Schulter - ich bin allein! Niemand gefolgt: Swantje und Steven hängen in der Gruppe fest.

Ich trete und kurbele, überhole einen Abgehangenen (10 Kilometer nach dem Start schon abgehangen?), fühle langsam das Laktat steigen, Lunge brennt, Seitenwind, ziehen, ziehen! Hinter einer nächsten Kurve habe ich sie dann, eine Gruppe, hinten eine Menge Damen - ich genieße den Superausblick, noch mehr genieße ich den erholsamen Windschatten. Anschluss geschafft!

Unter meinem Helm habe ich eine Thermomütze, da sammelt sich die Hitze, Wasser in Schweißform macht sie zu einem Schwamm. Freihändig bei 32 km/h manövrieren, Helm ab, Mütze runter, Helm wieder drauf, ooops, einem Schlagloch ausgewichen, die Damen halten respektvoll Abstand. Dann Helm wieder auf, Scheiße - Mütze fliegt davon.

Ich bremse, kehre um. Schwebezustand - die Beine glauben noch, sie treteten 90 Umdrehungen, dabei stehe ich, bücke mich, von hinten brüllt die heran nahende Meute "Aaaachtung!", ich nehme grantig die Mütze auf, beschleunige wieder, lasse mich einholen. Steven und Swantje neben mir. Ausreißversuch gelungen - Weiterfahrt gescheitert. Naja.

Dann erreichen wir, 30 Kilometer später, eine Stunde Gas gegeben, einen Ort, an dem es aussieht, als habe es einen Massencrash gegeben.

Die erste Pause.

Rennräder haben es sich wir eine Herde Schafe auf dem Rasen gemütlich gemacht. Ich binde mein Schäfchen auch an einen der Pfosten, geselle mich zu den edlen Recken an die reiche Auslage, die sie mit üppigen Wurststullen, Getränkebechern, Bananen und Knoppers-Großpackungen wie im Rennrad-Schlaraffenland ausladend garniert haben und schlage mir meinen knurrenden Bauch voll.

Da stehen wir und klönen.
Viele nehmen nicht einmal ihre Helme ab, stopfen sich nur die Mägen voll, schwingen sich behend zurück auf die Räder und jagen einer imaginären Bestzeit nach. Der Bestzeit eines Rudi Bode von anno dazumal?

Die Sonne geht mittlerweile auf, wärmt zusehends die Umstehenden, die ersten entledigen sich bereits ihrer Armlinge, mir friert es beim Pinkeln fast den Schniedel ab und so entscheide ich mich, die meinen anzubehalten.

Swantje scheint gute Beine zu haben heute, sie drängt uns, endlich weiterzufahren. Als ich noch Pinkeln gehe, verabschiedet sie sich schon einmal und düst los.

Auch Steven klickt schon in die Pedale ein - wir gesellen uns zu einer großen Gruppe, die abfahrbereit darauf wartet, dass sich ihr genug Rennradler anschließen, dass die kritische Masse, die es braucht, um genug Windschatten mit immer frischen Tretern zu kreieren, erreicht wird.

Dann geht es los.

Wild surren einige Dutzend Freiläufe durch die Heide. Mittlerweile habe ich auch meine Sonnenbrille herausgeholt. Sie fahren hier gemütlich, fast fühle ich mich eine Woche in der Zeit zurück versetzt, nix mehr mit 30er Schnitt, hier wird mit 27 durch die Lande getreten.

Für Steven, mich und einige Andere keine Alternative - wir setzen uns in einer kleinen Gruppe ab. Es geht zügig entlang des Deiches, weiter nach Süden. Wir gleiten durch den Wind, leicht angeschoben, neben Mutter Elbe entlang. Vögel zwitschern vorbei, einige Möwen kreischen - es duftet! Es duftet so herrlich nach Frühling, dass mir die Alternative, jetzt hier am Deich ein ausgiebiges Picknick mit ein paar Flaschen Beck´s zu zelebrieren, kurz aber heftig verlockend in den Sinn fährt - Schwebezustand: Zwischen einsamer Höchstleistung und geselliger Runde.

Irgendwann sind Steven und ich alleine - wir fahren um die 31, 32 km/h herum, lassen uns vom nervigen Seitenwind nicht verrückt machen und unterhalten uns. "Kennst Du diese Strecke noch?", fragt er.
Und ob!

Hier war es, wo wir vor einigen Monaten im kalten Oktober beide als Team in das Zeitfahren Hamburg-Berlin gestartet sind - und ich 110, Steven 150 Kilometer später kläglich aus dem Rennen ausscheiden mussten. Erinnerungen an wesentlich härtere Umstände werden wach, da lobe ich mir meine gut auf der freien Rolle trainierten Beine der Saison 2011 - die der Saison 2010 möchte ich nicht mehr haben.

Das Atomkraftwerk Krümmel passieren wir - ob Rudi Bode damit ein politisches Zeichen setzen wollte? Kurz vor Geesthacht brülle ich im Vorbeifahren "Abschalten!".
Zwei Techniker sind am Haupttor, drehen sich um und rufen: "Halts Maul!"
Ja, ich weiß - ist doch schon abgeschaltet, die Rostlaube.
Aber im Sinne Rudi Bodes wollte auch ich meine Stimme erheben.

Weg mit dem Atom-Mist!

Daran kann auch das Pumpspeicher-Kraftwerkk mit seinem Alibi-Solarfeld sponsored by Vattenfall nichts ändern, das wir kurz hinter dem Pannenmeiler passieren.

Geesthacht Durchfahrt ist ein Klax. Noch sind die Straßen leer, die Ampeln grün und bald schon sind wir wieder auf der B-Straße, erhöhen ein wenig das Tempo und fahren im gemütlichen Duo.

Eine knatternde Meute Motorradfahrer überholt uns - ein Vorgang, der fünf Minuten andauern zu scheint, denn endlos zuckeln die brubbelnden Zweizylinder an uns vorbei. Es stinkt nach Abgas, meine Ohren dröhnen - und da sage mal noch einer, der Campa-Freilauf wäre ihm zu laut!

"Da kommen sie!", sagt Steven, auch ich drehe mich um. Oha, das Peloton hat also aufgedreht!

Mir solls recht sein, dann ich bin das Alleinefahren satt. So an 8ter, 10ter Position jetzt ein bisschen Windschattenlutschen, da hätte ich gar nichts gegen einzuwenden.

Immer wieder drehen wir uns um, doch sie schließen nur sehr langsam auf. Tempo reduzieren? Himmel, nein! Ehrensache, dass wir uns nicht kampflos ergeben - das wäre wohl auch nicht im Sinne Rudi Bodes gewesen, denke ich mir.

Und wieder Schwebezustand: Gas geben, alles rein, was geht oder langsam ausrollen, einfangen lassen, ist ja nicht peinlich, mitschwimmen, ausruhen. Lass andere die Arbeit machen ...

Ein Berg bringt die Entscheidung.

In Tespperhude verlassen wir die idyllisch flache Uferstraße. Es geht nach links - und vor mir türmt sich gewunden eine Steigung auf. Ich renne hinein, schalte - ungewöhnlich spät, aber man will sich ja keine Blöße geben - vom großen aufs kleine Blatt, werde langsamer, langsamer, muss mehr pumpen, kräftig treten, 28, 25 km/h, so geht es in die Steigung.

Nanu? Niemand überholt mich?

"Ah, toll!", brumme ich nach hinten zu Steven: "Und jetzt an erster Position!"

Dass das immer mir passiert! Es geht recht flott - überraschend flott - nach oben. Hinter jedem Schlenker wird es etwas steiler. Lange Zeit bin ich an erster Position, drehe mich um: Ich ziehe mindestens 30, 40 Fahrer den Berg hinauf. Alle keuchen, alle schauen nach unten - keiner spricht.

Dann, endlich, überholen mich zwei, drei Leute. Die Steigung kippt ab, oben angekommen, Ebene, richtig angegriffen, Jungs! Sie ziehen an, da schießt auch schon Steven an mir vorbei. "Ach, Fuck!", denke ich, ziehe auch an und so können wir uns mit 6 Mann - vorne zwei, drei starke Fahrer - vom Rest absetzen. Die meisten versauern noch in der Steigung.

Die Straße wird schlechter. Und schmaler. Mehr und mehr muss ich auf Schlaglöcher aufpassen. Ein Glück, dass unsere Gruppe aus Erfahrenen besteht: Egal, wer führt, Gefahrenstellen werden vorbildhaft angezeigt.

Unsere Geschwindigkeit ist im unteren 30er-Bereich - für die Windverhältnisse, die sich nun, da wir straight nach Norden fahren, noch einmal verschärft haben, Schwerstarbeit. Vorne lasse ich erstmal die Neuen arbeiten. Ich halte mich ein, zwei Positionen hinter Steven, der sich jetzt verstärkt an der Tempoarbeit beteiligt.

Dann und wann komme ich auch nach vorn, fahre ein, zwei Kilometer im Wind und winke dann, wie es Brauch ist, einen nächsten nach vorn. Dahin, wo es Spaß macht. Dorthin, wo die Körner brennen.

Unsere Stimmung ist gut, obschon ich nun verstärkt Trinken muss. "Gott ist mir heiß!", brülle ich nach hinten zu Steven und meine dabei meine langen Hosen. Die werde ich gleich ausziehen, schwöre ich mir - richtig so, sonst würde ja niemand meine frisch rasierten Beine sehen!

Wir schlängeln uns auf mal größeren, oftmals gefährlich kleinen Landwirtschaftswegen zwischen zart grünenden Feldern über den einen oder anderen Hügel. Dabei durchfliegen wir manche 90-Grad-Kurve. Gefährlich: Stevens Hinterrad kommt bei einer leichten Abfahrt in einer ebensolchen Kurve und rund 40 km/h ins Schlenkern - gut abgefangen! Wenige Minuten später durchfahre ich neben einem unserer Mitfahrer - etwas langsamer zwar aber nicht minder gefährlich - eine weitere 90-Grad-Kurve, vorne brüllen sie noch "Achtung Schotter!", da kommt er neben mir auf den Grünstreifen, zwei, drei Zentimeter mehr und er wäre im Straßengraben gelandet.

Irgendwann erklimmen wir keuchend eine lang gezogene Bodenwelle. Sie ist von Weitem nicht als Berg auszumachen, lang zieht sich der Anstieg hin, nur wenige Prozente, dafür ein, zwei Kilometer lang. Auch die Abfahrt tarnt sich - keiner von uns ahnt, was folgte. Irgendwann, und zwar plötzlich, wundern wir uns alle, als es plötzlich "54 km/h" auf unseren Tachos heißt, wow, wir springen über Schlaglöcher, überrascht, fast panisch greife ich in die Bremsen, sehe eine weitere 90-Grad-Kurve auf mich zufliegen, Steven vor mir, bremst, Seitenlage, Scheiße! Split! Es geht gut, Gottseidank! Doch keine Zeit zum Verschnaufen, nur eine Millisekunde nach der Gefahr aus dem Sattel gehen, Wiedertritt, beschleunigen, Herz klopft - so muss ein Rennen sein, Rudi Bode, Du bist der Meister!

Irgendwie lande ich wieder an erster Position unseres kleinen Grupettos - trete rein, kann zwar nicht mehr, aber ich trete rein, Jungs, eine Frage der Ehre, klaro, ich ziehe Euch (Scheiße!). Ein Dorf, ein Schild, ein großes "K" - rettet mich.

Pause Nummer 2.
Langsam ausrollen. Schulhof. Hunderte Rennräder parken. Ich ächze als ich zum Stehen komme. Und sage aber "Schöner Sport!" zu Steven, der grinst.

Schwebezustand: Zwischen Erschöpfung und Chauvinismus.

Wie ich es mir selbst versprochen habe, entledige ich mich zuerst meiner langen Hose. Ah, wie herrlich weiß meine ungebräunten Beine in der Sonne glänzen - ich stehe auf zwei Käsestangen. Andere tun es mir gleich, auch Steven pellt eine Schicht seiner Zwiebel ab.

Am Büfett türme ich eine Schmalz-, eine Wurst- und eine Käsestulle zu einem Rennrad-Whopper auf, greife mir eine Banane und einen Knoppers. Den Joghurt finde ich auch lecker, aber wir sind ja hier nicht beim WSV, wobei sich hier manche so benehmen, als stünden sie tatsächlich im Karstadt am Socken-Pool und müssten die letzten wenigen 10er-Packs Adidas-Pakete für 3,99 rausfischen.

5 Minuten später, ich kaue genüsslich, fährt auch Swantje unter großem Hallo auf den Hof. Na, hamwa Dich wieder!

Ich frage mal wieder, ob sie hier den Rudi Bode kennen. "Na, vielleicht wars der Optiker?"
Ja, könnte sein.
Is aber nicht, beschließe ich.

Keine zehn Minuten später ist es unsere Swantje, die, etwas weniger impulsiv als vorhin aber doch fröhlich drängend zum Aufbruch bläst. Eine kleine Gruppe, keine 15 Mann, viele RG Uni-ler, macht sich auf.

Der Wind kommt hier, hinter dem Wendepunkt der RTF nun verstärkt von vorn, die Geschwindigkeit bleibt trotzdem unerbittlich hoch.

Sehr viel mehr als vorher wechseln wir uns nun ab. Auch ich muss mich an der Führungsarbeit im Wind beteiligen. Und wieder in der Schwebe: Die Härte, die ein Rennradfahrer vorn führend bei der Tempoarbeit im Wind aushalten muss, ist rund 30 % höher, als wenn er gemächlich hintendrein im Windschatten kurbelt. Und doch: diese schnaufende Meute hinter sich zu spüren hat etwas ganz Besonderes, Antreibendes. Sie zählen auf mich, sie schauen auf mich. Sie sind auf meine Handzeichen angewiesen, sie vertrauen mir, halten in zentimeterkurzem Abstand mein Hinterrad, würden hoffnungslos in jedes Schlagloch prügeln, machte ich sie nicht darauf aufmerksam. Süchtig machen kann es, hier vorne die Lokomotive zu sein.

Und so halte ich denn dann auch meistens länger vorn durch, als ich mir bei Führungsübernahme vornehme.

Fahre ich dann hinten, trete ich ruhig in einem etwas höheren Gang mit, trinke in vollen Zügen den Energy-Eistee aus meinen Flaschen, achte darauf, alle 30 Kilometer ein Gel einzuwerfen und genieße es, meinen brennenden Lungen eine kleine Auszeit zu gönnen.

Dann richte ich mich auf, lockere den zunehmend immer mehr schmerzenden Rücken und recke meinen Hals. Heute macht mir zur Abwechslung mal nicht mein Po Probleme, dafür meldet sich halt die Halswirbelsäule.

Vorn spielt sich unterdessen ein Schauspiel ganz eigener Faszination ab: Solange die Jungs der RG Uni oder vom SC Hammaburg führen, gleiten wir mit 32, 33 km/h dahin, schlängeln uns durch Wälder und kämpfen gegen seitliche Nervwinde, wenn wir über offenes Terrain fahren.

Aber wir halten die 32, 33 km/h.

Bis zu dem Moment, an dem die Hölle losbricht. Ich fahre an 4ter Position, vor mir alles SC Hammaburg-Fahrer, direkt hinter mir auch noch zwei, drei von ihnen. Auf einmal, wir fahren gerade wieder auf freiem Feld und sind noch etwa 100 Meter von der Einfahrt in ein dunkles schwarzes Loch, das die Straße in den Wald ist, entfernt, als eine der Damen zum Sprint ansetzt, an mir und den anderen vorbeizuckt, sich kurz umdreht und "Yeeehaw! Los, kommt mit!" brüllt und sie alle das Tempo verschärfen.

"Äh, wasn los? Oooookay?!?", denke ich mir, will gerade den Kopf schütteln, als ich es erkenne: Diekt hinter dem schwarzen Tor in den Wald kippt die Straße förmlich vor uns nach unten ab - ich erkenne meine Chance, zucke auch zur Seite hin raus, kann zwei, drei überholen und stürze mich in die Abfahrt. Keine zwei Sekunden später habe ich einen 200er Puls und ein flüchtiger Blick bringt die Gewissheit, dass ich jenseits der 60 km/h bin.
Nur 800 Meter dauert der Spaß, aber sich zu 20igst diese Korkenzieherkurve in den Abgrund zu stürzen - auf halber Höhe ein Fotograf der RG Endspurt - bringt Adrenalin pur!

Wenig später ist alles dann wieder beim Alten: Schwebezustand. Zwischen Speed-Rausch und Langeweile in der Ebene. Lange Kette, kaum Zweierreihen und diszipliniertes Abwechseln. Mal führe ich wieder. Dann geht einer der RG Uni-ler aus dem Wind, Steven ist dran. Unser Steve, unser Triabolos, mein Zeitfahrkollege - Triathlet aus Leidenschaft.

Steven geht nicht nur in Untenlenkerhaltung, nein, er schraubt sich fest mit den Ellenbogen auf den Tria-Aufsatz, schaltet einen Gang runter und beginnt in Armstrongscher Manier mit einer irrehohen Trittfrequenz das Tempo anzuziehen.

Nicht, dass er das macht, um uns allen vorzuführen, was wahre Kraft-Ausdauer ist, sondern da kommt der wahre Triathlet durch: Einzelkämpfer, gewohnt, allein im Wind den Mann zu stehen.

Swantje und ich an 5ter, 6ter Position sehen dem Treiben mit offenem Mund zu: Zuerst treten wir noch rein, glauben, es sei nur ein Joke, was unser Herr Triathlet da abzieht, aber als er sich schon wenige Sekunden später etliche Radlängen und später ein paat Dutzend Meter abgesetzt hat, sind wir vollends abgehängt.

Auch beherztes "Kürzer!"-Rufen fruchtet nicht: Steven ist in seinem Element und spult seinen eigenen Rhythmus ab. Nicht sehr fair dem Zweitplatzierten gegenüber, denn der Arme muss nun dann doch im Wind ran, wo er sich sonst noch nätte ein, zwei Kilometer ausruhen können, aber das ist schnell vergessen: Zu faszinierend ist diese Demonstration schierer Kraft, die uns Steven da bietet.

Und - vielleicht gehört das zu Rudi Bode einfach dazu - es ist mal wieder ein Kontrollpunkt mit Essen, der uns einige Kilometer später rettet. Komisch, rede ich auf mich ein, wie oft gibt es denn hier Pausen? Später, zuhause, besehe ich mir den GPS-Track und erkenne, dass die Strecke so angelegt ist, dass man sie mehrmals kreuzt. Und an eben jenen Punkten haben sie die Büffets aufgebaut.

Es ist diese letzte Pause, die ich zum Pinkeln, Brotessen und Nachtanken nutzen kann.
Swantje kommt mit einer Hiobsbotschaft: "Jungs, wir sind irgendwie auf die 188er Strecke abgebogen."
Mmmh. Wie konnte das passieren? Also doch keine 154 Kilometer?

"Naja," sage ich, "irgendwie auch gut so." In Anbetracht der Windverhältnisse und meines mittlerweile steifen Nackens war schon die 220er Strecke Wahnsinn. Das mir nun weitere 35 Kilometer erspart bleiben, kann ich nur begrüßen. Jungs, die Saison ist noch Jung und so gut das Training auch gewesen sein mag, wir haben noch ein Dutzend Gelegenheiten, die 150er und die 200er Grenze zu knacken.

Da fällt mir dieser alte Herr auf ...

Die RTFler, die auf die Punkte angewiesen sind, finden sich untertänigst bei ihm am Tisch ein. Irgendwie erhaben, irgendwie feierlich stempelt er gewissenhaft ihre Karten ab. Ein weißer Rauschebart, der ihn außerordentlich weise erscheinen lässt, sowie die legére Kleidung und ein Rudi Bode-Cap verleihen ihm sportliche Authorität.

Moment mal! Könnte das nicht ...?

Ich traue mich nicht zu fragen. Gehe erst Pinkeln. Dann, mit einem Ruck, gehe ich zu ihm: "Ähm, ´Tschuldigung: Bist Du vielleicht Rudi Bode?"
Er nickt. "Joa.", sagt er.
Echt? Ich griene ihn an.
"Also ich bin im Verein Rudi Bode ... ach ... ach Du meinst ob ich selbst Rudi Bode bin?"
Nicken meinerseits.
"Näää, der ist längst schon tot!"

Also doch "in memoriam" hier alles ...

Dramatisch stehen sturmdurchwühlte Wolken am Himmel. Swantje drängt zum Aufbruch. Allein, zu dritt, geht es auf die letzten Kilometer. Keine 20 mehr.

Wir wir heute morgen herkamen, so fahren wir fast die selbe Strecke wieder zurück. Die Elbe, mächtiger Strom, ein harter Gegenwind und feinster Asphalt treiben uns zu Höchstleistungen. Steven Swantje und ich wechseln uns ab. Irgendwann holen wir einen Einzelfahrer mit einer Digicam auf dem Helm ein, ein fünfter Einzelfahrer (ohne Startnummer) holt uns ein.

Als solider Fünfer geht es voran. Wir wehcseln uns ab, wobei Swantje sich irgendwann vornehm zurückhält. Beim Zollspieker, dem klassischen Wendepunkt meiner Standardtrainingsrunde angelangt, verabschiedet sich der Einzelfahrer. Da waren es nur noch vier.

Hart ist es allemal. Immer mehr Rennradler kommen uns entgegen, komfortabel angetrieben von ihrem mächtigen unsichtbaren Helfer, dem Wind. Sie alle sehen uns, nehmen uns wahr, manche grüßen, viele gucken: Es sind unsere Startnummern, die stolz auf unsere Rücken gepint, die sie anziehend finden.

"Die fahren ein Rennen!", scheint der gemeine Rennradler zu denken. Neid. Anerkennung. Sehnsucht. Ich kann es sehen in ihren Gesichtern, auch wenn ich sie nur im Augenwinkel, nur einen Sekundenbruchteil wahrnehmen kann.

Wir - die Rennfahrer.
Die - die Freizeitradler.

Ein schönes Gefühl. Bilder ich mir ein. Es hilft mir, die immer leidenschaftlicheren Gedanken an "ist jetzt endlich bald Schluss?!?" zu verdrängen und das alles zu genießen.

Zu uns vieren - dem Kamermann, Swantje, Steven und mir - gesellen sich noch zwei weitere. Wir sammeln das Duo in mühevoller Arbeit irgendwann ein. Der eine hat ein Trikot an, das seine Verdauungsorgane und eine große, blutige Lunge mit einem kräftigen martialischen Herzen zeigt, der andere hat einen lachenden Fratzenteufel auf dem Rücken.

Lungenmann und Fratzenteufel nehmen wir nur allzugern in unsere Gruppe auf: Swantje kann sich wieder im Windschatten schonen und auch ich freue mich über jeden Meter, den ich nicht führen muss. Dann und wann muss ich aber auch in den Wind - einmal freut es mich sogar, denn die paar Kilometer, die ich nun führen muss, will es eine schicksalhafte Fügung, dass ich es durch die Streckenführung zufällig in einem Rückenwindabschnitt tun kann. 42 km/h stehen auf meinem Tacho und von hinten ruft Steven "Du hast ein Glück!" mir in den Wind.

Swantje, der Fratzenteufel und Blutige-Lunge-Mann können unser Tempo nicht lange halten. Zuerst lässt Swantje abreißen, dann die beiden anderen Jungs. Eine Zeit lang fahren Kameramann, Steven und ich alleine, bis wir ein weiteren Zweier - einen Rennradler der BSG Polizei und einen anderen - einsammeln.

Polizist und der andere haben Waden, die dicker sind, als mein gesamter Körperdurchmesser. Entsprechend hoch können sie das Tempo halten. So habe ich, wenn ich mal im Wind führe, mit Mühe und Not die 29, 30 km/h halten können, führen die Beiden, sind es 32, 33 km/h. Tja, das nennt man wohl Kondition.

Wir wechseln uns sehr viel mehr ab. Kaum mehr als 5 Minuten bleibt einer an der Spitze. Es geht sehr flott voran, wobei ich mit jeder Minute das Ziel umso näher sehne. Ich kann kaum noch - zu hoch die Pace heute!

Dann ein Schild: "Noch 20 Kilometer." Ich stutze - auf meinem GPS stehen schon 110. Was soll das? Ich dachte, in 8.000 Metern wären wir da?!? Na, hilft nix, reinklotzen.

Hinter einer scharfen Kurve bremsen wir plötzlich ab. Ein Auto klebt noch dampfend an einem Baum. Warndreieck, Menschentraube, einer sitzt heulend daneben, wird getröstet. Voll vom Deich geschossen und in den Baum gekracht. Horrorcrash - anscheinend niemand verletzt.

Wieder beschleunigen, der Polizist führt. Bei 34 km/h und hartem Gegenwind dreht er sich zu uns um: "Zu hohe Geschwindigkeit ... Unfallrisiko ... Straßen auf dem Deich ... aufpassen! ... Straßenverkehr ... erhöhte Geschwindigkeit ...."
Unglaublich, er hält uns einen Sicherheitsvortrag!

Die letzten Kilometer vergehen wir im Dilirium. Schwebezustand eben.
Mein Ärger über die "Noch 20 Kilometer" verpufft, als wir durch eine Gegend vieler kleiner Kanäle fahren, die mich an schönstes Holland erinnert. Ich träume mich hinfort von meinem Rennrad, und muss doch aufpassen, die engen Gassen hier sollte man nicht unterschätzen.

Irgendwann holpern wir wieder über das Paris-Roubaix-Gedächtnispflaster, irgendwann schlängeln wir uns wieder durchs Industriegebiet, irgendwann macht ein St. Paulianer ein Siegerfoto von Steven und mir.

Am Ende haben wir nicht nur Swantje, den Teufelsfratzenmann und die blutige Lunge sondern auch den Polizisten und seinen Knecht abgehangen.

Durstig retten wir uns in den An- und Abmeldebereich, geben die Startnummern wieder ab und lechzen nach einer Flasche Weißbier.

"Ist alle", sagen sie entschuldigend. In der Schlange hinter uns gibt es daraufhin fast eine Schlägerei. Na, auch egal. Ich helfe mir eine Wiener rein, leere den letzten halben Liter Energy-Drink und setze mich mit Steven auf eine Bank im Schulfoyer. Meine Beine brennen.

Nicht Fabian Cancellaras Schenkel - aber fein habt Ihr durchgehalten!

Am Ende stehen 129 Kilometer auf meinem GPS.
118 Kilometer wollten wir fahren.
154 Kilometer waren gewollt.
220 Kilometer waren anvisiert.

Naja, denke ich mir. Am Ende war es, was es war: Eine wundervolle Tour durch eine tolle Landschaft, mir fast ein bisschen zu flach, aber dafür mit zwei, drei Höhepunkten, die die Elbe Classics-RTF dafür nicht hatte. Tolle Leute, ein sehr diszipliniertes Feld und vor allem: Nicht allein, sondern mit Steven und Swantje im Team gefahren.

Swantje trudelt keine 10 Minuten hinter uns ein. Auch sie ist glücklich.

Genauso glücklich verabschieden wir uns. Zum Ausklang des Tages mache ich es mir zuhause bequem und schaue der Liveübertragung vom Radsport-Monument Amstel Gold Race an. Leider kein Erfolg für Cervélo, aber dafür ein packendes Finale.

"Hach", denke ich mir, "sowas habe ich auch gerade gemacht."
Und ich grinse wissend. Für heute genug Radsport.
Meine Süße ruft mich in die Wanne, zischend knirscht es, als ich meine geschundenen Waden ins träge Heiß der Wanne tunke.

Schwebezustand unter Wasser.

Eine tolle RTF, Danke RG Endspurt!

Ach ja - wer war denn nun Rudi Bode? Mitglied der RG Endsspurt natürlich.

Und nicht mehr und nicht weniger als der Erfinder der RTFs.
Na, siehste mal an! Dem Mann muss man natürlich eine solche Veranstaltung widmen.
Und warum hat man ihm noch keinen Wikipedia-Eintrag gewidmet? Ratlos starre ich an die Decke, als ich nachts kurz wach liege, das Blut mir durch die Adern pulsiert.

Schwebezustand ...


Gefahren: 129,6 km in 4:04 Stunden mit 31,7 km/h avg.


Die kompletten Daten hier auf Garmin Connect.





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2 Kommentare:

  1. Der Weißbärtige, der euch auf die Strecke gelassen hat, war Rolf Titel. Langjähriger RTF-Fachwart in Hamburg und/oder Schleswig-Holstein. In der norddeutschen Radszene einer der bekanntesten "bunten Hunde".

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  2. Da bin ich aber froh, dass Rudi Bode nicht der NS-Turner war, den ich zuvor ermittelt hatte;-)

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